Ein Mädchen

[169] Ich weiß ein Mädchen, schöner ist

Kein Mädchen auf der Welt!

Du, der du nie verzaubert bist,

Du, Weiser, oder Held!


Du solltest nur mit einem Blick,

Mit einem nur, es sehn!

Demütig würdest du zurück

Zu Mut und Weisheit gehn.
[169]

Hineingezogen in ihr Netz

Der Schönheit, lägst du da!

Ihr Reich, ihr Zepter, ihr Gesetz

Erkennend, lägst du da!


Welch eine Stimme! wie so süß!

Ernst sei es, oder Scherz,

Sie säng', und spräch' ein Paradies

Selbst Gellerten in's Herz!


Ihr Auge? Solche Heiterkeit

Im weiblichen Gesicht

Fand ich auf Erden weit und breit,

Fänd' ich im Himmel nicht!


Ihr Lächeln macht das Dunkle hell!

Ein Engel würde froh,

Könnt' er es sehn! Kein Raphael,

Kein Öser malt es so!


Ihr Busen? Tugend stirbt davon!

So wunderschön ist er!

Nicht Zeus und nicht Anakreon

Sah einen niedlicher!


O welche Rosen, welch ein Reiz

Sie abzubrechen! Komm!

O Freund, genug für deinen Geiz,

O wärst du nicht zu fromm!


Ihr tiefes Grübchen in dem Kinn!

Ihr schönes Blut! Ihr Schoß!

Ihr Wuchs! Ihr Gang! O Zauberin!

O Göttin! laß mich los!

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 169-170.
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