An des Prinzen Friedrich Wilhelm, ältesten Sohn des Prinzen von Preußen, Königliche Hoheit

[63] 1786.


Die Tugend sei, sagt man, erschienen

Einnehmend schön, mit holden Mienen,

Dem jungen Prinzen Hoangti,

Dem Sohn des Kaisers Choun, der sie

Von seinem Maler malen ließ,

Sie täglich seinem Prinzen wies,

Und sie das schöne Fräulein hieß!


Sie sagte, sagt man, zu dem Prinzen:

Hoangti! Lieber! zehn Provinzen

Erkennen dich für ihren Herrn!

Ich rate, Lieber! geh auf Reisen

In jegliche, du reisest gern!

Geh! lerne kennen ihre Weisen,

Und liebe sie wie deine Brüder,

Und setze dich bei ihnen nieder

Auf Rasen, oder wo es ist,

Und sage Keinem, wer du bist!

Und sei wie stumm und froh, zu hören

Der weisen Männer weise Lehren,

Und merke dir die weisesten,

Und schreib sie dir ins Herz, und hier

Auf diese goldnen Täfelchen;

Zu dem Gebrauch schenk ich sie dir.


Der Prinz ergriff mit schneller Hand

Die Täfelchen; die Schenkerin,

Die Liebliche, die Zauberin,

Die schöne Dame, die verschwand![63]

Auf ihren Tafeln aber stand:

Sei weise! sei gerecht! sei gut!

Und wenn ein Weiser Thaten thut

Noch edler als die Deinigen, dann eile

Sie nachzuthun; hast keine Weile,

Mein Sohn! auf Polstern auszuruhn!

Wir leben einmal! was uns fehlet

An guten Thaten, wird gezählet,

Und alles, was wir Gutes thun!


Der Prinz besah die Schrift an hellem Lichte, stand

Betreten lange, fand,

Sie sei von seines Vaters Hand.

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 63-64.
Lizenz:
Kategorien: