Sechste Szene


[25] Tomyris und Spargapises.


SPARGAPISES.

Verzeihe, Mutter, dass ich ungerufen

Hier eingedrungen bin. Die Sehnsucht

Zu sehen dich hat mich hierzu verleitet.

Sie wollten mich nicht zu dir führen

Und sagten mir, dass du verhindert seist,

Da habe ich mir selbst den Weg gebahnt.

So lang ist's schon, dass ich dich nicht gesehn.

Bist du vielleicht erzürnet, liebe Mutter,

Dass du mich nicht mehr sehen willst?

TOMYRIS.

Ich zürne nicht, mein Sohn, nein, Spargasis,

So lange du nur nicht vom Pfad des Guten weichst,

Bist du mein stets willkommner lieber Sohn.

Doch wenn mir öfters nicht die Zeit gestattet

Mit dir mich zu befassen, darfst du nicht

Daraus entnehmen, dass ich böse sei.

Denn eine Königin hat viele Söhne,

Und vielfach Mutterpflichten auszuüben

Und schwere Sorgen hat sie auf sich ...[25]

SPARGAPISES.

Aber Mutter, hat man denn

Als Königin so vielerlei Geschäfte?

Ich dächte, dass sie nur befehlen müsse,

Und keine Sorgen, die das Herz betrüben.

TOMYRIS.

Du glaubst es jetzt nicht, doch du wirst es später

Einsehen lernen, dass die Krone tragen

Die schwerste Last ist, die ein Mensch je trägt.

Des Lebens Freuden und des Lebens Leiden

Sind nirgends auf der Welt so gleich verteilet

Als bei den Königen.

SPARGAPISES.

Ach liebe Mutter

Ich möchte dir so gerne eine Frage stellen.

TOMYRIS.

Sprich – –

SPARGAPISES.

Du weisst, heut ist das grosse Erntefest,

Wo draussen auf der blumenreichen Wiese

Im lustigen Verein die ganze Jugend

Versammelt ist, bei fröhlicher Musik

Und Tanz sich freuend ob der Gottesgaben.

Sonst gingst du, liebe Mutter, stets mit mir,

Das lustige Getümmel anzuschauen,

Und ich war stets so froh, so stolz, wenn ich

An deiner Seite auf dem Ehrenplatze

Hab sitzen dürfen. So hast du es sonst

Noch jedes Jahr getan. Nur heute nicht

Riefst du mich zu dir, um zum Fest zu gehn.

Weshalb du das nicht tust, das möcht ich wissen.

TOMYRIS.

Heut ist das Erntefest für Spargapises.

Wes Herz in trauervoller Stimmung ist,

Kann nicht Musik und lustge Tänze schaun;

Nicht passt der Traurige zum frohen Kreise.[26]

SPARGAPISES.

Ich aber denke, dass in froher Mitte

Die Traurigkeit, die böse Stimmung flieht.

Wenn man von heitren Menschen sich umringt sieht

Und buntem Treiben, hat das Herz nicht Zeit

Trübseligen Gedanken nachzuhängen.

Erfülle deinem Sohne diese Bitte

Und gehe mit ihm, komme, liebe Mutter,

Hörst du schon die Musik erschallen? Komm.

TOMYRIS.

Die kleine Freud will ich dir nicht versagen,

Ich will mich zwingen und will mit dir gehn.

Auch ist es besser, wenn das Volk, das sonst

Mich hier zu sehen pflegte, heut mich nicht vermisst.

Und möglich, dass für einige Augenblicke

Das Herz die trübe Stimmung unterdrücket,

Sieht andre es erfreuet und beglücket.


Tomyris und Spargapises ab.


Quelle:
George, Stefan: Phraortes, Graf Bothwell. Düsseldorf, München 1975, S. 25-27.
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