An die Liebe

[28] Liebe! allerliebste Liebe!

Seegne mir mit deinem Triebe.

Laß mich deinen Reitz empfinden,

Laß mich deine Glut entzünden,

Laß mich deinen Zukker schmekken,

Laß mich durch ein Lied erwekken,

Wenn ich Zeit und Lust versäume,

Müßig wach', und müßig träume.

Laß mir hübsch durch dein Geniessen

Zeit und Stunden schneller fliessen.

Laß mirs an der Müh zu wählen,

Aber nie an Schönen fehlen,

Und damit auch viel Beschwerden

Durch ein Mittel minder werden,

Laß mir künftig nur von allen

Eine schön seyn, und gefallen.

Lehr ihr denn, sich gut zu schikken

Gut zu spielen, gut zu blikken,

Lehr ihr meine Neigung kennen,

Klug zu frieren, klug zu brennen,

Lehr ihr witzig abzuschlagen,

Lehr ihr reitzend Ja zu sagen.

Aus den Worten, aus den Werken

Laß ihr Wunsch und Willen merken;

Aber lehr ihr, Wunsch und Willen

Nicht zur Unzeit zu erfüllen,

Daß sie sich erst artig schäme

Und sich nicht zu bald bequeme.

Lehr ihr alle frohe Minen,

Die der Lust zum Vorteil dienen,

Lehr ihr alle Frölichkeiten,

Lehr ihr auch, was sie bedeuten,[29]

Daß sie stets in Unschuld prange,

Daß sie nie zuviel verlange,

Daß sie mirs vernünftig klage,

Wenn ich ihr zuviel versage.

Lehr ihr, wie man nie veralte,

Wie man Reitz und Wert behalte,

Wenn auch einst auf Brust und Wangen

Aller Rosen Schmukk vergangen.

Lehr ihr, wenn wir uns vereinen,

Treu zu seyn, und treu zu scheinen,

Daß sie mich mit nichts betrübe

Und mich immer stärker liebe.

Lehr auch mich, durch deine Lehren,

Solchen Engel zu verehren,

Daß er, wenn ich ihn vergnüge,

Keine Lust zum Wechsel kriege.

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Versuch in scherzhaften Liedern und Lieder, Tübingen 1964, S. 28-30.
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