An Mamsell M.P.J. André, in Offenbach

[207] Was du noch itzt nicht träumst, das wird geschehen:

Du wirst dereinst den Jüngling sehen,

Bei dem dein Herz zum erstenmal

Verdoppeln wird die Schläge, deine Wange

Verrätherisch wird glühn, und bange

Dem Munde seyn, um seiner Worte Wahl.

O! wenn du dann zum erstenmal im Bette

Das Läuten in die Morgenmette,

Des Wächters Tagverkünden hörst:

So denk an mich! Denn Worte, die itzt keinen[208]

Verstand für dich zu haben scheinen,

Verstehest du in solchen Stunden erst.

So wisse denn: du liebest! Zwar zu lachen

Wird heute dich der Ausspruch machen,

Allein zu weinen sicher auch einmal.

Doch kosten soll er dir nur süße Zähren,

Wirst du dein Herz nur dem gewähren,

Der deine Achtung nicht durch Ränke stahl.

Wer seine Hand nicht gleich am Traualtare

Dir bieten kann, vor dem bewahre

Dein Herz, und wär' er Grandison.

Ja, wenn auch du selbst Clementinen gleichest,

Und nie vom Pfad' der Tugend weichest:

Die Ruhe fliegt doch allemal davon.

Es gibt vielleicht für ächte Menschenkenner

Nicht Einen Grandison, doch Männer,

Die keinen Händedruck erlaubt

Sich halten, lieber schweigend sich verzehren;[209]

Doch wirst du nur dein Glück vermehren,

Wenn nie dein Herz an Männertugend glaubt.

Wenn aber einst, durch seine schöne Seele

Ein junger Mann dein Herz dir stöhle,

Und du – für deinen Werth, ein klein

Geschenk, so groß es ist! – die Hand ihm raubest:

Je tugendhafter du ihn glaubest,

Je glücklicher wirst du als Gattin seyn!

Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 4, Frankfurt a.M. 1821, S. 207-210.
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