An die Frau Vicekanzlerin Rinck, in Sondershausen, bei Uebersendung eines Musen-Almanachs

[96] Den 31sten December 1772.


Ob ich das Jahr durchleben werde,

Das noch in diesem Büchlein steckt?

Das weiß ich freilich nicht! da Erde

Vielleicht mich morgen schon bedeckt.

Doch wenn ich's nur erleben werde,

Dann will ich auch das ganze Jahr

So froh seyn, als bei seiner Herde

Der Prinz und Schäfer Paris war.

Ich habe noch in meinem Keller

Ein Fäßchen alten deutschen Wein;[97]

Was macht den trägen Winter schneller

Und sorgenlos noch obenein?

Auch schlafen fröhliche Gesänge

In meiner Harf'; im Frühling' trägt

Mein Gärtchen Blüthen mir die Menge,

Worin ein Heer von Finken schlägt.

Im Sommer hab' ich kühle Lauben,

Und Bach-Gemurmel fürs Gehör,

Im Herbste, Muskateller-Trauben,

Und Karpfen, größer als ein Stör.

Komm! und versuche meine Trauben,

Zieh meiner Veilchen Balsam ein,

Und kühl' dich ab in meinen Lauben,

Und koste meinen süßen Wein!

Und höre meine Finken schlagen,

Und murmeln meinen Schmerlenbach;

Komm bald! denn den vergangnen Tagen

Folgt gar zu bald der letzte nach!

Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 4, Frankfurt a.M. 1821, S. 96-98.
Lizenz:
Kategorien: