Fünfter Aufzug

[160] ANSELMO. Ich bin voller Erwartung.

FRANCESCO. Er sprach die Worte »Es ist ein Gott, meine Kinder!« mit großer väterlicher Gemütsbewegung aus; er konnte keinen Ton mehr vollenden. O mein Anselmo, du weißt nicht, warum ich unsern Vater so schnell verließ.

ANSELMO. Noch warum du mir winktest, dir zu folgen.

FRANCESCO. Umarme mich, mein Bruder! daß ich dich fest an mein Herz drücke, Geliebter! Du bist doch nun völlig wieder Anselmo?

ANSELMO. Ich bin mild, wie der Honig vom Hymettus.

FRANCESCO. Ruggieri hat mir Gift gegeben, und ich werde sterben. Mein Vater wähnte, ich hätte mich betrogen; ich wähnt es selbst. Mein Vater soll mich nicht sterben sehen. Mein Vater hat mich zum letzten Male gesehen. Du erblassest? Was ist dir, mein Werter?

ANSELMO. Cithäron fällt, die erhabne Pallene zittert, und Tempe welkt!

FRANCESCO. Noch immer diese hochfliegenden Phantomen! Ach! wie quälst du mich, mein Anselmo!

ANSELMO. Sprich es noch einmal aus, das geliebte tonvolle Wort. Wie war's? Sterben?

FRANCESCO. In dieser Stunde. Daß ich euch itzt schon zurücklassen soll, meinen niedergebeugten Vater, dich, mein Anselmo, dich, mein Gaddo, Indem er Gaddo mitleidig ansieht. das, das tut mir weh. Doch, ihr Armen, ich gehe nicht lange voraus.

ANSELMO. Ha!

FRANCESCO. Anselmo, ich will dir etwas ins Ohr sagen, ehe ich sterbe. Ich fürchte unsers Vaters Stillschweigen. Er ist arm an Worten, schwer beladen mit Jammer, schwerer, als ein Mensch es vor ihm gewesen ist. Kann er seine Seele bis ans Ende behaupten, so ist er der größte Sterbliche der Erden, wie er der größte in Pisa war. Aber seine Leiden sind zu vielfach. Deswegen hab ich gewünscht, ihn zu überleben, mein Bruder, um der Stab seines sinkenden Alters zu sein. Du bist ein Knabe von starker Seele, Anselmo; ja du bist mehr, als ein Knabe! Weine nicht, Liebster. Doch weine nur. Ich verstehe den ganzen Sinn dieser Zähre.

ANSELMO. Wie schwach ich mir itzt vorkomme, du Goldzüngiger![160]

FRANCESCO. Ein Wort sagte unser Vater: es gellt noch in meinen Ohren. »Ach, Herr, bewahre mich vor Verzweiflung!« So sagte unser Vater! So sagte Gherardesca! Er nannte sich den von Gott Verlassenen. Entsetzen fuhr durch meine Seele: aber ich hielt mich, daß ich nicht ausschrie. Bete für unsern Vater, Anselmo! Indem er ihm die Hand drückt. Ich wollte dich auffordern – Nun vergeß ich, wozu ich dich auffordern wollte. Die Rede eines Sterbenden –

ANSELMO. Sprich nicht eines Sterbenden, ehrwürdiger Jüngling! Wie, Lichtheller, du wirst mich nicht in diesem engen Turme, von der Welt, und aller menschlichen Hülfe abgesondert, mit Gaddo allein lassen? Überdem ist mein Kopf zerstört. Ich schaudre, zurück, ich schaudre, vorwärts zu schauen.

FRANCESCO. Recht so, das war's, wozu ich dich auffodern wollte. Laß Ruggieri nicht über die Seele eines Gherardesca triumphieren! Sei stärker, als deine Jahre. Tritt mit Anstand in die Laufbahn. Wache über deine Vernunft! Ruggieri allein sei der Tobende, aber auch der Zähnklappernde! Er, der itzt jauchzt, sei der Winselnde, der Kriechende, das Insekt! Stirb du deines Namens würdig, Anselmo. Stirb, daß ich dich an jenem Ufer umarmen könne, wie ich dich hier umarme. Gut! das Zittern deines Antlitzes verspricht viel! Dein stolzes Herz steigt sichtbar in deinen Mienen empor! Du bist mein Bruder!

ANSELMO fällt ihm in die Arme. Ach!

FRANCESCO. Meine Bitte hat ihre Deutung, Geliebter. Auch deines Vaters wegen wünsch ich dich standhaft. Kränk ihn nicht durch vergeblichen Kummer: er hat der Leiden genug. Laß mich keine Fehlbitte tun; gib mir deine Hand darauf. Itzt sterb ich vergnügt. Ohne heilige Fürbitten zwar der Knechte Gottes! Keine Träne fließt um mich in seinen Tempeln. Kein Edler im unedlen Pisa trägt meinen wandernden Geist auf den Flügeln seiner Andacht zum Himmel. Aber wo ihr seid, will ich sein. Auf dieser Grabinsel soll mein Geist verweilen, auf dieser schwanken Spitze hingeheftet ruhn, mit dem Winde Freudigkeit des Todes auf euch niederlispeln, bis ihr verklärt seid, wie ich.

ANSELMO entschlossen. Da hast du meine Hand, Kind der himmlischen Grazie, Erstgeborner des großen Gherardesca! Nimm sie, nimm sie zum zweiten Male. Er soll kriechen! er soll[161] winseln! Ich bin eingedenk meines Schwurs, des Erstlinggelübdes; und ich will's halten.

FRANCESCO. Ah! deine Geister sind im Aufruhr! Sammle sie, geliebter teurer Anselmo!

ANSELMO. Rache! Rache!

FRANCESCO. Es gibt nur eine. Verzeih ihm.

ANSELMO. Wenn das Schwert meiner männlichen Hand ihn nicht erreichen kann, so treff ihn das Gebet meiner Seele in der Todesstunde! –

FRANCESCO. Das Gebet ihrer Großmut und herablassenden Huld. So rächen die Beleidigten im Himmel.

ANSELMO. O du! – ich kann deine Glorie nicht ertragen. Aber es sei, wie du gebietest.

FRANCESCO. Ich fühl's, ich muß eilen. Nimm mein Bruder, nimm meinen Abschiedskuß. Ich sollte Gaddo umarmen – Seltsam! meine Füße wollen mich nicht hintragen.


Lehnt sich auf Anselmo.


ANSELMO. Siehst du? ich bin stark, Francesco.

FRANCESCO. Er schlummert.

ANSELMO. Mächtig pocht das Herz des Knaben, wie meins pocht. Wie kann es pochen?

FRANCESCO. Schon ist's seiner Wohnung zu groß. So ist deins. Freue dich. Die Gekerkerten sind am Ziele ihrer Freiheit.

ANSELMO. Wenn dies Schlummer ist, so ist's ein angstvoller.

FRANCESCO. Die Stunde wird kommen. Fahre wohl, Unschuld! Für dich darf ich nicht beten? Macht das Kreuz über ihn. Laß uns eilen. Itzt! itzt! Ich will am Sarge meiner Mutter sterben. Gute Nacht! Erde! du Stiefmütterliche! Er legt sich in einiger Entfernung, mit Bedacht, an die Seite des Sargs. Anselmo hält ihn in seinen Armen. Gute Nacht! Hier will ich besser ruhn. Itzt verlaß mich!


Indem er Anselmo mit der Hand winkt, wegzugehen.


ANSELMO. Nicht also! Ich habe noch nie einen Sterbenden gesehen. Nach einer kurzen Pause. Ist das Sterben? Betracht es wohl, Anselmo! Ist das Sterben? Gott sei mir gnädig!

FRANCESCO. Er hat mich ergriffen – Gott! Gott!

ANSELMO. Erbarmer! Erbarmer! Erbarmer! Noch windet der Wurm sich? Noch? Noch? Wehe mir! Sterben ist grauenvoll!

FRANCESCO streckt den Arm gegen Anselmo aus, und stirbt.

ANSELMO schlägt sich vor die Brust, und entfernt sich schnell.[162] Er ist dahin! mit ihm meine Entschlossenheit. Sterben ist grauenvoll! Geboren werden ist auch grauenvoll! Dies Rätsel ist mir zu fein. Er betrachtet den Leichnam. Wer nennt den Tod ein Geribbe? Ich hab ihn gesehn: sein Fleisch ist Sehne, seine Knochen sind gegoßnes Erz. Ein vollblütiger breitschultrigter Mann. Francesco rang mit ihm, es ist wahr: aber Francesco ist der Kraftvolleste der krotonischen Jugend. Francesco hat einen Stier an den Hörnern zu Boden gestürzt: allein dem erhabnen Fremdling erlag Francesco. Ich bewundre den Bau seiner Glieder. Wenn dieser Jüngling in der Schlacht gefallen wäre: welch ein Mahl für die Adler! Hier ist liebliche Speise! Hier ist Vorrat! Jupiter ist parteiisch. Den Raubvögeln gibt er im Überfluß; Menschen darben. Husch! warum nenn ich ihn parteiisch? Sorgt er nicht für mich, wie für die jungen Raben? Ladet er mich nicht ein? Nein! hier widersteht etwas! In meinen Herzen empört sich's, und ruft: Iß nicht Anselmo, iß nicht von diesem Fleische. Ein guter Rat! dies Fleisch könnte mir schaden; es ist vergiftet. Hieher winkt der Versorger. Ein offner Sarg, der einen weiblichen Körper voll himmlischer Schönheit für mich aufbewahrt! Soll ich? Glück! soll ich? Ich folge dir, Glück! Meine Zähne knirschen! Der Wolf ist in mir! Ha! verwünscht will ich sein, wenn ich dieser Weibsbrust schone!


Indem er sich über den Sarg erhebt, fällt der Deckel.


UGOLINO. Tiger! in deiner Mutter Busen wolltest du deine Zähne setzen? Du greinst? Du bist deiner Mutter Sohn nicht, du Ungeheuer!

ANSELMO. Woher dieser Starke? Der Tod kann er nicht sein: er ist hager und bärtig.

UGOLINO. Wenn Ruggieri dies sähe! dies hörte!

ANSELMO. Er droht mir!

UGOLINO. Der Mensch ist Mensch; mehr nicht, Herrscher im Himmel! deine Lasten sind zu schwer! Was hab ich nicht erlitten! Könnt ich, wie das morgenländische Weib, eine Marmorsäule dastehn, so wollt ich zurückschaun! O nun beb, Erde! nun brüllt, Sturmwinde! nun wimmre, Natur! wimmre, Gebärerin! wimmre! wimmre! die Stunde deines Kreißens ist eine große Stunde!

ANSELMO. Dies Weib war meine Mutter!

UGOLINO. Dies Weib war deine Mutter, du mit dem dreifachen Rachen![163]

ANSELMO indem er sich mit geballter Faust vor die Stirne schlägt. Dies Weib war meine Mutter!

UGOLINO. Gorgo! was hast du getan!

ANSELMO. Hunger! Hunger! Ach er wütet in meinem Eingeweide! er wütet in meinem Gehirne!

UGOLINO. Du Greuel meiner Augen! der du wie ein bösartiger Krebs deiner Mutter Busen zernagst!

ANSELMO. Unmenschlich! o unmenschlich!

UGOLINO. Wenn der Sohn mit dem Gebiß einer Hyäne am Fleisch zehrt, das ihn gebar: o ihr Elemente! so sei der Krieg allgemein! Sulfurisches Feuer zersprenge den Schoß der Mutter Erde! der Abend verschlinge den Morgen! die Nacht den Tag! ewiger chaotischer stinkender Nebel die heilige Quelle des Lichts! Hebe dich weg von mir, Abart! Du triefst von dem Blute deiner Mutter! sei unstet und flüchtig! Die Rache zeichnet dich aus!

ANSELMO wirft sich auf Francescos Leichnam. Verbirg du mich dem Grimme meines Vaters, brüderlicher Busen! Bei den Toten will ich Schutz suchen: denn ach! die Lebenden sind furchtbar!

UGOLINO indem er Francescos Leichnam sieht. Sie ist da, die feierliche Stunde! die mächtige! die prüfende! sie ist da! Nun, Gherardesca! Nun, wenn du ein Mann bist! Die entscheidende feierliche Stunde ist da! Wann ward dieser erste Ast vom Stamme gerissen? Das Schrecken hat den unglücklichen Knaben getötet. Warum zürnt ich? O Himmel! Er wußte wohl nicht, was er tat. Anselmo! mein Sohn Anselmo! Du ängstigest mich! Sohn des Entsetzens! ach! bist du der dritte dieser Leichname?

ANSELMO seines Vaters Knie umfassend. Sei milde! schone! schone!

UGOLINO ihn aufrichtend. Betrübe mich nie wieder so!

ANSELMO. Nie! oder du magst mich zertreten, wie einen Skorpion. Ein reißendes Tier billt in meinem Eingeweide! ich will mit ihm kämpfen! kämpfen will ich mit dem reißenden Tiere! Aber ach! mein Vater! warum muß Gaddo hungern? Dich hungert nicht, sagtest du: warum soll dein Gaddo hungern? Betrachte Gaddo, mein Vater!

UGOLINO. Kann ich den Hülflosen sehn, den ich nicht zu retten weiß? Lieber will ich diesen Entbundnen sehn!

ANSELMO. Dieser Entbundne ist Francesco.[164]

UGOLINO. Und diese im Sarge ist deine Mutter. Zweene sind hier Leichname der Toten: drei tappen noch an ihrer Grabstätte. Francesco verließ mich schnell.

ANSELMO. Er starb in meinem Arme.

UGOLINO. Der Großmütige! Ich sollt ihn nicht sterben sehn! warum sah ich ihn gestorben! Hier ist keine Erquickung! Nirgend ein Winkel, der mir nicht einen Gegenstand des Grauens darbeut. So weit die Schöpfung reicht, ist kein Ort, von dem der Erschaffende seinen Blick abwandte, als der Ort der ewigen Finsternis, und dieser!

ANSELMO. O sieh! sieh! mein Vater! Gaddo bewegt sich herwärts. Was ist dem Kinde?

UGOLINO. Daß ich mit Blindheit geschlagen wäre! mein Auge nichts sähe! mein Ohr nichts hörte! Sind alle Leiden der Erde in eine einzige Stunde zusammengedrängt?

GADDO kriecht zu seinem Vater hin, dessen Zipfel er faßt. Nur ein Brosämchen, mein Vater! nur eins! oder ich sterbe zu deinen Füßen!

UGOLINO zitternd. O Gott!

GADDO. Ach, Anselmo! hilf mir meinen Vater erbitten! Der Tod sitzt auf meinen Lippen: warum soll ich Hungers sterben?

ANSELMO den andern Zipfel anfassend, und gleichfalls knieend. Um deiner Liebe willen! laß Gaddo nicht Hungers sterben!

GADDO. Schier verschmacht ich! bin doch nicht vaterlos, noch mutterlos! Gib mir, daß dein Vater im Himmel dir's wiedergebe!

ANSELMO. Da dich selbst nicht hungert, o Versorger! gib Gaddo von deinem Vorrate! Laß den Wolf hungern. Der Wolf mag hungern. Laß den schändlichen Anselmo hungern. Der schändliche Anselmo mag hungern. Aber o du mit der finstern Stirne! warum dieses fromme, sanftmütige, schweigende Lamm?

GADDO. Schon ein halber Bissen wird mir das Leben retten! ja die Hälfte eines halben Bissens wird mich retten!

ANSELMO. Als der Mangel ferne von uns war, strömten die Schätze des Gottes wie ein Sommerregen herab! herab auf den gierigen Adler! herab auf das idäische ambrosiaduftende Kind!

GADDO indem er kraftlos zurücksinkt. Hier will ich mein Leben ausschmachten! hier auf dieser Stelle! Den Trost soll man[165] mir doch nicht nehmen, daß ich zu meines Vaters Füßen sterbe. Mit gebrochner Stimme. Gott segn' ihn!

UGOLINO. Mark und Bein kann es nicht aushalten!


Er sinkt bei seinen Kindern zu Boden.


ANSELMO. Jenseits, wo sie am Styx schweben, ist die Aussicht. So pflegte unsre teure Mutter zu sagen. Jenseits ist die Aussicht!

GADDO. Engel Gottes! der du mich hier abfordern wirst, laß ein Blümchen unter meines Vaters Füßen aufblühen! Mit schwächrer Stimme. ein geknicktes kleines Blümchen! Küßt seines Vaters Füße. So blühe mein Leichnam!

ANSELMO. Getrost, schöner Sterbender! Das Leben ist der Tränen nicht wert! Was sagte unsre Mutter Ops? Sicherheit blüht nicht unter der Sense des Göttervaters! Jenseits ist die Aussicht!

UGOLINO. Ihr Mütter der Kinder und Säuglinge! ihr Weiber mit zartfühlenden Herzen! Menschengeschlecht! heult zum Mond auf! heult zu ihm auf, der höher, als der Mond, ist! zu ihm, der eure Wehklage hören kann! Klagt's dem Allwissenden, daß dies Los ein Los der Kinder und Säuglinge ist! Und du, blasse Bewohnerin dieses Sarges! Kniet vor den Sarg hin. Heilige unter den Heiligen! Verklärte am Thron! wenn du auf mich herabsiehst! durchschaue die Leiden deines Ugolino!

ANSELMO. Armer neugeborner Unglücklicher! umsonst! der Alte hat seine Zähne gewetzt, und du mußt sterben!

UGOLINO. Wenn er stirbt; wenn der Unschuldige stirbt! für eure Verbrechen stirbt! Hungers, Hungers! stirbt: o Ugolino! o Ruggieri! wo ist eine Verdammnis, die euch Grausamen, euch wider diese duldende Unschuld Verschwornen! nicht gebührt?

ANSELMO. Mit Verwünschungen spricht er das Todeslos über dich aus! Aber deine gebrochenen weißschimmernden Augen reden eine Sprache! und wohl mir! daß ich sie verstehe!

UGOLINO nimmt Gaddo in seine Arme. Ich lasse dich nicht, Engel! nicht aus meinem Arme sollst du mir entschlüpfen! Ringender! willst du die Hölle auf deinen Vater herabrufen?

ANSELMO. So! reiß ihm das Herz aus dem Leibe! Frisch! Nun hast du's! Dies Zucken kenn ich. Fahre wohl, schöner Knabe, fahre wohl!

UGOLINO. Verderben komm über mein Haupt!


Läßt Gaddo fallen, und tritt zurück.


ANSELMO. Frisch! du Vater deiner Kinder! wohltätiger Saturnus! diesen hast du gewiß! Aber warum scheu? warum bleich und[166] mit entstelltem Antlitze? warum wendest du deine gelben Blicke? warum nagst du deine Hände? Will er sein Fleisch von seinem Gebein abnagen, seinen Hunger zu stillen? Sieht er mich denn nicht? Ich bin ja der einzige Übriggebliebne? Ich kann ihm nicht entschlüpfen, und ich will nicht! Er nagt an seinem Fleisch! Beim Styx! große Schweißtropfen fallen von der Stirn auf die zernagten Hände Saturns, des Niedergebeugten! Kann er mich nicht abmähen? Warum säumt er? Oder soll ich mein Fleisch ihm darbieten? So will's die kindliche Pflicht! Ich soll mein Fleisch ihm darbieten! Ich fühle mich von Mitleiden und Erbarmen durchdrungen, diesen Alten so ungewöhnlich hungern zu sehn. Ich weiß auch, was Hunger ist! Nein, ich kann's nicht ausstehn! Er hängt sich an seines Vaters Arm. Mich! mich! mich verzehre, du eisgrauer Alter! Sieh, dein einziger Zurückgebliebner lebt! Mir laß das Verdienst, deinen Hunger zu stillen!

UGOLINO in einer Art von Betäubung. Ruggieri! Ruggieri! Ruggieri!

ANSELMO. Schwer liegt die Hand des Schreckenden an meinem Nacken! Gott der Götter! du, den ich in der Angst meines Todes – Es ist Ugolino!


Er sträubt sich im Arme seines Vaters.


UGOLINO. Oh! hab ich dich so in meinen Armen! Schuppigtes Ungeheuer! hab ich dich endlich in meinen Armen! Nun winde dich, Hyder! umflicht meine Schenkel! umflicht meine Arme! Gherardesca soll mit männlicher und mit nervigter Faust auf dich treffen! Schuppigtes vielköpfigtes Ungeheuer! Siehst du? ha! siehst du? ha! siehst du?

ANSELMO flieht.

UGOLINO streckt den Arm nach ihm aus und schlägt ihn zu Boden. Also treffe dich –

ANSELMO jammert in seinem Blute.

UGOLINO. Der Sterbenden Geschrei! der Kinder Wehklag im Leichengefild! das Gewinsel der Weiber und ihrer Säuglinge! o Sieger Ugolino! Alles wieder still! Kein Hauch mehr in der Luft! Keine Kühlung um meine Schläfe! und mir ist besser! Doch meine Augen sind mit Blindheit geschlagen! Wo find ich meine Laute?


Nachdem er einige Griffe auf der Laute getan, wird eine sanfte traurige Musik gehört.


Ist's Ruggieri, der Leichenbestatter? Diese Harmonien schweben nah um den Hungerturm. Oder seid ihr's, ihr[167] wenigen Rechtschaffnen, die ihr unter Ugolinos martervollem Kerker weinet?


Die Musik fährt fort.


Francesco ist am Gift gestorben, sagst du? was ist's mehr? Wär er vom Schwert, vom Dolch, vom Beil gestorben, würd er weniger tot sein? Lern es, mein Sohn, Vergiften, Ermorden, Hinrichten ist ein heiliges Vergnügen: es ist ein bischöfliches Vergnügen! Wie ist das? Bin ich hier allein? Wer dieser Jüngling an der blutigen Mauer?


Anselmo schreit, da sein Vater sich ihm nähert. Dieser fährt voll Entsetzen zurück.


Verflucht sei das Weib, das mich gebar! Verflucht die Wehemutter, die das Wort aussprach: »Der Knabe lebt

ANSELMO. Nur verzehre mich nicht, du hungernder Vater! nur mich Lebenden nicht!

UGOLINO. Und hab ich – O Furchtbarster in deiner Rache! Hier liege, Mörder! Er wirft sich heftig neben Anselmo hin. Hier weihe dich der Erde auf ewig!


Er spreitet seine Arme über den Boden aus. Die Musik fährt fort.


Anselmo! Wehklagend. einst mein Anselmo! einst Freude und Labsal meiner Augen! Dein Vater ist's, der dich ins frühe Grab sandte. Die Klage des Mörders eilt von einer Leiche zur andern. Fluch ihm! Sie wird's ewig!

ANSELMO. Dich, Hungertod, werd ich nicht sterben. Heil ihm!

UGOLINO. Auf mich rausche daher! Hungertod daher! Ich bin müde und lebenssatt! Hier sollst du den morschen Gebeinbau finden. Hier zerstieb er, bis die Gerichtsposaune diesen Staub, und diesen, und diesen, und diesen erweckt! Hier vermisch er sich mit der Verwesung der Unschuldigen, die hier, hier, und hier, und hier um mich her zerstreut liegen! Und Pestilenz, Pestilenz, du Verwesungsluft der Gherardescas! sei jedem Pisaner, der dich eintrinkt! Mit diesem Vermächtnis –

ANSELMO indem sich die Musik entfernt.

Wonnegesang! Wonnegesang!

Ist am Ziel denn nicht Vollendung?1

Nicht im Tale des Tods Wonnegesang?[168]

UGOLINO. Ich hebe meine Augen zu Gott auf! Meine zerrißne Seele ist geheilt. Mit diesem Vermächtnis – mit diesem Vermächtnis – Himmel und Erde! eines Verhungernden! langsam, langsam, unter jeder Gewissensangst! Was? Tage- und nächtelang angestarrt von jenen weitoffnen Augen deiner Erschlagnen und auch Verhungerten? was? Nein! nein! nein! bei allen Schauern des Abgrundes! nein! Ich will es nicht aushalten! beim allmächtigen Gott! ich will nicht! Er hebt sich gählings, wie um gegen die Mauer zu rennen. Du im Himmel! Fährt aber plötzlich zurück. Ha! Mit zum Himmel gehobnen Augen. Mein Herr und mein Richter! Ha, Ugolino! noch lebst du! noch – lebst du! klein zwar nun, und nun dir verächtlich, und nun unwürdig des Prüfungstodes! Aber ich lebe! Schwur ich's? bei dem allmächtigen Gott schwur ich's? O Schwur, wie ihn nie die Verzweiflung geschworen hat! Drei Tage dieser Dämmrung, Ugolino! drei Nächte dieser Dämmrung! Diese Felslast auf meinem Herzen? sie nicht abwälzen? Ja, es ist schwer! Oder Jahrtausende jenseits in der Finsternis der Finsternisse? Jahrtausendelang an allen Wänden aller Felsen meine Stirne zerschmettern? Wehe mir! in jeder schamvollen Erinnerung meiner unsterblichen Seele sterben? und wieder leben? und wieder sterben? Ach! es ist graunvoll! Jahrtausendelang in der schwarzen Flamme des Reinigers? und neue Jahrtausende lang? und vielleicht eine Ewigkeit lang, hinzitternd vor dem furchtbaren Antlitze des Rächers? Und wie würde der mitverdammte Pisaner die Zähne blöcken! Wie würde der Mitverdammte die Zähne blöcken! Vergib mir! vergib mir, o mein Richter und Erbarmer! vergib mir! Sind nicht meine armen unschuldigen Kinder gefallen? Armer Gaddo! da wand er sich! da umher liegen die Leichname! armer Francesco! und meine Gianetta! meine Gianetta! und – und – Mit erstickter Stimme. Sie murrten nicht! So hingebeugt der Verwesung! So sie! Kein Murren in ihrer Seele! Ah! was wär's, wenn sich der Verbrecher empörte!


Er weint bitterlich, und verhüllt sich das Haupt. Die Musik wird klagender.


Eine unmännliche Träne! In edler Stellung. Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden? Oder das Band des Orion auflösen? Kannst du den Morgenstern hervorbringen zu seiner Zeit? Oder den Wagen am Himmel über[169] seine Kinder führen? Weißt du, wie der Himmel zu regieren ist? Oder kannst du ihn meistern auf Erden?


Die Musik endigt erhaben.


Ich will meine Lenden gürten, wie ein Mann. Ich hebe mein Auge zu Gott auf. Meine zerrißne Seele ist geheilt. Mit dir, Hand in Hand, du Nahverklärter! Anselmo umfassend. Und dann seid mir gepriesen, die ihr diesen Leib der Verwesung hinwarft! Ganz nahe bin ich am Ziel![170]

Fußnoten

1 Aus einer Strophe von Klopstock.


Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon