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[88] Die Namen stehen blutig eingezeichnet im Buch der Weltgeschichte!
Das erfolglose Bombardement vom 17. October, dem sie nicht einmal den Versuch eines Sturmes folgen lassen konnten, nöthigte die Alliirten zu einer regelmäßigen Belagerung der Festung. Wir haben bereits ausgeführt, wie ihre erste Sorge dahin gegangen war, durch Befestigung des Sapunberges und der Zugänge nach Balaclawa ihre Operationsbasis zu sichern. Hierhin richteten sich natürlich auch die Blicke des Oberkommandanten der russischen Armee.
Einstweilen erwarteten beide Theile die Ankunft neuer Verstärkungen. Die Alliirten, auf ihre bedeutenden Hilfsmittel und ihre Überlegenheit an Zahl vertrauend, hofften, durch eine regelmäßige Belagerung die Stadt bis zum Einbruch des Winters zu erobern. Die Engländer setzten ihr Feuer aus 68 Geschützen fort und am 19. waren auch die französischen Batterieen so weit wieder hergestellt, um das ihre beginnen zu können. Die Beschießung wurde fortgesetzt, ohne daß der eine oder der andere Theil wesentliche Nachtheile davon hatte. Die Russen, die durch das Bombardement täglich etwa 300 Mann verloren, besserten über Nacht regelmäßig ihre Schäden wieder aus, er setzten die zerstörten Mauern durch zweckmäßige Erdwerke und errichteten neue unter der rastlosthätigen Leitung der Ingenieur-Arbeiten durch Totleben, der nach dem ersten Bombardement zum Obersten ernannt worden. Die Linie der Befestigungswerke war zur besseren Oberleitung der Vertheidigung in vier Abtheilungen getheilt, welche zu dieser Zeit der General-Major Asnalowitsch, Vice-Admiral Novossilski, Contre-Admiral Panfilof und Contre-Admiral Istomin befehligten. General-Lieutenant Kirjakof kommandirte die Reserven, Kommandant[89] der gesamten Truppen, die aus 57 Bataillonen bestanden, war der General-Lieutenant Moller, Hafen-Gouverneur der Vice-Admiral Staujukowitsch, Kommandant der 13 See-Equipagen der Vice-Admiral Nachimof.
Die englischen Batterieen warfen zahlreiche Raketen in die Stadt, doch ohne viel Erfolg; dagegen litten die Vertheidiger durch das Büchsenfeuer der Zuaven und Jäger von Vincennes bedeutend. Die Franzosen waren bis zum 25. mit ihren Trancheen bis auf 750 Schritt an die Festung herangekommen und die Besatzung unternahm seit dem 20. allnächtlich kleine Ausfälle gegen sie oft mit bestem Erfolg.
Die Operationsarmee der Russen war nach der Almaschlacht, wie bereits erwähnt, zu schwach, um etwas Entscheidendes gegen die Belagerungsarbeiten der Verbündeten unternehmen zu können. Der Fürst, der seitdem nur durch 12 Schwadronen Reiter unter General-Lieutenant Rischof und einige Bataillone aus Kertsch und Feodosia verstärkt worden, mußte die Ankunft des 4. Infanterie-Corps abwarten, das in Eilmärschen aus Bessarabien nach der Krim beordert war. Leider für den Erfolg der Russen vermochte er seine Ungeduld nicht zu zügeln und beschloß, als am 22. in der Nähe von Ssewastopol die 12. Infanterie-Division des General-Lieutenants Liprandi eingetroffen war, ohne die übrigen Abtheilungen des Corps abzuwarten, die Operationsbasis der Verbündeten anzugreifen und sie von Balaclawa abzuschneiden.
Das Centrum der Russen befand sich in dem Dorfe Tschorgun auf dem rechten Ufer der Tschernaja. Zwei Wege führten von hier nach Balaclawa, der eine rechts durch das stark verschanzte Dorf Kadikoi, im Thal zwischen dem Sapunberg und den Bergen südöstlich von Balaclawa gelegen, und der linke näher den letzten Bergen. Beide liefen quer über die große Woronzoff-Straße, welche sich von Sebastopol nach der Yalta zieht. In dem Thal um Balaclawa und Kadikoi standen die englischen Truppen, durch eine doppelte Reihe von Redouten und Verschanzungen gedeckt, deren vorderste an der Woronzoff-Straße von den Türken besetzt war. Hinter Kadikoi lag die englische Kavallerie. Jenseits des Sapunberges standen auf den Höhen desselben in gesicherter Stellung als Observations-Corps gegen die an der Rhede sich hinwindende, von Sebastopol zunächst nach Inkermann führende Straße die beiden französischen Divisionen des Generals Bosquet.[90]
Die Leitung des Angriffs am 25. October war dem General Liprandi übertragen. 17 Bataillone, 22 Schwadronen mit 10 Sotnien Kosacken und 52 Geschütze sollten denselben von drei Richtungen unternehmen. Der Fürst ließ außerdem, um die rechte Flanke des Angriffs zu decken, eine Brigade mit 10 Geschützen unter General-Major Schabokritski in der Nacht die Tschernaja überschreiten und sich gegen den Sapunberg aufstellen. Die Dispositionen waren, nach dem Urtheil aller Militairs, vortrefflich, aber das zur Ausführung kommandirte Corps zu schwach, um einen dauernden Erfolg zu sichern. General-Lieutenant Rischof führte von der Traktirbrücke1 her die rechte Colonne, General-Major Semiakin die mittlere direkt auf Kadikoi los, General-Major Gribbe die linke gegen Kamari zur Umgehung der feindlichen Stellung. Schon bei Tagesanbruch waren die russischen Colonnen auf dem Marsch, um 6 Uhr gelangte das mittlere Corps an die ersten Redouten, eröffnete das Feuer und nahm sie im Sturm. Die Türken verließen sie zum Theil in wilder Flucht und um 71/2 Uhr wehte die russische Fahne auf allen vier Schanzen. Die Geschütze wurden vernagelt oder unbrauchbar gemacht, die Vorräthe zerstört und die russische Artillerie begann von dieser Position aus die bei Kadikoi und Balaclawa aufgestellten englischen Truppen und das Lager zu beschießen. Die linke russische Colonne hatte sich gleichfalls glücklich des Dorfes Kamari bemächtigt.
General-Major Colin-Campbell eilte mit dem 93. schottischen Regiment zur Unterstützung der Türken herbei, die Kavallerie der Engländer unter Lucan schloß sich ihm an und die flüchtigen Türken sammelten sich unter ihrem Schutz. Um 8 Uhr erschienen Lord Raglan und Canrobert auf dem Schlachtfelde und beorderten eilig von Balaclawa her starke Reserven, um die verlorene Stellung wieder zu gewinnen.
Die vierte englische Division Cathcart und die erste Garde-Brigade des Herzogs von Cambridge rückte gegen die Woronzoff-Straße vor. Zugleich ließ Bosquet einen Theil der 1. Division und einige Schwadronen reitender afrikanischer Jäger in das Thal vorgehen.
General Liprandi ertheilte jetzt dem General-Lieutenant Rischof den Befehl zum Kavallerie-Angriff und die Husaren-Brigade mit[91] den uralskischen Kosacken und zwei reitenden Batterieen stürzten sich im Galopp auf die Hochländer Campbell's und die Dragoner des General Scarlett, die Wagenburg, welche die Schotten vor ihrer Stellung aufgefahren, attakirend. Aber festen Fußes – Schulter gegen Schulter, wie das berühmte Kommando der Hochländer sagt, – empfing sie die Infanterie und eine Batterie der Brigade Scarlett begrüßte die kecken Steppenreiter mit ihren Kartätschenladungen. Die russische Kavallerie wurde geworfen und hinter ihr drein donnerten die schweren Dragoner der Briten, bis an die eroberten Redouten. Hier jedoch wandte sich das Glück – ein vernichtendes Feuer der russischen Batterieen brach die Reihen der Dragoner und brachte sie in Unordnung. Mit großem Verlust zogen sie sich zurück.
Lord Raglan sah mit Groll die Niederlage seiner Reiterei unter den Augen der Franzosen und wollte um jeden Preis die englischen Geschütze wieder haben, welche die Russen mit den Redouten erobert hatten. Der stolze Somerset2, der Adjutant und Neffe des eisernen Herzogs, der seine Sporen beim jammervollen Siege von Kopenhagen geholt, aber sie dann auf den blutigen Schlachtfeldern von Fuentes d'Onores, Badajoz und Salamanka verdient hatte, der bei Quatre Bras gegen Kellermann's schwere Reiter mit dem tapfern 42. Regiment gekämpft und vor Waterloo den rechten Arm gelassen, – hatte in dem siebenundzwanzigjährigen Kamaschendienst voll Unthätigkeit und militairischer Pedanterie, welche die englische Armee zur schlecht organisirtesten Europa's hat werden lassen, – die Ritterthaten seiner Jugend nicht vergessen. Seine Adjutanten flogen zu dem Kommandanten der Kavallerie, dem Grafen Lucan, und überbrachten ihm den Befehl, die russische Stellung durch Lord Cardigan's leichte Kavallerie-Brigade, welche den linken Flügel bildete, attakiren und die zurückgehenden Husaren und Kosacken verfolgen zu lassen.
So unfähig sich beide britische Reiterführer auch im Fortgang des Feldzugs gezeigt haben, so hatten sie doch Einsicht genug, zu sehen, daß die Ausführung dieses Befehls mit großer Gefahr verbunden war. Selbst wenn die englische Reiterei die russische Schlachtlinie[92] durchbrach, konnte sie leicht in das Kreuzfeuer der Artillerie zweier Corps gerathen.
Der Adjutant des kommandirenden Generals harrte daher, nachdem er dem Grafen den Befehl überbracht, vergeblich einige Minuten auf Antwort, während dieser ängstlich sich mit seinem Stabe berieth. Ungeduldig fragte er endlich: »Wollen Euer Herrlichkeit dem General-Feldzeugmeister eine Antwort senden?«
»Mein Herr –« sagte der Graf, »ich gestehe Ihnen, ich glaube den Befehl des Lords mißverstanden zu haben. Er kann unmöglich verlangen, daß Kavallerie die verlornen Redouten wiedernimmt?«
»Ich habe Euer Herrlichkeit nur meine Befehle zu überbringen, das Weitere ist Ihre Sache.«
»So haben Sie die Güte,« sagte der Graf hochmüthig, »die Ordre in Gegenwart dieser Herren nochmals langsam und deutlich zu wiederholen.«
Der Adjutant that es.
»Jetzt, mein Herr, melden Sie dem General, daß wir thun werden, was englische Kavallerie thun kann, daß es aber nicht meine Schuld ist, wenn heute Abend die britische Krim-Armee keine Kavallerie mehr besitzt. Vorwärts, Mylord Cardigan! lassen Sie die 4. und 13. leichten Dragoner die Höhe der Redoute links umgehen und den Angriff beginnen, während das 14. Regiment und die Husaren als zweites Treffen nachrücken.«
Die Trompeten bliesen und die leichten Dragoner trabten mit jenem todesverachtenden Trotz gegen die Batterieen, welcher immer den Bulldog-Charakter der englischen Soldaten ausgezeichnet hat. Die Regimenter umgingen die Höhe und attakirten die russischen Husaren und Kosacken trotz des Kartätschenfeuers zweier russischen Batterieen in beiden Flanken und ohne auf das Heckenfeuer des Odjessa'schen Jäger-Regiments zu achten. Das 14. Dragoner-Regiment und die beiden Husaren-Regimenter 8 und 11 drangen nach und warfen sich auf eine donische Batterie, deren Bedienung sie in Stücken hieben. Das blutige Handgemenge wogte gleich einem Knäuel zwischen den Hügeln hin und her und das Feuer der russischen Batterieen mußte inne halten, um nicht Feind und Freund zugleich zu vernichten. Der Kommandant der 2. Brigade der russischen Kavallerie, General-Major Ghalezki, fiel; nur mit Anstrengung behaupteten die Husaren und Kosacken das Gefecht.[93]
In diesem Augenblick stürzte sich der Oberst Jeropkin mit seinem Ulanen-Regiment, das so eben erst auf dem Schlachtfelde eingetroffen war und hinter den Odessaer Jägern eine verdeckte Aufstellung genommen hatte, auf die rechte Flanke der englischen Kavallerie. Der Stoß war furchtbar und von dem glänzendsten Erfolge begleitet. Die ganze Reiterbrigade wurde vollständig geworfen, gerieth in die größte Unordnung und wandte sich zur wilden Flucht, verfolgt von den Ulanen, niedergeschmettert von den Kartätschen der Batterieen auf den Hügeln und des Schabokritski'schen Corps. An fünfhundert Reiter ließen die Engländer auf dem Kampfplatz.
Die Flucht war so ungestüm und unaufhaltsam, daß sie selbst die schwere Dragoner-Brigade Scarlet's, welche Lord Raglan seiner leichten Kavallerie zu Hilfe gesandt, mit sich fortriß – die englische Reiterei verschwand vom Schlachtfeld. Vom Sapunberg aus hatte man die Vernichtung der leichten britischen Kavallerie beobachtet. Der französische Obercommandant ließ daher – freilich etwas spät – drei Schwadronen seiner afrikanischen Jäger einen Angriff auf die Batterieen Schabokritski's am Abhang der Pedjuhinni-Berge machen; die herbeieilende Infanterie jedoch warf sie zurück.
Um 9 Uhr hatten die Verbündeten bereits 20,000 Mann im Thal von Kadikoi vereinigt und verstärkten sich fortwährend. Aber die unglückliche Attake der englischen Kavallerie hatte einen solchen Eindruck auf die Generäle und die Truppen gemacht, daß man nicht wagte, nochmals gegen die von den Russen besetzten Höhen vorzugehen. Hätten diese zu Anfang des Treffens mit einer genügenden Macht ihre Vortheile verfolgen können, so ist wohl kein Zweifel, daß es ihnen gelungen wäre, Balaclawa zurück zu erobern, ein Sieg, der die Verbündeten zur Wiedereinschiffung in der Kamiesch-Bai gezwungen hätte.
Die Artillerie setzte von beiden Seiten die Kanonade bis zur vierten Nachmittagsstunde fort, dann zogen die Alliirten ihre Truppen in's Lager zurück; die Russen behaupteten das Schlachtfeld.
Die englische leichte Kavallerie war fast zur Hälfte vernichtet – was davon übrig, machte bald die gränzenlose Unordnung der Verwaltung und die Fahrlässigkeit der Führer kampfunfähig.[94]
Die Belagerung der Stadt schritt nur langsam vorwärts, da die Stellung der Russen bei Tschorgun und gegen Balaclawa die Alliirten nöthigte, hierhin alle ihre Kräfte und all' ihre Aufmerksamkeit zu richten. Die Gegner verschanzten sich Aug' in Aug' in ihren festen Stellungen.
Unterdessen waren auf beiden Seiten bedeutende Verstärkungen eingetroffen. In den ersten Tagen des November zählte die französische Armee wieder 49 Bataillone, 8 Schwadronen und 96 Feldgeschütze, die englische 32 Bataillone, 20 Schwadronen und 24 Geschütze, die türkische Division bestand aus 8 Bataillonen, – so daß die gemeinsame Stärke etwa 70,000 Mann betrug: 35,000 Franzosen, 23,000 Engländer und 12,000 Türken.
Die russischen Landtruppen in Sebastopol und der Umgegend bestanden jetzt aus 103 Bataillonen, 58 Schwadronen, 22 Sotnien Kosacken und 282 Geschützen, im Ganzen aus 82,000 Mann, waren also stärker als die Verbündeten, aber getheilt in die Vertheidigung der Stadt und das Observations-Corps.
Unter diesen Verhältnissen beschloß der Fürst Menschikoff, jene Offensive zu ergreifen, die eine bleibende und ruhmvolle Stelle in der Geschichte der blutigen menschlichen Kämpfe mit dem Namen der »Schlacht von Inkermann« bewahren wird.
Der strategische und taktische Plan dieser Schlacht ist einer der vorzüglichsten, die je gefaßt wurden, und würde dem Genie Friedrich des Großen und Napoleon's nicht zur Unehre gereicht haben. Was ihn scheitern ließ, waren Dinge, die außer der Berechnung des Feldherrn lagen.
Die Brücke von Inkermann führt über die Tschernaja nahe ihrem Ausfluß in das Ende der großen Bucht von Sebastopol. Die neue Sappeurstraße und die alte Poststraße laufen, von der Festung kommend, an ihr zusammen, die erste in der Nähe des Buchtufers hinführend, die andere zieht sich eine Strecke durch den Kilengrund und windet sich dann in engem Defilee durch die Höhen, wobei auf der Seite nach der Tschernaja das Thal so morastig ist, daß die Straße mehr als tausend Schritt über enge Faschinendämme läuft.
Während die Franzosen auf dem südöstlich liegenden Sapunberg mit zwei Divisionen unter Bosquet sich stark verschanzt hatten, war den Engländern die Deckung des Terrains zwischen dem Sapunberg und dem Kilengrund, durch welches eben die beiden[95] Straßen von der Tschernaja her führen, überlassen. Sie hatten jedoch ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Belagerungsarbeiten gerichtet, ohne an die Deckung der Wege zu denken, und erst Ende October wurden drei Redouten zum Schutz des rechten englischen Flügels und des Lagers hier flüchtig aufgeworfen, von denen die erste, auf der Höhe über der alten Poststraße gelegen, diese vollständig beherrschte, während die beiden andern weiter rückwärts lagen.
Diese Umstände waren dem Fürsten Mentschikoff wohl bekannt und er beschloß daher, die Engländer durch die gefährlichen Defileen anzugreifen. Durch die Besitznahme der Höhen, welche sich auf beiden Seiten des Kilengrundes befinden, wäre das russische Offensiv-Corps in unmittelbare Verbindung mit der Garnison Sebastopols gekommen; es konnte seine überlegene Kavallerie gegen den Feind verwenden und dieser wäre gezwungen gewesen, die Belagerung des östlichen Stadttheils aufzuheben, welche später eben den Sieg entschied.
Wir haben bereits erwähnt, daß die Disposition des Fürsten eine ausgezeichnete war. Der Angriff sollte, um die Feinde zu täuschen, von verschiedenen Seiten her geschehen. Zunächst sollte eine starke Colonne von 29 Bataillonen und 38 Geschützen unter General-Lieutenant Ssoimonoff aus der Stadt, und zwar von der Bastion II. hervorbrechen und die Höhen des Kilengrundes in Besitz nehmen; eine zweite Colonne mit 20 Bataillonen und 96 Geschützen unter General-Lieutenant Pawloff, dem wir gleich Ssoimonoff bereits bei dem Kampfe um Oltenitza und Giurgewo begegnet sind, sollte über die Inkermann-Brücke durch die Schluchten und auf der alten Poststraße vordringen und das englische Lager angreifen. Zugleich aber sollten das Corps des Generals der Infanterie, Fürsten Gortschakoff (I.), von Tschorgun südwestlich her einen Scheinangriff mit 20,000 Mann gegen die französische Stellung auf dem Sapunberg unternehmen, und aus der Ostseite der Festung selbst zwei Regimenter der Garnison unter General-Major Timofjef einen Ausfall aus der Bastion VI. gegen die französischen Belagerungslinien machen. Die Russen führten somit an 60,000 Mann mit 234 Geschützen in's Gefecht, wovon jedoch nur etwas mehr als die Hälfte für den wirklichen Kampfplatz bestimmt war, genügend, die Engländer zu erdrücken, wenn die Zufälle der Schlacht es nicht anders gewendet hätten.[96]
Der Abend des 4. November, Sonnabend, war von höchst widrigen Wetter begleitet. Es regnete ununterbrochen in Strömen, die Wege und Schluchten waren grundlos von Wasser und Schmuz und ein dichter Nebel lagerte über Thälern und Bergen, kaum im Umkreis von zehn Schritten die Gegenstände erkennen lassend; die ganze Natur hatte ein trübseliges Aussehen und die Schildwachen suchten unter den Vorsprüngen des Gesteins, an den Stämmen der Berge und den Erdhängen jeden kleinen Schutz gegen die Unbilden des Wetters.
In der englischen Redoute Nr. 1, welche eine Compagnie des 95. Regiments von Lach-Evan's Division besetzt hielt, war eine Baracke für die Offiziere aufgeschlagen, die, auf einer Seite offen, kaum den strömenden Regen abhielt; indeß die armen Soldaten dem Unwetter ohne allen Schutz als ihre Mäntel und die drei Feuer, die sie auf der Leeseite der Baracke angezündet hatten und mühsam unterhielten, preisgegeben waren. Es fehlte am Nöthigsten für die Überwinterung der englischen Armee und man war notorisch in Besitz von höchstens einem für 10 und 15 Mann berechneten Zelte auf 100 Köpfe.
In der Baracke lagen drei Offiziere in ihre Mäntel oder englische Reisedecken gehüllt, der Eine sogar in einen prächtigen persischen Teppich, der die Zierde eines fashionablen Salons gewesen wäre, und jetzt hier in Schmuz und Regen umher gewälzt wurde. Die Offiziere sahen sehr mißmüthig aus und das Einzige, woran sie sich trösten konnten, waren die türkischen Papiercigarren, denn durch die Vorsorge der englischen Proviant-Commissaire fehlte es an nichts weniger, als an Allem!
»He, Mickey!« rief der Capitain Armstrong, indem er sich halb auf den Armen emporrichtete und nach dem Feuer hin schnüffelte, »es riecht verteufelt gut, ich glaube, Du brennst Kaffee, Schurke, und läßt Deinen Herrn hier ohne Gewissensbisse verschmachten!«
Der Angeredete, ein rothhaariger Irländer, dem selbst die Beschwerden des Wetters und Mangels die angeborene Laune nicht zu verderben vermocht hatten, warf beide Arme in die Luft. »O, Du grundgütige Mutter aller Schmerzen, was sind Seine Gnaden ungerecht gegen den armen Mick! Hab' ich darum diese gesegnete sechspfündige russische Kanonenkugel ganze zwei Meilen weit unter diesem meinem Arme mitgeschleppt, um nun beschuldigt[97] zu werden, ich tränke den schlechten Kaffee, den der Commissair geliefert, und ließe meinen Herrn verdursten? Nein, mein süßes Augenlicht, Mick macht Kaffee für seinen Herrn und dessen Freunde und begnügt sich mit einem Tropfen Whiskey.«
Die Offiziere sprangen wie von einer Feder geschnellt in die Höhe und Capitain Armstrong vor die Baracke, wo er eben noch zeitig genug ankam, um seinen würdigen Diener eine ziemlich umfangreiche Lederflasche nach einem tüchtigen Zug absetzen zu sehen. Der Capitain war mit einem Schritt seiner langen Beine bei ihm und hatte die Flasche dem Verduzten aus der Hand gerissen, dem die Unvorsichtigkeit, die er begangen, klar wurde. – »Höllenhund! Du hast ein Getränk, das besser ist als Wasser, und sagst mir Nichts davon?«
»Ach, Euer Gnaden,« winselte Mickey »ein so vornehmen Gentleman wird einen armen Kerl, wie ich bin, nicht der kleinen Erfrischung berauben wollen. Bei meines Vaters Seele, die Pater O'Donnoghue, der Schurke, noch immer im Fegefeuer brennen läßt, weil ich ihm keine Messen mehr bezahlen wollte, – ich habe mich nur versprochen, es ist schlechter türkischer Branntwein, den die vermaledeiten Schurken von Kameelmist brennen sollen! – Mögen sie dafür ewig schmoren, wo das höllische Feuer am schärfsten brennt!«
Der Capitain hatte jedoch, ungeschreckt von diesem wenig empfehlenden Pathenbriefe, die Flasche an den Mund gesetzt und, einen tüchtigen Schluck gethan. – »Den Teufel auf Deine lügnerische Zunge, Schuft,« sagte er, indem er die Flasche an Lieutenant Cavendish, einen etwas gelb aussehenden, schmächtigen Offizier, weitergab – »es ist guter Rum!«
»Gott verdamm' meine Augen,« rief der Fähnrich O'Malley, ein Landsmann des armen Mick, der mit trübseligen Blicken den Inhalt seiner Flasche sich vermindern sah, »der Kerl muß den Lord Ober-Commissair zum Freunde haben, oder eine ganz besondere Quelle. Woher hast Du den Rum, Mick, mein Jüngelchen?«
»Ich hab' ihn gekauft, Euer Gnaden,« jammerte der Bursche, »ehrlich bezahlt, oder ich will in meinem Leben nicht wieder Betty Flanagans runde Waden ansehen, wenn sie den Rasen von Mulingapatna im Zweitritt stampft. Ein Tatar, wie sie die Juden hier zu Lande nennen, hat mir die Flasche für baare zehn Schilling und sechs Pence verkauft.«[98]
»Das ist billig genug in Betracht der Umstände,« sagte der Capitain, »und Du sollst um Dein Geld nicht kommen. Hier hast Du Deine zehn Schillinge und dafür überläßt Du uns die Flasche, von der Du bereits Deinen redlichen Antheil geschluckt haben wirst. Sollte der Jude oder Tatar sich wieder blicken lassen, so will ich Dir wohlmeinend rathen, ihn festzuhalten und zu mir zu bringen, damit sein Vorrath nicht in andere Hände fällt. Solche Lieferanten muß man sich zu Freunden halten.«
»Wenn Euer Gnaden Nichts dawider haben,« schmunzelte der Ire, »ich habe ihm wohl so einen kleinen Wink gegeben, daß wir seiner bedürfen, aber dem vermaledeiten Juden ist das Wetter zu schlecht gewesen.«
»Er würde auch nicht durch die Posten kommen und mein Befehl galt bloß für das Lager. Jetzt mach' uns den Kaffee, mit dem Zusatz von Rum wird das schlechte Zeug gut thun und Lieutenant Stuart muß gleich von der Ronde zurückkehren.«
»Schickt das Commissariat denn noch immer den fatalen grünen Kaffee?« lispelte Lieutenant Cavendish.
»Möchten die Halunken daran ersticken,« schimpfte der Capitain. »Was denken sie in Alt-England, daß wir nichts Anderes zu thun hätten, als Kaffee zu brennen!«
In der That war der Unwille in der ganzen britischen Armee neben den hundert andern Ursachen auch darüber allgemein, daß als Proviant der schlechteste grüne Kaffee geliefert wurde. Die Soldaten hatten endlich die Erfindung gemacht, ihn in ihren Feldkesseln zu rösten und in Ermangelung von Kaffeemühlen mit Kanonenkugeln auf Steinen zu zermalmen, so daß die russischen Kugeln zu diesem Zweck sogar ein gesuchter Artikel waren.
»O'Malley,« sagte der Capitain, ehe sie wieder unter ihrem Zelt sich einrichteten, »gehen Sie gefälligst und wecken Sie Lieutenant Lundgreen und fragen Sie ihn, ob er an unserer Schlemmerei Theil nehmen will. Der arme Bursche hält hier seit fünf Tagen aus und wird selten genug was Warmes gehabt haben.«
Gleich darauf gesellte sich der Artillerie-Offizier, der die zwei Geschütze, mit denen die Redoute armirt war, kommandirte, zu ihnen und Alle harrten des Kaffee's, den Mickey jetzt in dem Kessel über dem Feuer hatte. Der Regen begann aufzuhören, aber der dichte dampfende Nebel aus dem feuchten Boden verstärkte die Finsterniß.[99]
»Es wundert mich, Kamerad,« meinte der Capitain, »daß die vorgeschobene Schanze nur mit Ihren zwei Sechspfündern versehen ist, da sie doch eigentlich die Hauptposition an der Straße bildet. Ohnehin scheint sie mir nicht besonders zweckmäßig eingerichtet.«
»Ein Kind kann das sehen,« brummte der alte Artillerie-Lieutenant, »und sie ist auch von Kindern und Narren angelegt. Erst auf dringendes Verlangen Lach-Evan's bequemte man sich dazu und was denken Sie, als ich hierher kam, wie die Coldstreams, welche die Wache hatten, die Schanze erbaut? Ich will verdammt sein, wenn so ein Muttersöhnchen aus einer Lordsfamilie, dem das Patent gekauft worden, ohne daß er einen rechten Winkel zu nehmen versteht, die Schießscharten nicht mit der breiten Seite nach Innen eingeschnitten hatte!«3
Die Offiziere lachten. – »Wissen Sie nicht, wie dieser moderne Vauban hieß?«
»Lieutenant Elliot, ich glaube ein Vetter oder Neffe des Herzogs von Norfolk!«
»Das kommt von dem System unserer Militairverwaltung. Wär' die Nation und jeder Einzelne nicht an und für sich so brav, die schmachvolle Einrichtung müßte uns längst zur schlechtesten Armee Europa's degradirt haben! – Ich meine das im Allgemeinen,« fuhr der Capitain zu seinem ersten Lieutenant gewendet fort, der die Wendung des Gesprächs mit offenbarer Verlegenheit angehört hatte. »Was können Sie für die Einrichtungen Ihres Vaterlandes, und überdies haben wir bis auf den braven Stuart, der es am Cap unter mir erwarb, Alle unsere ersten Patente bezahlen müssen!«
»Wenn ich nicht irre, Kamerad,« sagte der Artillerist zu Lieutenant Cavendish, »sind Sie erst vor Kurzem zu unserer Armee gestoßen?«
»Ich diente in Indien.«
»Ost oder West?«
»In Bombay, Herr Kamerad! Doch befand ich mich nur zwei Jahr im Regiment.«
»So konnten Sie das Klima nicht ertragen?«
»O,« sagte der Lieutenant, »daran hatte ich mich bereits so[100] ziemlich gewöhnt. Es ist gerade nicht ganz schlecht leben in Indien für uns Engländer.«
»Hören Sie, Cavendish,« sagte der Capitain, »Sie sind kein übler Bursche, wenn Ihnen auch mitunter noch die Manieren des Hofdienstes etwas ankleben. Wir haben Sie nie gefragt darum, wie es kam, daß Sie Indien verließen und das Patent in unserm Regiment eintauschten, wodurch Stuart um die erste Aussicht auf die Compagnie gekommen ist. Ich sollte meinen, Sie hätten warten können, bis sich eine Gelegenheit bei der Garde bot. Kommen Sie, wir sind unter uns, erzählen Sie uns die Gründe, wenn es angeht, und ich glaube, Ihr Vertrauen wird gerade Ihre Stellung bei uns nicht verschlechtern.«
Der junge Offizier zögerte einige Augenblicke, dann sagte er: »Wenn Sie es wünschen, bin ich bereit, obschon das Geständniß Ihnen keine besondere Meinung von mir beibringen wird. – Ich – ich fürchtete mich in Indien!«
»Was zum Henker! – ich hoffe, doch nur vor der Cholera oder den Klapperschlangen? Das ist erlaubt.«
»Nein, Sir – ich fürchtete mich – vor einem Braminen.«
»Das ist seltsam. Ich habe Sie bei dem Angriff auf Kamiesch tapfer im Feuer stehen sehen und kann daher nicht glauben, daß es Ihnen an Muth fehlt. Es müssen also ungewöhnliche Ursachen im Spiel sein. Sie machen mich neugierig, bitte, wickeln Sie uns Ihr Gespinnst ab, wie unsere Freunde auf den Schiffen zu sagen pflegen; bei dem Becher Kaffee, den Mickey eben bringt, wird es uns die Wache verkürzen helfen.«
Der Irländer reichte die blechernen Trinkschaalen mit dem Kaffee umher, in den die Offiziere zu seinem Ärger den Rum schütteten.
»Sie wissen,« erzählte Cavendish, »daß der Herzog von Norfolk mein Oheim ist und ich Page am Hofe war. Theils um mich für einige sogenannte schlechte Streiche zu bestrafen, theils damit ich dem Lord, meinem Bruder, und meinen werthen Verwandten nicht zu sehr auf der Tasche liegen, sondern eine möglichst rasche Carriere im Diesseits oder Jenseits machen möge, gab man mir vor zwei Jahren ein Lieutenantspatent bei unserer Armee am Ganges – der Teufel hole sein Gedächtniß!«
»Sie dienten Alle, so viel ich weiß, nie in Ostindien,« fuhr er fort, die Asche von seiner Cigarre klopfend, »es ist ein seltsames[101] Land und namentlich die malabarische Küste, die noch lange nicht so europäisirt ist, wie Calcutta. Ich stand mit meiner Compagnie in der Nähe von Bombay in einem der kleinen Hafenorte, und da ich ein Neuling war, interessirten mich tausend Dinge, an denen meine Kameraden, die länger im Lande waren, gleichgültig vorüber gingen. Stellen Sie sich einige Schritte von dem flachen sandigen Ufer eine frische grüne Ebene vor, die von Kanälen bewässert wird.« Diese, mit eleganten phantastischen Holzbrücken überbaut und mit unzähligen Booten bedeckt, verlieren sich in die Tiefe der Wälder. Überall an ihren Ufern liegen alle Arten von Wohnungen zerstreut: die buntbemalten, mit kunstreichem Täfelwerk bekleideten Magazine, die die schönsten Arbeiten der indischen Industrie vor den Blicken entfalten; – ungeheure Lagerhäuser, die in weitem Umkreis die Luft mit dem betäubenden durchdringenden Duft der Gewürze erfüllen; – daneben die elendesten Hütten von Palmblättern, von dem üppigen Pflanzenwuchs beinahe verdeckt. Keine Plätze, keine Straßen, nur eine Menge Fußpfade, die sich durchkreuzen oder in einem Cocuswald verlieren. Rings um den Hafen, wo den ganzen Sommer über eine große Menge arabischer Fahrzeuge liegt, die von Mascat oder Dindad kommen, bewegen sich ungeheure Elephanten, welche die Balken herbeischleppen, die jene einladen wollen. Braune, gelbe, schwarze Gesichter, von dem Olivengrün der Bronze bis zur feinen Hautfarbe des Chinesen, ein wirres Geschnatter von hundert Dialecten und Sprachen; die schlanke Gestalt des Hindu, der tückisch-trotzige Blick des Malayen; die bewegliche Figur des Chinesen neben dem ernsten Araber; der Parse, welcher das Feuer anbetet, neben dem Moslem von dem Ufer des rothen Meeres und dem geduldigen Sohne des Lotos – Bramine und Paria, der reiche Kaufmann zwischen der Schaar der Bettler und Gichtbrüchigen, die sich auf den Händen fortschleppen! Armenier von Trapezunt, Juden von Aleppo und Bassora, Perser und Kurden; hundert bunte schillernde Farben, Gold und Seide, – die Gazellenaugen und schlanken Glieder der Tänzerinnen neben Aussätzigen, deren Haut mit weißen Flecken bedeckt ist, und anderen Elenden, die von Krankheiten geplagt werden, für welche unsere Sprache keinen Namen hat: das ist Indien!
»Wir wohnten in einem Palast von Holz, einer alten Residenz der Rajah's, hatten aber bald herzliche Langeweile und sehnten uns nach der Promenade von Bombay zurück, wo allabendlich[102] die schöne Welt Europa's und Asien's sich am Klang der britischen Militairmusik ergötzt, denn Bombay ist der Stapelplatz des Orients. So machten wir denn täglich, um die Zeit todt zu schlagen, ziemlich weite Ausflüge in die Umgegend, bald allein, bald in Gesellschaften, denn die Jagd gewährte in diesem Theil des Landes wenig Interesse.«
»Auf einem dieser Ritte, den ich mit dem ältesten Lieutenant unsers Bataillons machte, kamen wir in die Nähe einer indischen Pagode am Meeresstrande und fanden unter einem großen Feigenbaume mit hängenden Zweigen, von dessen Wipfel ein ganzer Wald faseriger Wurzeln auf die Erde herab hing, die Hütte eines Braminen. Der Mann hieß Nikalanta, wie ich später erfuhr, und hatte im Dienst seines Götzenbildes seinen Unterhalt gefunden, bis zu seinem Unglück sich Missionaire in seiner Nähe festsetzten und die Gläubigen von dem Bilde mit dem Elephantenkopf fortlockten. Seitdem war er Schreiber bei einem reichen Babon (Banquier) geworden, der die Europäer haßte. Als wir um den Baum kamen, sahen wir den alten Mann mit seiner Tochter, einem wunderschönen Hindumädchen, vor der Thür sitzen. Unser Anstarren verscheuchte das Mädchen in das Innere des Hauses, der Bramine aber blieb unbeweglich sitzen, mit den Augen in die Luft starrend, obschon ich ihn mehrmals anrief. – ›Der alte Narr,‹ sagte Staunton, ›befindet sich in dem Zustand religiöser Verzückung, eine Kanone vor seinen Ohren würde ihn nicht wecken!‹ – ›Das wäre! ich will ihn schon zum Antworten bringen!‹ – und ich klatschte mit der Peitsche dicht vor seinem Gesicht, aber er rührte sich nicht. – ›Wir haben die Eitelkeit des scheinheiligen Hindu herausgefordert,‹ meinte mein Begleiter, ›er thut, als ob er uns nicht hörte, aber ich kenne dennoch ein Mittel, woran seine Geduld scheitert. Soll ich es anwenden?‹ – ›Versteht sich!‹ – Er sprang vom Pferde, ergriff die Pantoffeln, die der Bramine in die Nähe der Thür gestellt und legte sie mit dem indischen Gruß: ›Mögen Deine Wege leicht und angenehm sein!‹ auf seinen Kopf gerade über der dreifachen rothen und blauen Linie, die seine Stirn schmückte. Ein wilder, herzzerreißender Schrei machte mich in diesem Augenblick erbeben, es war das junge Mädchen, welches jammernd hinzustürzte, aber es war zu spät, – der leichtsinnige Streich, von dem ich damals noch nicht wußte, was er bedeutete, war geschehen, und Staunton bereits wieder zu Pferde. Der Alte rührte sich[103] noch immer nicht, nur sein schwarzes Auge ruhte mit einem furchtbaren Ausdruck auf uns, während auf das Geschrei des Mädchens mehrere Hindu's, die in der Nähe beschäftigt waren, herbeieilten und als sie den Braminen mit seinem seltsamen Kopfputz erblickten, gleichfalls ein Wehklagen erhoben. Auf ein Zeichen Staunton's gaben wir unsern Pferden die Sporen und waren bald weit entfernt von der seltsamen Scene, deren Erklärung ich vergeblich von meinem Kameraden verlangte. Er schien vielmehr ärgerlich über sich selbst und sagte mir endlich, daß ich ihn zu einer thörichten Handlung verleitet hätte, die uns Beiden Gefahr bringen könne.«
»Aber was sollten die eigenen Pantoffeln denn dem alten Indier für Schaden thun?« warf O'Malley ein.
»Dieselbe Frage that ich am Abend, den wir bei einem reichen Kaufmann zubrachten, ohne jedoch weiter die Namen zu nennen, und erfuhr, daß durch die Berührung eines unreinen Gegenstandes jeder Bramine der Rechte seiner geheiligten Kaste verloren geht und zu einer niedern degradirt wird.« – »Wer auch dem Übermuth verübt,« sagte mir der erfahrene Mann, »er kann ihm theuer zu stehen kommen. Vielleicht überlebt der Bramine seine Schande nicht, wenn er aber lebt, wird er leben, um sich furchtbar zu rächen.« –
»Ich gestehe Ihnen, mir wurde bei dieser Erklärung nicht ganz wohl zu Muthe und ich begriff jetzt, warum Staunton ärgerlich auf sich und mich war und in der nächsten Zeit unser Quartier möglichst selten nach der Dämmerung verließ. Indeß es erfolgte Nichts und wir vergaßen die Geschichte um so rascher, als wir bald darauf nach Bombay zurückbeordert wurden. Der Winter war uns dort äußerst angenehm verflossen und wir bereiteten uns Beide, einen Urlaub, den wir erhalten, zu einer Reise nach Bengalen zu benutzen, um an den großen Tiger- und Elephanten-Jagden Theil zu nehmen, als am Tage vor unserer Abreise, an welchem wir mit einigen Freunden zusammen speisten, gegen das Ende der Mahlzeit ein Kuli – ein Hindu-Commissionair – eintrat und ein sauber eingeschlagenes Packet brachte, das an Staunton, der unterdeß zum Capitain vorgerückt war, und mich selbst adressirt sich ergab.« – »Von wem?« fragte ich. – »Nouloum mahin Sahib,« (Ich weiß es nicht, Herr,) antwortete der Kuli und verschwand. Staunton öffnete das Packet an einer Seite und ich sah, wie er beim Erblicken des Inhalts erblaßte. Sein Wink[104] bedeutete mich, keine Frage zu thun, als wir aber allein waren, gab er mir das Packet mit den Worten: »Ich wußte es wohl, der thörichte Scherz würde seine Folgen haben!« – In dem Packet waren die alten Pantoffeln des Braminen, die Staunton diesem auf meinen Wunsch auf die Stirn gelegt.
»Wir schifften uns am andern Morgen in einem Boot ein, das uns von Bombay nach dem Festland bringen sollte, wo wir die vorausgesandten Pferde zur Weiterreise treffen wollten. In dem Augenblick, als wir das Ufer verlassen wollten, drängte sich einer jener indischen Heiligen zu uns, die in fanatischem Wahnsinn sich selbst oft die gräßlichsten Martern bereiten. Der Sanniassy war ein alter Mann, sein Haar in Unordnung, seine Nägel lang und gekrümmt, wie die Krallen des Greif, der Körper beinahe nackt und ganz mit Asche überschmiert. Auf dem Rücken trug er ein kleines Kupfergefäß, unter dem Arm die Antilopenhaut, auf die er sich zum Beten setzt und in der Hand den aus drei Zweigen schlangenförmig gewundenen Stock. Als er uns nahe war, blitzten seine Augen von wildem Haß, während er mit einem seltsam ergreifenden Tone uns die Abschiedsworte zurief: ›Geht, wohin Eure Wünsche Euch rufen und mögen Eure Wege leicht und angenehm sein!‹ – Ich sah, daß er die Münze, die Staunton ihm zuwarf, im Staube liegen ließ, und als das Boot durch die Wellen schob und der Fakir nur noch wie ein dunkler Punkt auf dem weißen Sande des Ufers zu erkennen war, hörte ich die Laskaren den Namen unter sich flüstern: Nikalanta!«
Der Erzählende erfrischte sich durch einen Trunk aus seinem Becher und fuhr dann fort: »Zwei Mal noch fand ich die unheimliche Erscheinung auf unserm Wege, wenigstens glaubte ich sie zu erkennen, das eine Mal in einem alten Schwärmer, der auf einem indischen Markt, auf dem wir verweilten, sich mit dem eignen Fleisch an der Spitze eines Eisenhakens aufgehangen, an dem er von einer wagerecht auf dem Gipfel einer Säule sich drehenden Stange in der Luft schwebte; das andere Mal in der Gestalt eines Bettlers, als wir mit Abscheu in einem indischen Dorfe die Folterqualen betrachteten, welche die gierigen Steuereinnehmer der armen Bevölkerung bereitet hatten.«
Der Capitain nahm die Cigarre von den Lippen. »Sagen Sie ehrlich, Cavendish, ist das Geschwätz der Journale wahr?«
»Hören Sie, was wir mit eigenen Augen erblickten. – Das[105] Dorf war zwei Jahre nach einander hart durch Wolkenbrüche und andere Plagen Indiens, wie ich mir von einem alten Manne erzählen ließ, mitgenommen worden und hatte nur sehr klägliche Reisernten gemacht, so daß die Bevölkerung die Steuern der Regierung seit einem Jahr schuldig war. Gerade am Tage vor unserer Ankunft waren zwei Steuereinnehmer mit einem Kommando Seapoy's eingerückt, um die rückständigen Steuern zu erpressen. Und in der That – man erpreßte sie. – Wir fanden die Bevölkerung, Männer, Weiber, Kinder und Greise, auf dem Platz vor der Pagode jammernd und wehklagend. An vielen der Männer, ja selbst an Greisen war das nichtswürdige Anundal angewendet, eine Folterart, die darin besteht, daß den Unglücklichen der Kopf an die Füße, oder ein Bein an den Kopf gebunden wird, kurz daß sie in die verrenkteste Stellung gebracht werden, in der sie unter bittern Qualen in der glühenden Sonnenhitze tagelang zubringen müssen. Andere waren an den Ohren, an den Haaren oder am Bart aufgehängt –«
»Unmöglich – Sie übertreiben!«
»Auf meine Ehre – ich schildere Gesehenes und weiß, daß dies in diesem Augenblicke noch ein ganz gewöhnlicher Vorgang ist. Ja, was ich Ihnen bisher gesagt, ist nur Spielwerk gegen die Martern, welche im Namen und unterm Schutz – ich will zu ihrer Ehre nicht sagen, mit Kenntniß und Zustimmung – der Regierung des freien Großbritanniens verübt werden. Nicht selten geschieht es, daß man dem armen Opfer eine Schlange oder irgend ein ekelerregendes Insekt in den empfindlichsten Theil des Körpers steckt und den Mann so lange martern läßt, bis er zahlt. Eine andere häufig angewendete Martermethode besteht darin, daß man den armen Hindu's Pfeffer in die Augen, in die Nase oder – in die Schaamtheile bringt und ihnen die entsetzlichsten Schmerzen verursacht. Die Folterart, die wir neben dem Anundal hier angewendet sahen, war das abscheuliche Kitten.«
»Bei Sanct Patrik,« sagte Fähnrich O'Malley, »die Leute haben ja ein ganzes Wörterbuch von Kunstausdrücken. Bitte, worin besteht das Kitten?«
»Es ähnelt der früheren Tortur in Europa und besteht aus einer hölzernen Zange, in welcher die Hände, Füße und bei den Frauen auch die Brüste, Ohren und andere empfindliche Körpertheile so lange gekneipt werden, bis der Gefolterte das Bewußtsein[106] oder auch den Gebrauch des gemarterten Organs verloren hat. Oder die Henker knackten die Finger des Opfers, bis der Schmerz unerträglich wurde –«
»Hören Sie auf, Kamerad,« sagte der alte Artillerist mit Ekel, »und erzählen Sie lieber von Ihren eigenen Abenteuern.«
Die Fortsetzung wurde jedoch durch den Anruf der Schildwache am Eingang der Redoute unterbrochen und dann hörte man die Stimme des von der Ronde zurückkehrenden Lieutenant Stuart, die mit fröhlichem Ton nach dem Capitain rief.
Der Herankommende, ein Schotte von Geburt, war eine hohe schlanke Gestalt, etwa 30 Jahre alt, mit sonnverbranntem hübschem Gesicht. – »Der Teufel soll mich holen,« sagte er lachend, indem er sich wie ein nasser Pudel schüttelte, daß von der Feuchtigkeit des Mantels die Flamme hoch aufspritzte, »wenn ich in diesem Augenblick nicht der willkommenste Lieutenant im ganzen Lager bin. Aufgeschaut, meine Herren – Lord Raglan sollte mich zum General-Proviantmeister machen, denn kein anderer als Ronald Stuart von Kinrose würde es in dieser verwünschten Nacht fertig gebracht haben, zwischen Schlamm und Regen Proviant für eine Generalstafel aufzutischen!«
»Was, zum Henker, meinst Du, Ronald, mein Junge?« fragte der Capitain, »und was sind das für ein Paar Schurken da hinter Dir? Hast Du Gefangene gemacht?«
»So wahr Pater O'Donnoghue den hübschen Dirnen lieber Beichte hört als alten Weibern,« mischte sich Mickey ungerufen in's Gespräch, »ich glaube, 'r Gnaden, das da ist der kosackische Jude, unser Rumlieferant, von dem ich 'r Gnaden gesagt habe.«
Der Fremde wurde herbeigewinkt. Es war seiner Kleidung und seinem Aussehen nach ein tatarischer Bewohner der Gegend, wie er in einigen radebrechten englischen Worten erzählte, aus dem Dorfe Kadikoi. Er hatte einen Knaben, seinen Bruder, bei sich und beide trugen in Körben allerlei Mundvorrath, mit dem sie nach ihrer Angabe Handel trieben. Das Wetter hatte den Leuten offenbar hart zugesetzt, und Lieutenant Stuart erzählte, daß er beim Rückweg im Nebel auf sie in der Nähe der Redoute gestoßen und aus ihrem Kauderwälsch vernommen hätte, daß sie dahin wollten.
Es war zwar sehr gewöhnlich, daß sich die tatarischen Einwohner im Lager umhertrieben, dennoch war Capitain Armstrong[107] unzufrieden, daß sein Offizier die beiden Fremden in die Verschanzung geführt. Indeß die Gelegenheit, in diesem Wetter ungehoffte Erfrischungen erhalten zu können, überwog alle Bedenklichkeiten, und der Capitain gestattete, daß die Tataren einige Flaschen ziemlich guten einheimischen Branntweins unter Mickey's Vermittelung an die Soldaten verkauften, während die Offiziere noch eine Flasche Rum und ein Hammelviertel von ihnen erhandelten.
Der Irländer erhielt den Auftrag, alsbald so gut es die Umstände erlaubten, Fleischschnitten zu braten, und Fähnrich O'Mailley bereitete einen warmen Grogk.
»Und nun, Kamerad,« sagte Lieutenant Lundgreen, »erzählen Sie uns Ihre Geschichte zu Ende, ehe die Reihe der Nachtrunde Sie trifft.«
»Ich habe bereits erwähnt,« fuhr der Erzähler fort, »daß wir auf dem Wege zu den Elephanten- und Tigerjagden waren, die im Innern Bengalens um diese Zeit stattfanden. Eine eigene Scheu hatte mich abgehalten, Staunton von dem Wiedererscheinen des Braminen zu sagen, theils weil ich die unangenehme Erinnerung nicht wieder zur Sprache bringen wollte und uns Mannes genug wußte gegen alle Angriffe des alten Schwärmers, theils auch weil ich glaubte, ich könne mich in der Person geirrt haben. Überdies fesselte die Aufregung der wechselnden Scenen und Umgebungen, in die wir jetzt gekommen, alles Interesse.«
»Wir waren in der Nähe von Hyderabad und mit einer Gesellschaft Offiziere und Gentlemen von Madras zusammengetroffen, mit der wir vereint in die große Dschungelwüste eindrangen. Acht Tage hatten wir an ihren Gränzen schon mit der Elephantenjagd zugebracht, ohne doch das gefürchtete Wild Bengalens, den Königstiger, zu Gesicht zu bekommen. Mehrere Treiben, zu denen die Bauern der nächsten Dorfschaften aufgeboten worden, hatten in dem District, den wir betreten und der von einem Tiger verheert werden sollte, zu keinem Resultat geführt. Das Lager wurde nicht aufgespürt und wir bekamen selbst den schlauen Feind nicht einmal zu Gesicht, obschon fast an jedem Morgen neue Räubereien erzählt wurden, die er im Schatten der Nacht verübt. Wir hatten uns deshalb auf eine ziemliche Strecke hin vertheilt und lagen Nacht um Nacht auf dem Anstand in Hütten von Bambusstäben, die man uns zwischen den Ästen der Bäume erbaut hatte. Es war eine ziemlich hohe Wette zwischen den Mitgliedern der Jagdgesellschaft[108] geschlossen worden, wer den Tiger erlegen würde, und Staunton setzte eine besondere Ehre darin, den Sieg für unser Regiment zu gewinnen.«
»Eines Morgens, nachdem ich der Reihefolge nach vergeblich auf dem Anstand zugebracht und mich an den Wundern der Tropennacht entschädigt hatte, kam Staunton hastig zu mir und weckte mich aus dem Schlaf, in dem ich im Schatten einer riesigen Palme lag.« – »Die Wette ist unser, Cavendisch,« sagte er aufgeregt, »wenn Sie den Muth haben, ein Wagestück mit mir zu unternehmen.« Ein junger Indier hat sich erboten, uns für eine gewisse Summe das Lager des Tigers zu verrathen, das er zufällig entdeckt. Er schlägt vor, uns in dieser Nacht dahin zu führen, währen der Tiger auf Beute umherstreicht, und uns in der Nähe ein Versteck zu zeigen, aus dem wir ihn bei der Rückkehr in der Morgendämmerung erlegen können.
»So verwegen der Versuch auch war, unsere Jagdlust war erregt, dazu unser Stolz und ich erklärte mich, wiewohl mich eine unheimliche Ahnung beschlich, die ich als ein Gefühl von Furcht unterdrückte, zu dem Abenteuer bereit. Wir trafen während des Tages so heimlich unsere Vorbereitungen, daß Keiner von unsern Jagdgefährten, ja nicht einmal unsere Diener das Vorhaben ahnten, und statt beim Anbruch der Nacht den Lauerposten in der Bambushütte einzunehmen, bestiegen wir unsere Pferde und ritten, mit unsern Doppelbüchsen bewaffnet, nach der Stelle am Rande des Dschungelwaldes, an der uns der Indier erwarten wollte. Der junge Mann, fast halb ein Knabe noch und mit weichen schönen Gesichtszügen, die mir im Sternenlicht selbst nicht ganz unbekannt schienen, harrte unser und lief alsbald im Trabe vor unsern Pferden her, so daß wir, je weiter wir in das Dickicht kamen, ihm kaum mit gleicher Schnelligkeit zu folgen vermochten.«
»Wir ritten sichtlich auf einem breiten Elephantenpfade dahin, den die riesigen Thiere auf ihrem regelmäßigen Wechsel durch Wald und Gestrüpp gebrochen. Es war eine wundervolle Nacht, der Sternenhimmel funkelte über uns wie ein Gewölbe von goldgesprenkeltem durchsichtigem Glas, Myriaden grün- und goldleuchtender Feuerfliegen bedeckten die Büsche und die Blätter und füllten die Luft. Das Geschrei der Rohrdommel und das Quaken der riesigen Ochsenfrösche schallte aus den Sümpfen, der Duft der Magnolien und der narkotischen Pflanzen, die bei Nacht ihre Kelche[109] öffnen, erfüllte die Luft. Wenn wir uns einem jener Sumpffelder näherten, in denen die Eingebornen ihren Reis bauen, erhoben sich große Schaaren weißer Reiher mit eintönigem Geschrei in die Nachtluft.«
»Plötzlich erzitterten unsere Pferde und blieben wie angewurzelt stehen. Ein leiser Pfiff scholl von vorn her zu uns, und unser jugendlicher Führer faßte die Zügel der Pferde und drängte sich zwischen sie. Ein gurgelnder stöhnender Laut übertönte all' das seltsame mannichfaltige Geräusch einer indischen Nacht und dann folgte ein heulendes Schnauben, das den Wald ringsum zu erschüttern schien und vor dem das Gekrächze der Hyäne, der klagende Ton des Schakals, die uns im Walde begleitet, verstummten. Der Knabe, unser Führer, drängte sich an uns und flüsterte: ›Der Tiger! es ist der Tiger!‹ – Im Nu waren unsere Büchsen von der Schulter und wir schauten nach der Seite, von welcher der Laut gekommen – aber nur einen Moment lang sahen wir zwei grüne rollende Feuerpunkte etwa 50 Schritt von uns entfernt funkeln, dann schoß es wie ein dunkler Streif über die Lichtung und war verschwunden. – ›Vischnu beschützt uns!‹ flüsterte der Indier, ›und hat den großen Würger geblendet, daß er seinen Weg verfolgt.‹ Eilen wir uns, der Pfad ist jetzt sicher!«
»Es war mir während des Rittes schon wiederholt vorgekommen, als sähe ich hin und wieder durch die Büsche eine graue Gestalt vor uns hingleiten, nach deren Gang sich unser Führer richtete. Doch hielt ich die Erscheinung immer wieder für ein Thier, oder einen Schatten und merkte nicht weiter darauf. Jetzt, nachdem wir dem Tiger glücklich entgangen, sah ich sie wieder mehrmals ganz deutlich, und als wir nach einem halbstündigen Ritt auf einen freien Platz gelangten, stand sie an ein Felsstück gelehnt vor uns. Als wir näher kamen, zeigte es sich, daß es ein Hindu war, tief in sein weißes Lenden- und Schultertuch gegen die Nebel der Nacht eingehüllt.«
»Wir befanden uns hier auf einem ziemlich hohen und freien Felsplateau, an dessen Fuß wir eine große sumpfige und morastige Dschungel sich ausdehnen und in dem giftigen Broden, der aus dem Boden emporstieg, verschwinden sahen. Der junge Hindu erklärte uns, daß unsere Pferde hier bleiben müßten, die er in Obacht nehmen werde, und daß wir nur zu Fuß unter Führung seines Vaters unsern Weg zu dem Lager des Tigers fortsetzen könnten.[110] Nachdem wir uns einmal so weit gewagt, wäre es Feigheit gewesen, zu zögern, und wir nahmen daher unsere Waffen, empfahlen dem Knaben unsere Pferde, die auf dem hohen und freien Felsplateau sicher waren vor dem Angriff der Raubthiere, und befahlen dem alten Indier, voran zu gehen.«
»Seine gebückte hagere Gestalt, in das weiße Tuch gehüllt, glitt im Sternenlicht vor uns hin auf einem durch Binsen und Dornen vielfach gewundenen Pfad, der unsern Augen nicht einmal erkennbar war und der mitten durch den Sumpf in hundert Krümmungen enge sich wand, so daß wir nur Einer nach dem Andern ihn passiren konnten, wobei wir oft auf den Zuruf des Indiers genöthigt waren, von einer festen Stelle zur andern über den trügerischen Grund zu springen. Ich kann nicht sagen, was Staunton dachte, ich aber gestehe offenherzig, daß ich bereits sehr bereute, mich auf das Abenteuer eingelassen zu haben.«
»Ich kann mir die Lage lebhaft denken, Kamerad,« sagte Lieutenant Stuart, während der Erzähler eine Pause machte und dem Grogk zusprach, »und hätte kaum geglaubt, daß Sie sich schon in so ernsten Gefahren befunden haben. Im Kaffernkrieg unter Sir George Cathcart ist es mehrfach passirt, daß wir die höllischen Dschungeln der Erogi-Gebirge bei Nacht durchziehen mußten, von wilden Feinden auf beiden Seiten bedroht, und bei der Distel von Schottland! die Hassagayen der Kaffern waren nicht minder zu fürchten als die Klauen Ihrer Tiger!«
»Es scheint, jede unserer Kolonieen hat ihre Annehmlichkeiten,« sagte der Offizier. »Wir waren kaum zehn Minuten, die Büchse im linken Arm, durch dies furchtbare Dickicht vorgedrungen, als der Mond aufging und seine Strahlen die Gegend ringsum erhellten. Vor uns aus dem Grau der Nebel stiegen riesige seltsam geformte Massen empor, bald schlanken Säulen, bald riesigen Kuppeln und Felswänden gleich. Wir riefen unserm Führer zu halten und uns zu sagen, wo wir uns befänden, doch er sprang, ohne Antwort zu geben, von Stelle zu Stelle immer weiter und es blieb uns Nichts übrig, als ihm zu folgen, bis wir endlich athemlos auf festem Grund und in der Gegend jener phantastischen riesigen Gebilde anlangten, die wir jetzt als die Ruinen Jahrtausende alter indischer Tempel und Bauwerke erkannten. Wir befanden uns in den sagenhaften unzugänglichen Ruinen von Bidjeagur, die, wie ich[111] wußte, etwa acht Meilen entfernt von dem Dorfe Anagundy liegen mußten.«
»Der Hindu, unser Führer, schien in dieser Trümmerwelt, aus der unser Nahen mehr als ein Mal den Schakal und die Hyäne aufstörte und riesige Vampyre durch die Nachtluft scheuchte, wohlbekannt, denn er führte uns, noch immer wortkarg auf unsere Fragen, ohne zu zaudern, durch diese modernden Tempel und Paläste bis zu dem Eingang einer halb verfallenen, von riesigen Marmorwänden umgebenen Pagode, an deren Säulen und Mauern wir im Mondlicht hundertfach wiederholt die Verwandlung des Götzen Vischnu erkennen konnten. – ›Der Tiger hat da darinnen sein Lager,‹ sagte er leise, als fürchtete er selbst die Schauer der Umgebung, ›eine Stunde vor Sonnenaufgang kehrt er von seinem Raub zurück. Ihr werdet am besten thun, Saib's, zwischen diesen Steintrümmern Euch zu verbergen und ihn zu belauern.‹ – Eine kurze Berathung zwischen uns Beiden ließ uns denselben Entschluß fassen. – ›Und Du, Sudners,‹ denn zu dieser Klasse glaubten wir, daß der Führer gehöre, ›was willst Du thun?‹ fragte Staunton. – ›Ich bin ein Ausgestoßener, Saib, ein Paria,‹ sagte der Mann. ›Bei den vier Köpfen dessen, den ich nicht nennen darf, mein Leben gehört Euch!‹ – Wir beschlossen, den Ort näher zu untersuchen und legten unsere Büchsen und Schießtaschen, die uns am Klettern hinderten, auf die nächsten Quadern, sie unter der Obhut des Hindu's lassend, worauf wir aus unserm Jagdvorrath ein Windlicht anzündeten, über die Trümmer stiegen und in das Innere des Tempels eindrangen. Der Schein der Fackel scheuchte auf's Neue einige Fledermäuse auf, sonst jedoch schien das Gewölbe frei von allem Gethier, was dafür sprach, daß hier das Lager des Königstigers sein mußte. Wir erhielten im nächsten Augenblick auch die Gewißheit durch eine Menge von Knochen, die theils glatt und gebleicht, theils noch mit Fleischresten rings umher zerstreut lagen. In diesem Augenblick hörten wir aus einem Winkel ein Miauen und Winseln, und als wir den Schein unsers Lichtes dahin wandten, sahen wir etwas sich regen und bewegen, wie zwei kleine unbehilfliche Thiere. Drei Schritte brachten uns nahe heran – es war das Lager des Tigers und darin lagen zwei kaum vier Wochen alte junge Tigerkatzen!«
»Da waren Sie ja doppelt glücklich bei Ihrer Jagd,« sagte der Fähnrich.[112]
»Den Teufel auch! Wie ein Blitz fuhr der Gedanke durch unsere Seelen, daß wir nicht in dem Lager eines Tigers, sondern einer Tigerin uns befanden und daher wahrscheinlich zwei furchtbare Feinde zu erwarten hatten. Staunton gab zuerst diesem Gefühl Worte.« – »Das geht selbst über britische Nerven, Cavendish,« sagte er. »Ich denke, wir nehmen die jungen Katzen hier als Beweis unsers Abenteuers, erreichen unsere Pferde und attakiren morgen bei Tage mit der ganzen Jagdgesellschaft dies Nest. Ein Tigerpaar für zwei Mann liegt außer unserer Wette.«
»Damit hatte er eine der Katzen am Hals gepackt und schnitt ihr die Kehle durch. Ich machte es mit der zweiten eben so und wir kletterten dann hastig über die Steintrümmer des Ausgangs zurück.
Der Hindu war verschwunden!
Im ersten Augenblick, da unsere Gewehre und Taschen auf den Steinen lagen, glaubten wir, er habe seinen Posten bloß zufällig verlassen und befinde sich in der Nähe, und wir riefen nach ihm, um ihm die drohende Gefahr und unsern Beschluß mitzutheilen. Unser Ruf weckte das Echo der Ruinen, ohne den Führer herbeizubringen. – ›Wo zum Teufel,‹ sagte Staunton, ›muß der Schurke stecken. Er kann unmöglich aus Furcht davongelaufen sein, denn seine Angabe, daß die Tiger erst mit dem Morgengrauen zurückehren, ist, wie ich aus Erfahrung weiß, richtig. Ich schlage dem Schuft das gelbe Fell zu Mus, daß er uns hier unnütz aufhält.‹ – Ein wildes Hohnlachen antwortete diesem Ausbruch der Besorgniß und Ungeduld; dann sahen wir auf der Höhe der Tempelruine eine menschliche Gestalt wie durch Zauberei erscheinen, am Nachthimmel sich abmalend, und wie aus den Wolken klang eine unheimliche höhnende Stimme mit dem Ruf:
›Zwei Saib's – zwei Tiger! – Möge Euer Weg leicht und angenehm sein!‹
Im Augenblick war mir das Geschehene klar – der Führer war Nikalanta, der entweihte Bramine, und wir unwiderbringlich die Opfer seiner Rache. Der Gedanke hatte kaum Zeit gehabt, mir durch das Gehirn zu fahren, als auch schon die Büchse an meiner Wange lag, gegen den Verräther erhoben, und mein Finger den Drücker berührte.
Das Zündhütchen sprühte, ohne daß das Gewehr sich entlud. Ein neues Hohngelächter antwortete meinem Versuch.[113]
Bestürzt schaute Staunton mich an und dann auf die Stelle, von der die Gestalt unseres unversöhnlichen Feindes jetzt verschwunden war. – ›Was soll das heißen? was thun Sie, Cavendish?‹ – Meine fliegenden Worte verkündeten ihm die furchtbare Lösung. Er blieb einige Zeit finster und nachsinnend, dann sagte er: ›Ich glaube, Sie haben Recht, und auch mich wollte es bedünken, als hätte ich das Gesicht des Knaben schon gesehen, der uns zu dem Gange verlockte. Es war die Tochter des Braminen, die wir damals an der Hütte fanden. Die Lage, in die uns jener Teufel versetzt, ist wahrhaft furchtbar, und wir werden ihr schwerlich entrinnen. Indessen lassen Sie uns als Männer thun, was wir vermögen, und komme dann, was da wolle. Zuerst bringen Sie Ihr Gewehr in Ordnung, damit es im Augenblick der Noth nicht nochmals versagt.‹ – Ich hatte es bereits aufgenommen, aber zu meinem Entsetzen bemerkte ich jetzt, daß es feucht war, – Nikalanta hatte Wasser, das er in der hölzernen Flasche an seiner Seite trug, in den Lauf gegossen. Dasselbe war mit Staunton's Büchse geschehen. Unser erster Gedanke war jetzt an das Pulverhorn, das an meiner Jagdtasche hing – es war leer, wir waren, fast waffenlos, den Tigern Preis gegeben.
Sprachlos setzten wir uns auf die Quadern und schauten uns an. Wir wußten nicht, ob unser Feind noch in der Nähe weilte, und welches neue Unheil er brütete, aber unsere Lage schien kaum schrecklicher, gefährlicher werden zu können; denn wir fühlten Beide, ohne es auszusprechen, daß an einen Versuch zur Rückkehr durch den Dschungelsumpf ohne Führer und vor vollem Tageslicht nicht zu denken war, und daß das Gelingen auch dann noch sehr zweifelhaft blieb. Bis dahin aber waren die Tiger längst zu Stelle. Ohnehin machte allem Zweifel über diesen Weg ein aus der Entfernung schwach herüberdringender eigenthümlicher Schrei ein Ende, dem gleich darauf ein zweiter folgte. Ich hatte nie in meinem Leben den seltsam klagenden, die Nerven erregenden Ton vernommen, doch Staunton, der die Schlachten gegen die Shiks mitgeschlagen, belehrte mich darüber: ›Es sind unsere edlen Pferde, denen der blutdürstige Schurke sein Messer in's Herz stößt, um uns jeden Weg der Flucht abzuschneiden.‹
Endlich hatten wir uns so weit gefaßt, daß wir unsere Lage ruhiger besprechen konnten. Es war Mitternacht vorüber, also etwa noch zwei Stunden Zeit, bis die Morgendämmerung begann.[114] Verschiedene Pläne wurden gefaßt und verworfen, endlich beschlossen wir, uns in dem Tempelgemäuer selbst, welches zum Lager der Tiger diente, so gut zu verbarrikadiren als möglich, da es nur an einer Stelle einen offenen Eingang zeigte. Wir schleppten mit aller Anstrengung Steintrümmer heran, die Öffnung zu verengen, und arbeiteten, daß uns der Schweiß von der Stirn lief. Als wir keine leichten, für unsere Kräfte geeigneten Steine mehr fanden, setzten wir uns hinter die leichte Brustwehr. ›Kamerad,‹ sagte der Capitain, ›ich bin ein älterer Jäger wie Sie und weiß, daß die Tigerpaare nie zusammen jagen. Es ist wahrscheinlich, daß nach ihrer Gewohnheit die Tigerin zuerst und weit früher, als der Tiger zurückkehrt. Unser Leib muß hier die Spalte, durch welche die Bestie in unsere Festung eindringen kann, vertheidigen. Uns Beide auf den Tiger zu stürzen, hieße wahrscheinlich Beide kampfunfähig machen. Lassen Sie uns also loosen darum, wer zuerst dem Thier sich entgegenstellt; der Zufälle und Schickungen sind so mancherlei und irgend ein glücklicher Umstand könnte vielleicht wenigstens Einen von uns retten, wenn es dem Andern gelingt, mit seinem Leben die erste Bestie abzuschlagen.‹ Nach einigem Bedenken willigte ich ein, indem wir überein kamen, daß Der, den das Loos getroffen, den vordersten Posten einnehmen und von seinem Kameraden nur unterstützt werden sollte. Ein Geldstück sollte entscheiden. Staunton wechselte ein in beiden Händen – wer die Guinee traf, hatte den ersten Kampf zu bestehen; ich wählte – die Hand war leer, der Capitain sollte der Tigerin entgegen treten.
Ich weiß nicht, wie ihm zu Muthe war; mir wollte fast das Herz und der Kopf zerspringen, während er seinen Jagdrock ablegte und sich ihn von mir um seinen linken Arm wickeln ließ. Indem ich dies that, fühlte ich einen harten Gegenstand – ich zog ihn heraus – allmächtiger Gott! – es war ein sechsläufiger Revolver, den er in der Tasche bei sich trug und den er in der Aufregung gänzlich vergessen. Schon glaubte ich uns bewaffnet und gerettet, aber der Capitain benahm mir den Wahn. ›Hätte ich eher daran gedacht,‹ sagte er, ›so wäre es vielleicht möglich gewesen, unsere Büchsen zu reinigen und das Pulver aus den Pistolenläufen zur Ladung zu benutzen. Doch wäre es immer nur ein Vielleicht, und die geringste zurückgebliebene Feuchtigkeit würde den Schuß verloren machen. Überdies ist es jetzt zu spät –[115] mich dünkt, ich sehe bereits die ersten Boten der Dämmerung. Nehmen Sie das Pistol, und wem Sie kaltes Blut genug besitzen, so warten Sie den Augenblick ab, wenn ich mit der Hefte handgemein bin und setzen es ihr an das Auge.‹ – Er weigerte sich auf das Bestimmteste, das Pistol selbst zu nehmen, indem er erklärte, daß es in meinen Händen ihm nützlicher sein würde. Ich band ihm eben das lange scharfe Jagdmesser mit dem Taschentuch in der rechten Hand fest, während die linke in der dicken Umhüllung des Armes frei blieb, als wir plötzlich in einiger Entfernung das Röhrich knistern und brechen und zugleich ein wildes Schnauben hörten. Mit den Worten: ›Da ist sie! – nun Gott befohlen, Kamerad, und vor Allem kaltes Blut!‹ riß er sich von mir los und sprang an die Öffnung.
Er hatte Recht, – es war die Tigerin, die mit langen Sätzen, ein Reh im Rachen, von der Dschungel her durch die Trümmer sprang. Die Dämmerung hatte im Osten bereits begonnen und wir konnten das Thier, eines der größten seiner Art, deutlich sehen. Plötzlich hielt es in seinem raschen Lauf an und schnubberte umher, – es hatte die Witterung seiner todten Jungen empfangen, die wir außerhalb der Pagode an der Stelle, wo wir so unglücklicher Weise zuerst unsere Büchsen zurückgelassen, hatten liegen lassen. Im nächsten Augenblick war die Tigerin bei den kleinen Leichen und ein so wildes Geheul erschütterte die Luft, daß ich fühlte, wie mir das Blut in den Adern gerann. Jetzt – sie hatte ihre Feinde gewittert und flog mit gewaltigem Satz gegen den Eingang, ihre Pranken rissen wie Spreu die Steine zur Seite und ihr Oberkörper füllte die Öffnung. Zum Glück erlaubte die kletternde Stellung ihr nicht die Anwendung ihrer vollen Kraft, wie ein Sprung diese entwickelt, und ehe sie sich durch die Steine zwängen konnte, sah ich, wie Staunton sich ihr entgegen warf. Die Scene, die jetzt folgte, ging rascher vor meinen Augen vorüber, als ich es hier zu erzählen vermag. Ich sah, wie der linke Arm meines tapfern Kameraden in den offenen Rachen der Bestie stieß und seine Hand wahrscheinlich ihre Zunge fest packte, ich hörte das Knirschen der Zähne in den brechenden Knochen, ich sah, wie die Tatze des Thiers in seine Brust schlug und zugleich seine rechte Hand zwei – drei Mal zustieß, wie jedes Mal ein dicker Blutstrahl sich über das Tuch ergoß – dann war es mir, als ob meine Sinne in dem betäubenden Odem des Thieres sich[116] verwirrten, als hörte ich den Ruf: ›Zu Hilfe, Cavendish! zu Hilfe!‹ – ein Knall – ein zweiter – ich fühlte, daß ich geschossen, das Wie? wußte ich nicht – und dann verlor ich das Bewußtsein.«
Der Erzähler machte eine Pause; kein Laut unterbrach die athemlose Aufmerksamkeit, mit welcher die Offiziere der erregenden Beschreibung zugehört hatten.
»Meine Schwäche,« fuhr der junge Mann fort, »wird in Ihren Augen vielleicht verächtlich erscheinen; aber bedenken Sie, daß ich, auf dem Parketboden von Windsor erzogen, noch nie Gelegenheit gehabt, meine Nerven für solche furchtbare Scenen zu stählen.« Dennoch konnte meine Ohnmacht nur wenige Augenblicke gedauert haben, als ein schmerzliches Stöhnen an meiner Seite und mein leise ausgesprochener Name mich zum Bewußtsein und zu meiner Pflicht zurückrief. Ich war entschlossen, mich auf das Unthier zu stürzen, aber – der Kampf war zu Ende: kaum zwei Fuß von mir lag die Tigerin mit durchschnittener Kehle und das eine grüne Auge rollte noch im Verscheiden, während das andere, von den Schüssen zerschmettert, blutig aus der Höhle hing und Wellen schwarzen Blutes aus Hals und Rachen quollen. Ich schaute mich nach Staunton um, er knieete neben mir – entsetzlich anzuschauen. Sein linker Arm war bis an die Schulter zermalmt und hing schlaff, ein Gemisch von zerrissenen Sehnen, Fleisch und Kleiderfetzen, herunter, während die Brust eine breite, bis auf den Knochen gehende Wunde zeigte, wie die Pranke des Ungethüms sie gerissen hatte. »Es ist vorbei mit mir, Cavendish,« flüsterte er stöhnend, »die Klauen des Tigers hatten die Lebensarterien schon getroffen, als Ihr Schuß sein Gehirn zerriß.« – Ich hob ihn in meinen Armen auf und schleppte ihn einige Schritte weit fort von dem blutigen Thier. Ich sah, jeder Versuch, ihn zu verbinden, selbst wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte, wäre vergeblich gewesen. – »Lassen Sie mich ruhig sterben, Cavendish,« sagte er, »und denken Sie an Ihre eigene Rettung. Der Tiger kann jeden Augenblick kommen, aber mir ist ein Mittel eingefallen,« – er sprach mit Anstrengung in abgebrochenen Sätzen – »das uns Beide gerettet hätte, wenn ich eher daran gedacht. In meiner Tasche ist Feuerzeug – Sie müssen die Dschungel in Brand stecken – unter diesen Steingewölben sind Sie sicher. Aber eilen Sie – eilen Sie!« – –[117]
»Die Überzeugung fuhr mir durch den Kopf, daß das Mittel vortrefflich sein mußte, dennoch wollte ich den Sterbenden nicht verlassen.« – »Fort, fort – eilen Sie,« rief er mit aller Anstrengung, »jede Minute ist unwiederbringlich – Sie finden mich noch lebend!« – Ich sprang über die Leiche des Tigers und die Steine und eilte zum Rande der Dschungel. Das Morgenroth zeigte bereits seine ersten Dinten und ein leichter Luftzug wehte über die Fläche. Rasch war einiges dürre Gesträuch zusammengerafft und in Brand gesteckt, ich warf es in das Rohrdickicht und im nächsten Augenblick schon quollen Rauch und Flammen in die Höhe.
»Nach kaum fünf Minuten war ich wieder bei dem Verwundeten. Er hatte sich zur Leiche der Tigerin geschleppt und betrachtete sie mit einem gewissen Stolz. – ›Lassen Sie mich auf ihr sterben, Cavendish,‹ sagte er, ›es wird nicht viele Männer geben in der britischen Armee, die sich rühmen können, eine Tigerin mit dem Jagdmesser bekämpft zu haben. – Hören Sie – wie die Flamme knistert – mein Rath war gut, aber er kam zu spät!‹ – In der That zeigte ein Blick mir, daß das ganze Dickicht bereits in Flammen stand, die, von dem Wind angefacht, mit rasender Schnelle über das dürre Geröhr flogen. Thiere aller Art, wilde Kaninchen, Schlangen, Eidechsen, Schakals und schwarze Eber flüchteten, von dem Feuer aufgejagt, aus ihrem Lager im Sumpf und nach den höher und frei gelegenen Ruinen. Staunton faßte meine Hand; an dem starren, gläsernen Ausdruck, den seine Augen annahmen, konnte ich sehen, daß der Tod ihm nahe war. – ›Cavendish,‹ flüsterte er, ›wenn Sie entrinnen, verlassen Sie Indien sogleich – denn der braune Satan wird Sie verfolgen bis –‹ Er fuhr plötzlich empor, die Sinne des Sterbenden waren, wie dies häufig der Fall sein soll, merkwürdig geschärft und er hörte durch das Zischen und Knistern der Flammen ein Geräusch, das mein Ohr noch nicht unterscheiden konnte. – ›Gott erbarme sich Ihrer, Kamerad – der Tiger kommt – der Tiger –‹ Ich hatte kaum Zeit gehabt, empor zu springen, da erschütterte ein wüthendes entferntes Brüllen die Luft und schien mit Sturmeseile näher und näher zu kommen. Durch das Prasseln der Flammen hörte ich das Brechen des Rohrs und der Gebüsche und dann –«
»Stop!« klang der Anruf der Schildwache vor der Brustwehr. – »Werda? – Feldgeschrei? – Parole?«[118]
»Abukir und Waterloo!« sagte eine Stimme. »General Codrington zur Visitation!«
Ehe noch die Schildwache ihr »Passirt« hatte entgegnen können, waren die überraschten Offiziere schon emporgesprungen und eilten dem Hals der Verschanzung zu. Außerhalb derselben hielt in der That der Brigade-General mit einer kleinen Begleitung. Einige Nachrichten, die ihm am Tage vorher von Bewegungen der Russen zugekommen waren, hatten ihn besorgt gemacht, und er beritt die britischen Linien, um sich von der Wachsamkeit der Posten zu überzeugen.
»Wer kommandirt die Batterie?«
»Lieutenant Lundgreen, Excellenz. Die erste Compagnie des 95. Regiments, Capitain Armstrong zur Deckung.«
»Gut, meine Herren, ich sehe, das Höllenwetter hat keinen Einfluß auf Ihre Wachsamkeit geübt. Doch möchte ich Ihnen rathen, Capitain, obschon ich nicht Ihr kommandirender General bin, einen Offizier mit einem Piket während der Dunkelheit die Straße zwischen den Höhen bis zur Wasserleitung hin patrouilliren zu lassen. Die Russen stehen, wie wir wissen, in bedeutender Stärke am andern Ufer des Flusses.«
»Zu Befehl, Excellenz. Lieutenant Cavendish, nehmen Sie einen Sergeanten und zehn Mann, verstärken Sie unsern Posten auf der Straße nach der Tschernaja und senden Sie Patrouillen bis an den Thalrand.«
Der Lieutenant salutirte mit etwas saurer Miene. – »Zum Henker!« flüsterte O'Malley, »da kommen wir um den Schluß Ihrer Geschichte. Ich hätte gar zu gern erfahren, wie Sie noch davongekommen.«
»Gedulden Sie sich bis wir uns wiedersehen,« entgegnete Cavendish ebenso. – Er eilte, sich fertig zu machen, denn der General zögerte offenbar, um den Abmarsch der Patrouille zu sehen.
Beide ahnten nicht, daß zwischen dem Jetzt und dem Wiedersehen die Ewigkeit lag.
»Fertig, Capitain. Gewehr auf! Marsch!« Das Kommando verließ die Schanze. Als Cavendish bei General Codrington vorbeimarschirend salutirte, klang von der Festung her ein fernes melodisches Summen durch die schwere Nebelluft. Der Lieutenant blieb stehen – auch die andern Offiziere horchten aufmerksam auf die Klänge, die offenbar von der Festung herkamen. Lord Codrington[119] lachte. – »Stören Sie sich nicht daran, meine Herren, ich habe es vorhin schon vernommen, als ich meine eigene Brigade visitirte. Die Russen läuten zur Nachtmesse in der Stadt, es ist morgen Sonntag und sie feiern wahrscheinlich irgend einen ihrer hundert Heiligen. Gute Nacht oder – Guten Morgen und gute Wache, Gentlemen!« – Der General ritt grüßend weiter nach der Richtung der andern Redouten.
Als er fort war, wurden die Wachen abgelöst und dann hüllten sich Offiziere und Soldaten in ihre Mäntel und suchten eine wenigst nasse Stelle für die Ruhe einiger Stunden. Auf seine Frage erfuhr Capitain Armstrong, daß der Tatar und sein Knabe zugleich mit der Patrouille die Verschanzung wieder verlassen hatten, was ganz gegen seine Absicht geschehen, aber nicht mehr zu ändern war.
Der Tatar hatte übrigens nur eine kurze Strecke weit bis zur alten Poststraße das britische Detaschement begleitet, dann verließ er die Soldaten unter dem Vorgeben, nach Kadikoi zurückkehren zu wollen. Die Patrouille war kaum im Dunkel des Hohlwegs verschwunden, als er auch die Straße verließ und an den Hügelseiten emporkletterte. »Jetzt wissen wir, was wir wollen, Mauro,« sagte er, »Du kennst die Parole und das Feldgeschrei für den Nothfall, wenn Du auf Soldaten stoßen solltest. Also rasch nach der Stadt und General Ssoimonoff entgegen. Ich schlage den Weg durch die Steinbrüche ein und bin in einer Stunde an der Brücke. Die Narren haben uns alle ihre Vertheidigungs-Anstalten sehen lassen und ich denke, Mungo's Probestück auf diesem ihm fremden Boden wird der Empfehlung Deines Herrn keine Schande machen.« –
Der Spion verlor sich in den dunklen Schatten der Berge, während der Knabe nach der Richtung der Stadt schlich.
Als General Codrington von seiner Inspection der britischen Linie, die er bis gegen den Sapunberg hin ausgedehnt hatte, zurückkehrte, – der Tag brach bereits an – fielen plötzlich auf dem linken Flügel der Vorpostenlinie vor der Division Brown einige Schüsse und bald darauf hörte man von der Seite von Inkermann ein heftiges Gewehrfeuer.
Codrington ließ seine Brigade unter Waffen treten.
Das Glockengeläut in der Nacht von den Thürmen Sebastopol's hatte nicht der Sonntags-Frühmesse gegolten, sondern die[120] Einwohner zusammengerufen zum Gebet für den glücklichen Ausgang der Schlacht. Die Truppen standen bereits auf den Sammelpunkten.
Als die Morgenröthe sich am Himmel zeigte, während auf den Bergen und in den Thälern dichter Nebel lag und im englischen Lager noch Alles ruhig schlief, ohne an die nahe Gefahr zu denken, begannen die russischen Truppen auch von den Höhen des rechten Tschernajaufers herabzusteigen, und von der Stadt her näherte sich die Spitze der Colonne Ssoimonoss's.
In diesem Augenblick schon war es, wo das Geschick der Schlacht durch den Fehler eines ihrer Führer entschieden wurde, der die Folgen selbst nicht durch die heldenmüthige Opferung seines Lebens abwenden konnte. Die Disposition für die Colonne des General-Lieutenants Ssoimonoff, die von der Bastion Nr. 2 aus gegen die Engländer vorbrechen sollte, lautete: auf der linken Höhenseite des Kilengrundes vorzugehen und die Engländer anzugreifen. Der Fürst hatte damit die westliche Seite des Kilengrundes gemeint, bei der Bestimmung von rechts und links den Lauf des Thalgrundes nach seinem Ausgang zum Meere annehmend.
General Ssoimonoff that das Gegentheil – er rechnete in der Richtung, nach welcher er marschirte.
So überschritt seine Colonne denn gleich beim Austritt aus der Stadt die Mündung des Kilengrundes und rückte auf dem Plateau des östlichen Randes vor, statt sich auf dem breiten Terrain des westlichen zu entfalten und hier den linken Flügel der englischen Stellung anzugreifen, nach dem Centrum hin aufzurollen und so zwischen die englischen Trancheen und das Lager einzudringen, das am Anfang des Kilengrundes lag. Dies war jedoch nicht der einzige überwiegende Nachtheil. Durch die Irrung des Ssoimonoff'schen Corps schob es sich vor den von der Inkermann-Brücke her vordringenden rechten Flügel der Angriffs-Colonne des General-Lieutenants Pawloff, der von dieser Seite gegen das englische Lager vordringen sollte, während sein linker Flügel auf der alten Poststraße und durch die Schluchten die englischen Redouten und den rechten Flügel der Feinde angriff. Die Russen verloren damit ihr numerisches Übergewicht, da sie nicht aufzumarschiren vermochten. Die russischen Regimenter mußten in Compagnie-Colonnen zum Angriff gehen, auf welche die englischen Bataillone in Front zu zwei Gliedern aufgestellt, mit ihren vorzüglichen Gewehren[121] schon in weiter Entfernung ein sicheres, vernichtendes Feuer eröffneten. –
Der dichte Nebel und die graue Farbe der Platschtsch's4 der Russen machte es neben der Ermattung der englischen Schildwachen den feindlichen Tirailleurs möglich, unbemerkt dicht heran zu kommen. Das Tarutinskische Jäger-Regiment unter seinem Commandeur General-Major Wolkow rückte auf der alten Poststraße vor, während das Borodinskische Regiment parallel die Schluchten hinan stieg.
Lieutenant Cavendish, der kaum eine halbe Stunde vorher von einer Recognoscirung bis an die Tschernaja zurückgekehrt, sah sich plötzlich im Rücken und in den Flanken von russischen Jägern umgeben und ein Offizier rief ihm auf Englisch zu, er solle sich ergeben. Der junge Mann jedoch, dem es durchaus nicht an Muth fehlte, erwiderte mit einem Schuß seines Revolvers, um die nächsten Schildwachen zu allarmiren, und versuchte dann an der Spitze seiner kleinen Truppe sich durchzuschlagen. Ein Bajonnetstich in die Brust warf ihn verwundet zu Boden, indeß gelang es ihm, aus dem wüthenden Kampfe, der jetzt folgte, zu entkommen, und auf dem Boden sich hinschleppend, den Schutz des nächsten Gebüsches zu erreichen.
Binnen wenig Minuten war jetzt Allarm auf der ganzen Linie. Der Angriff zeigte sich aber so ausgedehnt, das Kanonen und Kleingewehrfeuer krachte von so verschiedenen Seiten, daß die englischen Generale anfangs vollständig in Zweifel waren, woher der Angriff sie bedrohe. Von der linken Seite her donnerten die Batterieen der Stadt und unterstützten die Artillerie Ssoimonoff's, die mit 38 Geschützen sich auf den rechten Kilenhöhen aufgestellt hatte. Die Spitzen des Pawloff'schen Corps erstiegen bereits die Höhen der Poststraße, von Südosten verkündeten Kanonenschüsse die Diversion des Fürsten Gortschakoff gegen den Sapunberg.
Zuerst glaubten die Engländer, es gälte auf's Neue einen Angriff gegen Balaclawa, und hielten das Vordringen von Inkermann für eine Scheinattake. Die blutige Wirklichkeit belehrte sie bald eines Andern. General Pennefather, der wegen Krankheit Lacy-Evans die Division führte, erschien zuerst auf dem Kampfplatz und sandte die drei Regimenter der Brigade Adams zum[122] Schutz der Redoute Nr. 1, mit der eigenen Brigade links gegen Ssoimonoff Stellung nehmend. Buller und Codrington setzten mit ihren Brigaden die Schlachtlinie fort, und hinter diesem ersten Treffen gelang es den Engländern, ihre weitere Stellung zu bilden.
Noch im Schutz des Nebels drängten das Borodin'sche und Tarutinski'sche Jäger-Regiment von der Colonne Pawloff's, nachdem sie die Hohlwege erstiegen, die Brigaden Pennefather's zurück und griffen die Redoute Nr. 1 an. Das Tomski'sche und Koliwanski'sche Regiment, unterstützt durch das Regiment Catharinenburg, warfen sich trotz des furchtbaren Flankenfeuers der vier englischen Brigaden Codrington, Buller, Campbell und Gordon, mit dem Bajonnet auf die Brigaden Adams und Pennefather. Der Ruhm, den die Engländer sich stets angemaßt, daß keine Truppen der Welt sich mit ihnen im Bajonnetkampf messen können, wurde hier vernichtet. Die russischen Bataillone drangen mit unwiderstehlicher Macht vor, obschon die Kräfte auf diesem Theil des Schlachtfeldes ganz gleich waren. Das Gemetzel war entsetzlich, fast jeder Stoß der Bajonnete brachte eine tödtliche Wunde, aber über die Fallenden und Sterbenden stürmten neue Kämpfer in die Reihen. Das »Urrah« der Russen, wie sie in dem Thalgrund in geschlossenen Colonnen vordrangen, klang wie der Donner einer Lawine, und gleich einer solchen rollten sie die englischen Bataillone auf. Die Artillerie Ssoimonoff's sandte zugleich von der Höhe ihre Kugeln bis in die Zelte des englischen Lagers, ein Bataillon des Tomski'schen und zwei Bataillone des Koliwanski'schen Regiments stürmten die Redoute Nr. 2., vernagelten zwei Lancaster-Kanonen und drangen bis in's Lager der 2. Division. Zwei Bataillone Catharinenburg unter ihrem tapfern Oberst Uwaschnow Alexandrow umgingen sogar das obere Ende des Kilengrundes, gelangten so auf das Terrain, das die Colonne Ssoimonoff von Anfang hätte occupiren sollen, stürzten sich hier auf das Lager und vernagelten die Geschütze.
Doch sie blieben ohne Unterstützung; – General-Major Wilboa, der Kommandirende der drei Regimenter, fiel, von einer englischen Kugel getroffen, die Miniébüchsen der Schützen der leichten Division Brown räumten furchtbar unter den Russen auf und die tapferen Bataillone mußten ihre Vortheile wieder aufgeben und, fast aller Offiziere beraubt, bis an den Hohlweg zurückgehen, der die Steinbrüche an dem Kilengrund bildet.[123]
Hier war es, wo der unerschrockene Ssoimonoff mit seinem Blute den begangenen Fehler sühnte. Der Kommandant seiner Artillerie, Oberst Saghoskin, fiel – die Artillerie-Bedienung, die Zugpferde wurden von den weithin treffenden Kugeln der Engländer niedergeworfen, erst unter'm Schutz der vom General-Major Schabokritski in vortheilhafter Stellung aufgefahrenen Batterieen gelang es den russischen Regimentern, sich wieder zu formiren. Sie hatten furchtbar durch den Heldenkampf gelitten und mußten aus der Schlachtlinie zurückgezogen werden. In den drei Regimentern waren nur noch zwei Stabs- und fünfzehn andere Offiziere ohne schwere Wunden. Neue russische Regimenter nahmen hinter den Batterieen Stellung und eine Kanonade begann. – Auf der Höhe hinter diesen Batterieen der ersten Linie hielt der Oberbefehlshaber der russischen Angriffscolonnen, General Dannenberg, und der Tod um ihn her mähte eine reiche Erndte. Offiziere des Generalstabes, Adjutanten und Ordonnanzen wurden ringsum getödtet, dem General selbst zwei Pferde unter dem Leibe erschossen.
Während dieses wilden Kampfes an dem obern Ende des Kilengrundes hatten die beiden Regimenter des Pawloff'schen Corps, die sich gegen die Redoute Nr. 1 und die Brigaden Adam's und Pennefather's gewendet, dieselben zurückgedrängt und stürmten wiederholt die Redoute, in welcher sich Capitain Armstrong mit den erhaltenen Verstärkungen mit Löwenmuth schlug. Dem muntern O'Malley schlug eine Kugel durch den Mund und schloß ihn auf ewig; der treue Mickey schleppte seinen tapfern Herrn schwer verwundet aus dem Kampf; die Russen drangen wiederholt bis an die Mündungen der Kartätschen-sprühenden Geschütze Lundgreen's vor, und für die Todten, die Bajonnet und Kolbe der Engländer von den Brustwehren schleuderte, klommen mit jener zähen Gleichgültigkeit gegen Gefahr und Leben neue Schaaren empor. Schon waren Einzelne in das Innere der Batterieen gesprungen und kämpften mit den Artilleristen, da – – –
»Vive l'Empereur!« – –
Früh 7 Uhr war Lord Raglan mit seinem Stabe auf dem Schlachtfelde eingetroffen, wo bereits, mit Ausnahme der Brigaden Colin-Campbell und Eyre, die in den Trancheen und bei Balaclawa standen, die ganze englische Macht im Feuer war. Um den Gang des Gefechtes besser zu überwachen, ritt er in die Schlachtlinie vor – an seiner Seite fiel hier der Chef seiner[124] Artillerie, General Strangway's, der bei Leipzig als Kommandant einer Raketen-Batterie ruhmvoll seine Laufbahn begonnen.
Bald nach Beginn des Angriffs schon eilte General Bosquet, der Kommandant des französischen Observations-Corps auf dem Sapunberg, in das britische Lager, gefolgt von 4 Compagnieen Vincenner Jäger, 2 Bataillonen Infanterie und 2 reitenden Batterieen. Er bot den Generalen Cathcart und Brown seine Hilfe, doch die hochmüthigen Briten, noch nicht gedemüthigt von der Decimirung ihrer Regimenter, lehnten den Beistand ab und erklärten, noch Truppen in Reserve zu haben. Nur wenn die Redoute Nr. 1 in die Hände der Feinde fiele, würden sie um Unterstützung ihres rechten Flügels bitten. Bosquet, weit verständiger, als die Engländer, sandte ohne Weiteres die mit ihm gekommenen Truppen der Redoute zu Hilfe und kehrte nach seinem Posten auf dem Sapunberg zurück, um sich selbst von der Wichtigkeit des Angriffs zu überzeugen, der dort von Tschorgun her drohte. Sein Scharfblick erkannte sofort, daß hier nur von einer Scheinattake die Rede war, um ihn zu beschäftigen. Er traf demnach seine Vorbereitungen, um auf die erste Botschaft der Engländer nach dem Schlachtfelde eilen und mit seinen Truppen das Schicksal des Tages entscheiden zu können.
Aber der beleidigte General wartete auf die Bitte der Briten, die, wie er sah, kommen mußte. Der tapfere Republikaner, der mit seiner ganzen Division keck gegen das Kaiserthum gestimmt, der, als Liebling der Armee, nur auf Fürsprache Canrobert's beim orientalischen Kriege wieder eine Division erhalten und seitdem durch sein Organisationsgenie bei der Landung in Gallipoli die Engländer in Staunen gesetzt, die faulen Türken mobil gemacht, der an der Alma schon durch den Sturm auf die Höhen am Meer die Schlacht entschieden hatte, – er haßte als echter Franzose die anmaßenden Verbündeten seines Kaisers, die natürlichen Feinde Frankreichs, und beschloß, sie zu demüthigen.
Seine ersten Bataillone waren es, welche im letzten Augenblick den tapfern Vertheidigern der Redoute zu Hilfe kamen und sie befreiten, während zugleich General Bentink mit der Garde-Brigade der geworfenen zweiten Division zu Hilfe eilte und die Russen zurücktrieb.
Es war 9 Uhr, der erste Akt des blutigen Drama's war beendet.[125]
Doch nur auf kurze Zeit. Auf's Neue rollte der Vorhang empor und ließ das Spiel beginnen, in dem der Kanonendonner die Rede, der Tod die Action war.
Die drei hintersten Regimenter der Colonne Pawloff's, das Ochotski'sche Jäger-, das Jakutski'sche und Selenginski'sche Infanterie-Regiment, die nach Überschreitung der wieder hergestellten Inkermann-Brücke rechts auf der Sappeurstraße vorgerückt waren, trafen um 8 Uhr auf dem Schlachtfelde ein, zur Zeit, als die vorderen Truppen Ssoimonoff's nach dem Fall ihres Führers zum Steinbruchgrund zurückgedrängt wurden.
Neben General Dannenberg hielten zu Pferde zwei junge Offiziere, mit den Abzeichen hohen Ranges unter dem bei ihren Bewegungen sich öffnenden Mantel geschmückt, der Eine etwa 23 Jahre alt, mit ernsten, gestreckten Gesichtszügen, die an ein majestätisches Bild erinnerten, in der Uniform des Genies; der Zweite, wenig jünger, aber von freundlichen, rundern Zügen und dennoch unverkennbarer Ähnlichkeit, die Abzeichen der reitenden Garde-Artillerie tragend. Die drei Regimenter, das Ochotski'sche an der Spitzte, marschirten eben zwischen den Hügeln auf und formirten sich in Angriffscolonnen und der Brigade- und die Regiments-Kommandanten sprengten zu dem Befehlshaber.
»Wir müssen die Redoute unter allen Umständen haben, General Ochterlone,« sagte der Kommandirende, indem er sein Glas vom Auge nahm. »Ich sehe, die Garden halten sie jetzt; lassen Sie Bibikof links abschwenken und die Höhen stürmen; Ihrer Majestät Coldftreams werden auf den nächsten Almacs nicht so stark vertreten sein, wie ich hoffe.«
Während der greise Kommandant des Regiments salutirte und davon sprengte, wandte General Dannenberg sich wieder zu dem Kommandeur der ersten Brigade. »Sie müssen über den Hohlweg der Straße, um die Höhe zu gewinnen, ehe jene Colonnen dort – wenn ich nicht irre, ist es die vierte Division unter Cathcart – sie besetzen. Capitain Kowaleff, reiten Sie zu Pawloff und sagen Sie ihm, was ich über die Regimenter bestimmt, er soll die Reserven nachrücken lassen und die Batterieen so nahe als möglich bringen. Vorwärts, meine Herren, und Gott segne Rußland!«
Eine Hand faßte seinen Arm; es war der eine junge Offizier an seiner Seite, während der Andere verschwunden war. »General,«[126] sagte der junge Mann, »mit Ihrer Genehmigung werde ich mich Oberst Sabatinski anschließen.«
»Unmöglich, Kaiserliche Hoheit,« entgegnete der General höflich, aber bestimmt; »ich kann es unter keinen Umständen gestatten. Euer Kaiserliche Hoheit und Großfürst Michael sind bereits hier – – –« er sah sich erstaunt um – »wo ist der Prinz?«
»Mein Bruder,« sagte der Großfürst Nicolaus, denn dieser war der Offizier und mit seinem jüngsten Bruder am Abend vorher zum Jubel der Armee in Ssewastopol eingetroffen; »mein Bruder ist bereits Oberst Bibikof dahin gefolgt, wohin Ehre und Pflicht ihn rufen, und ich bitte Sie, Herr General, zu bedenken, dich der Kaiser, unser Vater, uns nicht hierher geschickt hat, um Schlachten schlagen zu sehen, sondern sie mit unsern braven Soldaten zu schlagen.«
Der General verbeugte sich. »Diese Herren sind Zeuge, daß ich meine Pflicht gethan. Ich kann Eure Kaiserliche Hoheit nur bitten, Ihr kostbares Leben nicht unnütz auszusetzen.«
»Das kann nie geschehen, wo es Rußlands Ehre gilt. Auf Wiedersehen, Herr General!«
Der Prinz, dem sein Vater auf den Antrag des Fürsten Menschikoff nebst seinem Bruder für ihr tapferes Benehmen später den Sanct Georg-Orden 4. Klasse verlieh, sprengte mit seinem Adjutanten den Regimentern nach und verließ sie während des folgenden Gefechts im heftigsten Feuer nicht.
Mit Ungestüm warfen sich die russischen Jäger auf die Redoute, die jetzt von den Coldstreams – der berühmten englischen Garde – vertheidigt wurde, und ein Kampf, fürchterlicher, blutiger, denn zuvor, entspann sich. Die Briten, gänzlich von den Ihren abgeschnitten und zugleich von der russischen Artillerie auf den gegenüberliegenden Höhen beschossen, schlugen sich mit Heldenmuth. Vier Mal drangen die Ochotsker bis zu den Schießscharten, und vier Mal wurden sie von dem Bajonnet und dem Feuer wieder zurückgeworfen. Zweihundert Mann des kaum Siebenhundert starken Regiments waren bereits gefallen, da gab endlich die Hoffnung auf, die Redoute halten zu können, warf sich heraus und bahnte sich mit dem Bajonnet den Rückweg durch die Feinde.
Das Gemetzel war furchtbar, mehr als ein Drittel des Regiments fiel, aber auch der Sieg der Russen wurde theuer erkauft. Ihr tapferer Oberst Bibikof stürzte tödtlich verwundet, beinahe[127] alle Stabs- und Ober-Offiziere des Regiments lagen auf dem Kampfplatz.
Aber von der Redoute wehte die russische Fahne! –
Die Brigade Ochterlone warf sich auf die Reste der zweiten englischen Division und trieb sie zurück. Da eilten Cathcart – der Liebling Wellington's – mit seiner Division und Lord Bentink mit den übrigen zwei Garde-Regimentern und dem wieder gesammelten Rest der Coldstreams zur Unterstützung und zum Angriff herbei. Während die Grenadiere und die tapfern schottischen Garde-Füsiliere unter den wilden Klängen des Pibroch von Donald Dhu und dem Ruf: »Schottland für immer!« die Redoute wieder erstürmten und die Ochotski'schen Jäger warfen, stürzte sich Cathcart mit dem 29. und 63. Regiment in den Hohlweg, um der russischen Brigade den Rückweg abzuschneiden. Oberst Bjalui mit den Jakutzki'schen Jägern stürmte, unbekümmert auf die Gefahr im Rücken, gegen die Garden – Lord Bentink wurde verwundet, zwölf britische Offiziere waren gefallen, die Redoute auf's Neue den Garden entrissen und diese zurückgetrieben. Die Engländer im Hohlweg sahen sich durch die besonnenen Befehle General Ochterlone's von dem Selenginski'schen Regiment umringt. Das Blutbad war hier entsetzlich, ein Kampf der Verzweiflung von Seiten der Briten, die mit dem Bulldoggen-Grimm fochten, der noch im Tode sich an den Feind klammert; – ein Kampf wüthenden Hasses von Seiten der Russen, deren Erbitterung während des ganzen Krieges in allen Ständen weit größer gegen die Briten, als gegen die Franzosen sich zeigte. Vergeblich war alle Tapferkeit, alle persönliche Aufopferung des tapfern Cathcart, der in ihren Reihen kämpfte. In seine Ohren dröhnte verzweifelnd der Ruf der Soldaten: »Wir haben keine Patronen mehr!« – »Nun, so habt Ihr Bajonnete!« rief der General. »Also vorwärts für den Ruhm von Alt-England!« Und vorwärts stürzten die Compagnieen, aber sie zerstoben an den russischen Phalanxen und eilten in Unordnung den Höhen zu. Hier jedoch empfing sie das Jakutzki'sche Regiment mit einem Kugelhagel. Cathcart, durch den Kopf geschossen, fiel – Goldie, Torrens, seine beiden Brigade-Generale, wurden verwundet, dichter Pulverdampf umhüllte das Todesfeld.
Auf allen Punkten begannen die Engländer sich zurückzuziehen; die zweite Redoute war in den Händen der Russen, und zum zweiten Male drangen sie in das britische Lager.[128]
Neben Lord Raglan befand sich während des ganzen Gefechts der französische Oberkommandant Canrobert, ohne der Wunde an der Hand zu achten, die er erhielt. Gegen 10 Uhr Morgens brachten ihm die Adjutanten die Nachricht, daß dir Russen unter Timofjef aus der Bastion Nr. 6 auf der Westseite der Festung einen Ausfall gegen die französischen Approchen gemacht hatten und mit der Brigade Lourmel im Kampf waren. Die drei französischen Divisionen der Westseite waren in Allarm und warfen die Russen zurück, dort hatte man also Nichts zu besorgen, und der kleine, bewegliche Oberkommandant der französischen Armee blieb auf seinem Posten, den Augenblick erwartend, in dem sich der englische Stolz beugen mußte.
Und er beugte sich. Lord Raglan, die ganze englische Position verloren sehend, wenn nicht schleunige Hilfe einträfe, verlangte die französische Unterstützung und erlitt die Demüthigung, daß er, auf Canrobert's Wunsch, seine eigenen Adjutanten zu dem früher abgewiesenen Bosquet schicken und um rasche Hilfe bitten mußte.
Durch den Donner der Geschütze und das Rollen des Gewehrfeuers vernahm man den hellen Klang der langen Hörner der Zuaven, der algierschen Schützen und der Jäger von Vincennes. Bosquet, der General Kaiser Napoleon's, spielte diesmal die Rolle der Preußen bei Waterloo und kam mit seinen drei Brigaden im Geschwindmarsch vom Sapunberg heran, sie rechts von den Engländern in die Schlachtlinie werfend auf den linken Flügel der Russen. –
So wechselt die Geschichte – so wechseln die Freundschaften der Einzelnen und der Reiche!
Der dritte und letzte Akt der blutigen Tragödie von Inkermann begann!
Das eigenthümliche Marschexercitium der Zuaven – der Trab oder vielmehr das springende Laufen in Compagnie- und Bataillons-Colonnen – brachte sie mit überraschender Schnelligkeit herbei. Die Brigade Monet folgte den beiden anderen als Reserve.
Einen Augenblick war General Dannenberg unentschlossen, ob er nicht die vier Regimenter, die noch nicht in den Kampf gekommen waren und von denen das Uglitz'sche und Butinski'sche die Artillerie gedeckt hatten, das Wladimir'sche und Susdali'sche als Reserven zurückbehalten worden, dem neuen Stoß entgegenwerfen[129] und um den Sieg ringen sollte, indeß die Überlegung, daß bei einem Mißlingen sein ganzes Corps, das gefährliche Defilée von Inkermann im Rücken, verloren sein mußte, entschied und er beschloß den Rückzug. Während die Artillerie den Befehl erhielt, nach der Inkermann-Brücke abzufahren, flogen die Adjutanten zu den bedrohten Regimentern mit dem Befehl zum Rückmarsch.
Der General schaute sich suchend um, es galt, eine persönliche Ordre auszuführen, nachdem die Pflicht des Feldherrn erfüllt worden. Ein junger Offizier vom Generalstabe des Fürsten Menschikoff, der, wie viele seiner Kameraden, sich dem Stabe des Generals Dannenberg angeschlossen, hielt mit mehreren Kosacken in der Nähe.
»Capitain Iwan Oczakoff!«
Der Offizier salutirte.
»Sie kennen den Großfürsten Nicolaus persönlich. Er begleitet, wie Sie gesehen haben, das Selenginski'sche Regiment, das in diesem Augenblick sich in der größten Gefahr befindet. Suchen Sie Seine Kaiserliche Hoheit auf und sagen Sie ihm, ich ließe bitten – nein, ich ließe ihm als kommandirender General befehlen, Sie auf der Stelle hierher zu begleiten.«
Der junge Fürst beugte sich über den Sattelknopf seines Pferdes und flog davon, indem ein Wink seiner Hand seine Begleiter ungeduldig bei der Suite des Generals zurückhielt. Ihre ängstlichen Blicke sahen ihn in dem Meer von Pulverdampf verschwinden, welcher in der Richtung der genommenen Redouten Berg und Thal bedeckte.
Oberst Sabatinski, der Kommandirende des Selenginski'schen Regiments, hatte bereits die Ordre zum Rückzug erhalten; das Ochotski'sche Regiment war schon auf demselben begriffen und somit das seine dem vollen Stoß der frischen französischen Truppen preisgegeben. In drei Bataillons-Colonnen formirt, dicht geschlossen erwarteten die Russen den Stoß. In diesem Augenblick gelangte Fürst Iwan zum Regiment und erkannte in der mittelsten Colonne den Großfürsten.
Er war an seiner Seite, als die französischen Hörner dicht vor den Fronten im Pulverdampf erklangen und unter dem donnernden Kaiserruf das dritte Zuaven-Regiment auf die Russen stürzte, während rechts und links die afrikanischen Jäger attakirten.[130]
Der erste tolle Anlauf der Franzosen prallte an der Unbeweglichkeit der russischen Massen ab. Die Glorie der Zuaven ist der Einzelnkampf. General Saint-Pol, welcher sie führte, sammelte in kurzer Entfernung das Regiment zur neuen Attake, während die Russen langsam zurückgingen. Die französischen Plänkler unterhielten ein scharfes Feuer aus ihren kurzen Büchsen.
Der Großfürst weigerte sich, das bedrohte Regiment zu verlassen – erst die bestimmte Erklärung des Obersten Sabatinski nöthigte ihn dazu, als ein Schuß sein Pferd traf. »Du siehst, Fürst,« sagte der junge Kaisersohn, »daß ich nicht fort kann. Ich werde zu Fuß mit den Braven kämpfen!« Fürst Iwan war bereits vom Pferde gesprungen. »Eure Kaiserliche Hoheit kennen meinen Befehl und werden mein Pferd nehmen!« Nur mit Mühe verstand sich der Großfürst endlich dazu und verließ unter dem Kugelregen die Colonne. Er war kaum entfernt, als der zweite Ansturm der Franzosen in die Reihen der Russen brach und sie diesmal zu sprengen drohte. Die ersten Glieder wurden zu Boden geworfen, ein blutiges Handgemenge mit Bajonnet und Kolben begann. Von zwei Seiten drangen die Zuaven in die russische Stellung. –
»Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht der verrückte Jean ist, welcher der hübschen Hexe, Deiner Schwester, davon gelaufen sein muß,« sagte mitten im Gewühl des Angriffs ein bärtiger Zuaven-Sergeant zu seinem Nebenmann, einem kräftigen, muthigen Krieger, der eben wieder sein Gewehr lud.
»Wo, Papa Fabrice? – Der junge Russe im Mantel? – Parbleu! es ist Jean und wir müssen ihn wiederhaben, den blödsinnigen Burschen!« Damit warfen sich die Zuaven in eine Lücke des Getümmels und schlugen sich nach der Stelle durch, wo sie den jungen Offizier bemerkt hatten. Ein Degenstoß empfing den Bruder der Marketenderin, so daß er ihn nur mit Mühe zu pariren vermochte. – »Der Bursche ist verrückt wie ein Märzhase oder ein wirklicher Überläufer,« schalt der Sergeant und schleuderte den jungen Mann zu Boden, der sich verzweifelt wehrte, indeß Bourdon mit zwei russischen Infanteristen vollauf beschäftigt war, die ihn angriffen. – »Der Tölpel ist schlimmer, als ich dachte, und mir lang' im Weg gewesen! Zum Teufel mit ihm!« Der Sergeant, erbittert über den Pistolenschuß, den der Offizier, schon am Boden, nach ihm abfeuerte und der seine bärtige Wange[131] streifte, hob das Gewehr, um dem Gefangenen einen Kolbenschlag auf den Kopf zu geben, als ein Säbel schützend dazwischen fuhr, der Säbel eines französischen Offiziers. »Quartier, Canarade, pour cet enfant!« Zugleich wurde der Zuave von der Seite her angegriffen und das Gewühl trennte ihn im Augenblick von der Gruppe. Der französische Offizier aber, der die Uniform eines Bataillons-Kommandanten trug, bog sich vom Pferde und riß den jungen Russen in die Höhe. »Vous êtes mon prisonier, mon Prince, mais sauvez vous-en! – Vite!« – Der Vicomte, denn dieser war es, der Fürst Iwan erkannt, warf sein Pferd nach einer anderen Richtung des Gefechts, durch diese Bewegungen die Flucht seines Feindes deckend. Als er sich noch ein Mal umsah, war der junge Fürst glücklich in den Reihen der Seinen, die, von der zweiten Bataillons-Colonne unterstützt, sich wieder gesammelt hatten und den Franzosen im langsamen Rückzug die Spitze boten.
Der kurze Zwischenfall des Kampfes war an dem Vicomte wie eine Erscheinung vorübergegangen und nur die Wunde am linken Arm, die er bei der edlen Sicherung des Entkommens seines Feindes durch einen Bajonnetstich erhalten, bewies ihm materiell die Wirklichkeit der Begegnung. –
Die Regimenter Pawloff's, durch den fünfstündigen Kampf erschöpft, vermochten der Übermacht, welche jetzt durch die Ankunft der Franzosen auf Seite der Alliirten war, obschon die Engländer nicht mehr als 8000 Mann noch zum Gefecht disponible hatten, nicht zu widerstehen und räumten das Schlachtfeld. Es galt nur noch, den geordneten Rückzug zu decken, und dies geschah mit heldenmüthiger Aufopferung. Während die Artillerie nach der Inkermann-Brücke abfuhr, schlugen sich das Jakutski'sche und Selenginski'sche Regiment an den Abhängen der Höhe und Bosquet mußte wiederholt die Reihen seiner Brigaden auf's Neue ordnen.
Nachdem die Artillerie in Sicherheit war, bewerkstelligte die russische Infanterie ihren Rückzug, indem die Regimenter Wladimir und Susdal denselben deckten, den Boden mit ihren Leichen besäend unter den wiederholten Angriffen der Franzosen. Erst das Feuer der am Ausfluß der Tschernaja postirten Dampfschiffe Wladimir und Chersones machte der Verfolgung ein Ende. Die Russen zogen sich theils über den Fluß, theils auf der Sappeurstraße nach der Stadt zurück. Um halb drei Uhr Nachmittags war die Schlacht zu Ende.[132]
Dreitausend russische Leichen deckten die Wahlstätten, außerdem fast ein Drittel der Verwundeten, deren Zahl an sechstausend betrug.
Der Verlust der Verbündeten war nur wenig geringer. Lord Raglan hat, wie die eigenen Zugeständnisse der englischen Correspondenten beweisen, ganz einfach gelogen, indem er offiziell den Verlust der Briten auf 464 Todte und circa 2000 Verwundete angiebt. Der Verlust der Engländer betrug in der That 5000 Mann und die Franzosen verloren 2000 Todte und Verwundete.
Nach den Briefen des französischen Brigade-Chefs Bourbaki befanden sich im englischen Lager nach der Schlacht nur noch 10,000 Kampffähige; die 2. Division war bis auf 300 Mann zusammengeschmolzen, das 95. Regiment der Brigade Pennefather zählte nur 64 Mann. Einunddreißig Offiziere der Garde waren gefallen.
Das Schlachtfeld bot einen gräßlichen Anblick – die Hohlwege und Abhänge waren bedeckt mit Haufen von Todten und Sterbenden. Achtundvierzig Stunden dauerte nach dem geschlossenen Waffenstillstand das Suchen und Fortbringen der Verwundeten.
Das war das Drama von Inkermann, ein Gemetzel ohne Sieg, ein Kampf ohne Erfolg. Glücklich, die der Ehrentod auf dem Schlachtfelde den furchtbaren Leiden und Schrecken entzogen hatte, welche der nahende Winter über beide Armeen häufen sollte!
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