1804

[119] Der Winter hatte sich mit aller Gewalt eingefunden, die Wege waren verschneit, auf der Schnecke kein Fortkommen. Frau von Staël kündigte sich immer dringender an, mein Geschäft war vollendet, und ich entschloß mich in mancherlei Betracht, nach Weimar zu gehen. Aber auch diesmal fühlt ich die Schädlichkeit des Winteraufenthaltes im Schlosse. Die so teure Erfahrung von 1801 hatte mich nicht aufmerksam, nicht klüger gemacht; ich kehrte mit einem starken Katarrh zurück, der, ohne gefährlich zu sein, mich einige Tage im Bette und sodann wochenlang in der Stube hielt. Dadurch ward mir nun ein Teil des Aufenthalts dieser seltenen Frau historisch, indem ich, was in der Gesellschaft vorging, von Freunden berichtlich vernahm, und so mußte denn auch die Unterhaltung erst durch Billette, dann durch Zwiegespräche, später in dem kleinsten Zirkel stattfinden: vielleicht die günstigste Weise, wie ich sie kennenlernen und mich ihr, insofern dies möglich war, auch mitteilen konnte.

Mit entschiedenem Andrang verfolgte sie ihre Absicht, unsere Zustände kennenzulernen, sie ihren Begriffen ein- und unterzuordnen, sich nach dem einzelnen soviel als möglich zu erkundigen, als Weltfrau sich die geselligen Verhältnisse klarzumachen, in ihrer geistreichen Weiblichkeit die allgemeineren Vorstellungsarten, und was man Philosophie nennt, zu durchdringen und zu durchschauen. Ob ich nun gleich gar keine Ursache[119] hatte, mich gegen sie zu verstellen, wiewohl ich, auch wenn ich mich gehenlasse, doch immer von den Leuten nicht recht gefaßt werde, so trat doch hier ein äußerer Umstand ein, der mich für den Augenblick scheu machte. Ich erhielt soeben ein erst herausgekommenes französisches Buch, die Korrespondenz von ein paar Frauenzimmern mit Rousseau enthaltend. Sie hatten den unzugänglichen, scheuen Mann ganz eigentlich mystifiziert, indem sie ihn erst durch kleine Angelegenheiten zu interessieren, zu einem Briefwechsel mit ihnen anzulocken gewußt, den sie, nachdem sie den Scherz genug hatten, zusammenstellen und drucken ließen.

Hierüber gab ich mein Mißfallen an Frau von Staël zu erkennen, welche die Sache leicht nahm, sogar zu billigen schien und nicht undeutlich zu verstehen gab: sie denke ungefähr gleicherweise mit uns zu verfahren. Weiter bedurft es nichts, um mich aufmerksam und vorsichtig zu machen, mich einigermaßen zu verschließen.

Die großen Vorzüge dieser hoch denkenden und empfindenden Schriftstellerin liegen jedermann vor Augen, und die Resultate ihrer Reise durch Deutsch land zeigen genugsam, wie wohl sie ihre Zeit angewendet.

Ihre Zwecke waren vielfach: Sie wollte das sittliche, gesellige, literarische Weimar kennenlernen und sich über alles genau unterrichten; dann aber wollte auch sie gekannt sein und suchte daher ihre Ansichten ebenso geltend zu machen, als es ihr darum zu tun schien, unsre Denkweise zu erforschen. Allein dabei konnte sie es nicht lassen; auch wirken wollte sie auf die Sinne, aufs Gefühl, auf den Geist, sie wollte zu einer gewissen Tätigkeit aufregen, deren Mangel sie uns vorwarf.

Da sie keinen Begriff hatte von dem, was Pflicht heißt, und zu welcher stillen, gefaßten Lage sich derjenige, der sie übernimmt, entschließen muß, so sollte immerfort eingegriffen, augenblicklich gewirkt sowie in der Gesellschaft immer gesprochen und verhandelt werden.

Die Weimaraner sind gewiß eines Enthusiasmus fähig, vielleicht gelegentlich auch eines falschen, aber das französische[120] Auflodern ließ sich nicht von ihnen erwarten, am wenigsten zu einer Zeit, wo die französische Übergewalt so allseitig drohte und stillkluge Menschen das unausweichliche Unheil voraussahen, das uns im nächsten Jahre an den Rand der Vernichtung führen sollte.

Auch vorlesend und deklamierend wollte Frau von Staël sich Kränze erwerben. Ich entschuldigte mich von einem Abend, wo sie »Phädra« vortrug und wo ihr der mäßige deutsche Beifall keineswegs genugtat.

Philosophieren in der Gesellschaft heißt, sich über unauflösliche Probleme lebhaft unterhalten. Dies war ihre eigentliche Lust und Leidenschaft. Natürlicherweise trieb sie es in Reden und Wechselreden gewöhnlich bis zu denen Angelegenheiten des Denkens und Empfindens, die eigentlich nur zwischen Gott und dem Einzelnen zur Sprache kommen sollten. Dabei hatte sie, als Frau und Französin, immer die Art, auf Hauptstellen positiv zu verharren und eigentlich nicht genau zu hören, was der andere sagte.

Durch alles dieses war der böse Genius in mir aufgeregt, daß ich nicht anders als widersprechend dialektisch und problematisch alles Vorkommende behandelte und sie durch hartnäckige Gegensätze oft zur Verzweiflung brachte, wo sie aber erst recht liebenswürdig war und ihre Gewandtheit im Denken und Erwidern auf die glänzendste Weise dartat.

Noch hatte ich mehrmals unter vier Augen folgerechte Gespräche mit ihr, wobei sie jedoch auch nach ihrer Weise lästig war, indem sie über die bedeutendsten Vorkommenheiten nicht einen Augenblick stilles Nachdenken erlaubte, sondern leidenschaftlich verlangte, man solle bei dringenden Angelegenheiten, bei den wichtigsten Gegenständen ebenso schnell bei der Hand sein, als wenn man einen Federball aufzufangen hätte.

Ein Geschichtchen statt vieler möge hier Platz nehmen: Frau von Staël trat einen Abend vor der Hofzeit bei mir ein und sagte gleich zum Willkommen mit heftiger Lebhaftigkeit: »Ich habe Euch eine wichtige Nachricht anzukündigen: Moreau ist[121] arretiert mit einigen andern und des Verrats gegen den Tyrannen angeklagt.« – Ich hatte seit langer Zeit, wie jedermann, an der Persönlichkeit des Edlen teilgenommen und war seinem Tun und Handeln gefolgt; ich rief im stillen mir das Vergangene zurück, um, nach meiner Art, daran das Gegenwärtige zu prüfen und das Künftige daraus zu schließen oder doch wenigstens zu ahnen. Die Dame veränderte das Gespräch, dasselbe wie gewöhnlich auf mannigfach gleichgültige Dinge führend, und als ich, in meinem Grübeln verharrend, ihr nicht sogleich gesprächig zu erwidern wußte, erneuerte sie die schon oft vernommenen Vorwürfe: ich sei diesen Abend wieder einmal, gewohnterweise, maussade und keine heitere Unterhaltung bei mir zu finden. – Ich ward wirklich im Ernst böse, versicherte, sie sei keines wahren Anteils fähig; sie falle mit der Tür ins Haus, betäube mich mit einem derben Schlag und verlange sodann, man solle alsobald sein Liedchen pfeifen und von einem Gegenstand zum andern hüpfen.

Dergleichen Äußerungen waren recht in ihrem Sinn, sie wollte Leidenschaft erregen, gleichviel welche. Um mich zu versöhnen, sprach sie die Momente des gedachten wichtigen Unfalls gründlich durch und bewies dabei große Einsicht in die Lage der Dinge wie in die Charaktere.

Ein anderes Geschichtchen bezeugt gleichfalls, wie heiter und leicht mit ihr zu leben war, wenn man es auf ihre Weise nahm. An einem personenreichen Abendessen bei Herzogin Amalie saß ich weit von ihr und war eben auch für diesmal still und mehr nachdenklich. Meine Nachbarschaft verwies es mir, und es gab eine kleine Bewegung, deren Ursache endlich bis zu den höhern Personen hinaufreichte. Frau von Staël vernahm die Anklage meines Schweigens, äußerte sich darüber wie gewöhnlich und fügte hinzu: »Überhaupt mag ich Goethe nicht, wenn er nicht eine Bouteille Champagner getrunken hat.« Ich sagte darauf halblaut, so daß es nur meine Nächsten vernehmen konnten: »Da müssen wir uns denn doch schon manchmal zusammen bespitzt haben.« Ein mäßiges Gelächter entstand darauf; sie wollte den Anlaß erfahren, niemand konnte[122] und mochte meine Worte im eigentlichsten Sinne französisch wiedergeben, bis endlich Benjamin Constant, auch ein Nahsitzender, auf ihr anhaltendes Fordern und Drängen, um die Sache abzuschließen, es unternahm, ihr mit einer euphemistischen Phrase genugzutun.

Was man jedoch von solchen Verhältnissen hinterher denken und sagen mag, so ist immer zu bekennen, daß sie von großer Bedeutung und Einfluß auf die Folge gewesen. Jenes Werk über Deutschland, welches seinen Ursprung dergleichen geselligen Unterhaltungen verdankte, ist als ein mächtiges Rüstzeug anzusehen, das in die Chinesische Mauer antiquierter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte, sogleich eine breite Lücke durchbrach, so daß man über dem Rhein und, in Gefolg dessen, über dem Kanal endlich von uns nähere Kenntnis nahm, wodurch wir nicht anders als lebendigen Einfluß auf den fernern Westen zu gewinnen hatten. Segnen wollen wir also jenes Unbequeme und den Konflikt nationeller Eigentümlichkeiten, die uns damals ungelegen kamen und keineswegs förderlich erscheinen wollten.

Ebenso hätten wir dankbar der Gegenwart Herrn Benjamin Constant zu gedenken.

Gegen Ende Juni begab ich mich nach Jena und ward gleich an demselbigen Abend durch lebhafte Johannisfeuer munter genug empfangen. Es ist keine Frage, daß sich diese Lustflammen auf den Bergen sowohl in der Nähe der Stadt, als wenn man das Tal auf- und abwärts fährt, überraschend freundlich ausnehmen.

Nach Verschiedenheit der vorhandenen Materialien, ihrer Menge, mehr oder weniger Schnelligkeit der Verwendung züngeln sie bald obelisken-, bald pyramidenartig in die Höhe, scheinen glühend zu verlöschen und leben auf einmal ermuntert wieder auf. Und so sieht man ein solches feuriges Wechselspiel talauf, talab auf die mannigfaltigste Weise belebend fortsetzen.

Unter allen diesen Erscheinungen tat sich eine zwar nur auf kürzere Zeit, aber bedeutend und auffallend hervor. Auf der[123] Spitze des Hausberges, welcher, von seiner Vorderseite angesehen, kegelartig in die Höhe steigt, flammte gleichmäßig ein bedeutendes Feuer empor, doch hatte es einen beweglichern und unruhigern Charakter; auch verlief nur kurze Zeit, als es sich in zwei Bächen an den Seiten des Kegels herunterfließend sehen ließ; diese, in der Mitte durch eine feurige Querlinie verbunden, zeigten ein kolossales leuchtendes A, auf dessen Gipfel eine starke Flamme gleichsam als Krone sich hervortat und auf den Namen unserer verehrten Herzoginmutter hindeutete. Diese Erscheinung ward mit allgemeinem Beifall aufgenommen; fremde Gäste fragten verwundert über die Mittel, wodurch ein so bedeutendes und Festlichkeit krönendes Feuergebilde habe veranstaltet werden können.

Sie erfuhren jedoch gar bald, daß dieses das Werk einer vereinigten Menge war und einer solchen, von der man es am wenigsten erwartet hätte.

Die Universitätsstadt Jena, deren unterste, ärmste Klasse sich so fruchtbar erweist, wie es in den größten Städten sich zu ereignen pflegt, wimmelt von Knaben verschiedenen Alters, welche man gar füglich den Lazzaronis vergleichen kann. Ohne eigentlich zu betteln, nehmen sie durch Vieltätigkeit das Wohltun der Einwohner, besonders aber der Studierenden in Anspruch. Bei vorzüglicher Frequenz der Akademie hatte sich diese Erwerbsklasse besonders vermehrt; sie standen am Markte und an den Straßenecken überall bereit, trugen Botschaften hin und wider, bestellten Pferde und Wagen, trugen die Stammbücher hin und her und sollizitierten das Einschreiben, alles gegen geringe Retributionen, welche denn doch ihnen und ihren Familien bedeutend zugute kamen. Man nannte sie »Mohren«, wahrscheinlich weil sie, von der Sonne verbrannt, sich durch eine dunklere Gesichtsfarbe auszeichneten.

Diese hatten sich schon lange her das Recht angemaßt, das Feuer auf der Spitze des Hausbergs anzuzünden und zu unterhalten, welches anzufachen und zu ernähren sie sich folgender Mittel bedienten: Ebenso den weiblichen Dienstboten der bürgerlichen Häuser als den Studierenden willfährig, wußten[124] sie jene durch manche Gefälligkeit zu verpflichten, dergestalt daß ihnen die Besenstumpfen das Jahr über aufbewahrt und zu dieser Festlichkeit abgeliefert wurden. Um diese regelmäßig in Empfang zu nehmen, teilten sie sich in die Quartiere der Stadt und gelangten am Abend des Johannistags scharenweis zusammen auf der Spitze des Hausberges an, wo sie dann ihre Reisfackeln so schnell als möglich entzündeten und sodann mit ihnen mancherlei Bewegungen machten, welche sich diesmal zu einem großen A gestalteten, da sie denn stillhielten und jeder an seinem Platze die Flamme so lange als möglich zu erhalten suchten.

Diese lebhafte Erscheinung, bei einem heitern Abendgelag' von versammelten Freunden gewahrt und bewundert, eignete sich auf alle Fälle, einigen Enthusiasmus zu erregen. Man stieß auf das Wohl der verehrten Fürstin an, und, da schon seit einiger Zeit eine immer ernstere Polizei dergleichen feurige Lustbarkeiten zu verbieten Anstalten machte, so bedauerte man, daß eine solche Seelenfreude künftig nicht mehr genossen werden sollte, und äußerte den Wunsch für die Dauer einer solchen Gewohnheit in dem heitern Toast:


Johannisfeuer sei unverwehrt,

Die Freude nie verloren!

Besen werden immer stumpf gekehrt

Und Jungens immer geboren.


Einer gründlichern Heiterkeit genoß man bei Untersuchung der dortigen wissenschaftlichen Anstalten; besonders hatte die Sammlung der Mineralogischen Gesellschaft an Reichtum und Ordnung merklich zugenommen. Die Blitzsinter, welche zu der Zeit erst lebhaft zur Sprache gekommen, gaben, wie es mit allem bedeutenden Neuen geschieht, dem Studium ein frisches Interesse. Geognostische Erfahrungen, geologische Gedanken in ein folgerechtes Anschauen einzuleiten, gedachte man an ein Modell, das beim ersten Anblick eine anmutige Landschaft vorstellen, deren Unebenheiten bei dem Auseinanderziehen des Ganzen durch die innerlich angedeuteten verschiedenen[125] Gebirgsarten rationell werden sollten. Eine Anlage im kleinen ward gemacht, anfänglich nicht ohne Erfolg, nachher aber durch andere Interessen beseitigt und durch streitige Vorstellungsarten über dergleichen problematische Dinge der Vergessenheit übergeben.

Die von Hofrat Büttner hinterlassene Bibliothek gab noch immer manches zu tun und das Binden der Bücher, das nachherige Einordnen manche Beschäftigung.

Höchst erfreulich aber bei allem diesem war der Besuch meines gnädigsten Herrn, welcher mit Geheimerat von Voigt, einem in diesen Geschäften eifrig mitwirkenden Staatsmanne, herüberkam. Wie belohnend war es, für einen solchen Fürsten zu wirken, welcher immer neue Aussichten dem Handeln und Tun eröffnete, sodann die Ausführung mit Vertrauen seinen Dienern überließ, immer von Zeit zu Zeit wieder einmal hereinsah und ganz richtig beurteilte, inwiefern man den Absichten gemäß gehandelt hatte, da man ihn denn wohl ein und das andere Mal durch die Resultate schnellerer Fortschritte zu überraschen wußte.

Bei seiner diesmaligen Anwesenheit wurde der Beschluß reif, ein anatomisches Museum einzurichten, welches bei Abgang eines Professors der Anatomie der wissenschaftlichen Anstalt verbleiben müsse. Es ward dieses um so nötiger, als bei Entfernung des bedeutenden Loderischen Kabinetts eine große Lücke in diesem Fach empfunden wurde. Professor Ackermann, von Heidelberg berufen, machte sich's zur Pflicht, sogleich in diesem Sinne zu arbeiten und zu sammeln, und unter seiner Anleitung gedieh gar bald das Unternehmen, zuerst im didaktischen Sinne, welcher durchaus ein anderer ist als der wissenschaftliche, der zugleich auf Neues, Seltenes, ja Kurioses Aufmerksamkeit und Bemühung richtet und nur in Gefolg des ersten allerdings Platz finden kann und muß.

Je weiter ich in meinen chromatischen Studien vorrückte, desto wichtiger und liebwerter wollte mir die Geschichte der Naturwissenschaften überhaupt er scheinen. Wer dem Gange einer höhern Erkenntnis und Einsicht getreulich folgt, wird zu[126] bemerken haben, daß Erfahrung und Wissen fortschreiten und sich bereichern können, daß jedoch das Denken und die eigentlichste Einsicht keineswegs in gleicher Maße vollkommener wird, und zwar aus der ganz natürlichen Ursache, weil das Wissen unendlich und jedem neugierig Umherstehenden zugänglich, das Überlegen, Denken und Verknüpfen aber innerhalb eines gewissen Kreises der menschlichen Fähigkeiten eingeschlossen ist; dergestalt daß das Erkennen der vorliegenden Weltgegenstände, vom Fixstern bis zum kleinsten lebendigen Lebepunkt, immer deutlicher und ausführlicher werden kann, die wahre Einsicht in die Natur dieser Dinge jedoch in sich selbst gehindert ist, und dieses in dem Grade, daß nicht allein die Individuen, sondern ganze Jahrhunderte vom Irrtum zur Wahrheit, von der Wahrheit zum Irrtum sich in einem stetigen Kreise bewegen.

In diesem Jahre war ich bis zu der wichtigen Zeit gelangt, wo die nachher Königlich genannte Englische Gesellschaft sich erst in Oxford, dann in London zusammentat, durch mannigfaltige wichtige Hindernisse aufgehalten, sodann durch den großen Brand in London in ihrer Tätigkeit unterbrochen, zuletzt aber immer mehr eingerichtet, geordnet und gegründet war.

Die Geschichte dieser Sozietät von Thomas Sprat las ich mit großem Beifall und bedeutender Belehrung, was auch strengere Forderer gegen diesen freilich etwas flüchtigen Mann mögen einzuwenden haben. Geistreich ist er immer und läßt uns in die Zustände recht eigentlich hineinblicken.

Die Protokolle dieser Gesellschaft, herausgegeben von Birch, sind dagegen unbestritten ganz unschätzbar. Die Anfänge einer so großen Anstalt geben uns genug zu denken. Ich widmete diesem Werke jede ruhige Stunde und habe von dem, was ich mir davon zugeeignet, in meiner »Geschichte der Farbenlehre« kurze Rechenschaft gegeben.

Hier darf ich aber nicht verschweigen, daß diese Werke von der Göttinger Bibliothek durch die Gunst des edlen Heyne mir zugekommen, dessen nachsichtige Geneigtheit durch viele[127] Jahre mir ununterbrochen zuteil ward, wenn er gleich öfters wegen verspäteter Zurücksendung mancher bedeutenden Werke einen kleinen Unwillen nicht ganz verbarg. Freilich war meine desultorische Lebens- und Studienweise meistens schuld, daß ich an tüchtige Werke nur einen Anlauf nehmen und sie wegen äußerer Zudringlichkeiten beiseite legen mußte in Hoffnung eines günstigern Augenblicks, der sich denn wohl auf eine lange Zeitstrecke verzögerte.

Winckelmanns frühere Briefe an Hofrat Berendis waren schon längst in meinen Händen, und ich hatte mich zu ihrer Ausgabe vorbereitet. Um das, was zu Schilderung des außerordentlichen Mannes auf mannigfaltige Weise dienen könnte, zusammenzustellen, zog ich die werten Freunde Wolf in Halle, Meyer in Weimar, Fernow in Jena mit ins Interesse, und so bildete sich nach und nach der Oktavband, wie er sodann in die Hände des Publikums gelangte.

Ein französisches Manuskript, Diderots »Neffe«, ward mir von Schillern eingehändigt mit dem Wunsche, ich möchte solches übersetzen. Ich war von jeher zwar nicht für Diderots Gesinnungen und Denkweise, aber für seine Art der Darstellung als Autor ganz besonders eingenommen, und ich fand das mir vorliegende kleine Heft von der größten, aufregenden Trefflichkeit. Frecher und gehaltener, geistreicher und verwegener, unsittlich-sittlicher war mir kaum etwas vorgekommen; ich entschloß mich daher sehr gern zur Übersetzung, rief zu eignem und fremdem Verständnis das früher Eingesehene aus den Schätzen der Literatur hervor, und so entstand, was ich unter der Form von Noten in alphabetischer Ordnung dem Werk hinzufügte und es endlich bei Göschen herausgab. Die deutsche Übersetzung sollte vorausgehen und das Original bald nachher abgedruckt werden. Hievon überzeugt, versäumte ich, eine Abschrift des Originals zu nehmen, woraus, wie später zu erzählen sein wird, gar wunderliche Verhältnisse sich hervortaten.

Die neue »Allgemeine Literaturzeitung« bewegte sich mit jedem Monat lebendiger vorwärts, nicht ohne mancherlei Anfechtungen,[128] doch ohne eigentliches Hindernis. Alles Für und Wider, was hier durchgefochten werden mußte, im Zusammenhang zu erzählen würde keine unangenehme Aufgabe sein, und der Gang eines wichtigen literarischen Unternehmens wäre jedenfalls belehrend. Hier können wir uns jedoch nur durch ein Gleichnis ausdrücken. Der Irrtum jenseits bestand darin: Man hatte nicht bedacht, daß man von einem militärisch günstigen Posten wohl eine Batterie wegführen und an einen andern bedeutenden versetzen kann, daß aber dadurch der Widersacher nicht verhindert wird, an der verlassenen Stelle sein Geschütz aufzufahren, um für sich gleiche Vorteile daraus zu gewinnen. An der Leitung des Geschäftes nahm ich fortwährenden lebhaften Anteil; von Rezensionen, die ich lieferte, will ich nur die der Vossischen Gedichte nennen und bezeichnen.

Im Jahre 1797 hatte ich mit dem aus Italien zurückkehrenden Freunde Meyer eine Wanderung nach den kleinen Kantonen, wohin mich nun schon zum dritten Male eine unglaubliche Sehnsucht anregte, heiter vollbracht. Der Vierwaldstätter See, die Schwyzer Haggen, Flüelen und Altdorf, auf dem Hin- und Herwege nur wieder mit freiem, offenem Auge beschaut, nötigten meine Einbildungskraft, diese Lokalitäten als eine ungeheure Landschaft mit Personen zu bevölkern, und welche stellten sich schneller dar als Tell und seine wackern Zeitgenossen? Ich ersann hier an Ort und Stelle ein episches Gedicht, dem ich um so lieber nachhing, als ich wünschte, wieder eine größere Arbeit in Hexametern zu unternehmen, in dieser schönen Dichtart, in die sich nach und nach unsre Sprache zu finden wußte, wobei die Absicht war, mich immer mehr durch Übung und Beachtung mit Freunden darin zu vervollkommnen.

Von meinen Absichten melde nur mit wenigem, daß ich in dem Tell eine Art von Demos darzustellen vorhatte und ihn deshalb als einen kolossal kräftigen Lastträger bildete, die rohen Tierfelle und sonstige Waren durchs Gebirg herüber und hinüber zu tragen sein Leben lang beschäftigt und, ohne sich weiter um Herrschaft noch Knechtschaft zu bekümmern, sein[129] Gewerbe treibend und die unmittelbarsten persönlichen Übel abzuwehren fähig und entschlossen. In diesem Sinne war er den reichern und höhern Landsleuten bekannt und harmlos übrigens auch unter den fremden Bedrängern. Diese seine Stellung erleichterte mir eine allgemeine, in Handlung gesetzte Exposition, wodurch der eigentliche Zustand des Augenblicks anschaulich ward.

Mein Landvogt war einer von den behaglichen Tyrannen, welche herz- und rücksichtlos auf ihre Zwecke hindringen, übrigens aber sich gern bequem finden, deshalb auch leben und leben lassen, dabei auch humoristisch gelegentlich dies oder jenes verüben, was entweder gleichgültig wirken oder auch wohl Nutzen und Schaden zur Folge haben kann. Man sieht aus beiden Schilderungen, daß die Anlage meines Gedichtes von beiden Seiten etwas Läßliches hatte und einen gemessenen Gang erlaubte, welcher dem epischen Gedichte so wohl ansteht. Die älteren Schweizer und deren treue Repräsentanten, an Besitzung, Ehre, Leib und Ansehn verletzt, sollten das sittlich Leidenschaftliche zur inneren Gärung, Bewegung und endlichem Ausbruch treiben, indes jene beiden Figuren persönlich gegeneinander zu stehen und unmittelbar aufeinander zu wirken hatten.

Diese Gedanken und Einbildungen, sosehr sie mich auch beschäftigt und sich zu einem reifen Ganzen gebildet hatten, gefielen mir, ohne daß ich zur Ausführung mich hätte bewegt gefunden. Die deutsche Prosodie, insofern sie die alten Silbenmaße nachbildete, ward, anstatt sich zu regeln, immer problematischer; die anerkannten Meister solcher Künste und Künstlichkeiten lagen bis zur Feindschaft in Widerstreit. Hierdurch ward das Zweifelhafte noch ungewisser; mir aber, wenn ich etwas vorhatte, war es unmöglich, über die Mittel erst zu denken, wodurch der Zweck zu erreichen wäre; jene mußten mir schon bei der Hand sein, wenn ich diesen nicht alsobald aufgeben sollte.

Über dieses innere Bilden und äußere Unterlassen waren wir in das neue Jahrhundert eingetreten. Ich hatte mit Schiller[130] diese Angelegenheit oft besprochen und ihn mit meiner lebhaften Schilderung jener Felswände und gedrängten Zustände oft genug unterhalten, dergestalt daß sich bei ihm dieses Thema nach seiner Weise zurechtstellen und formen mußte. Auch er machte mich mit seinen Ansichten bekannt, und ich entbehrte nichts an einem Stoff, der bei mir den Reiz der Neuheit und des unmittelbaren Anschauens verloren hatte, und überließ ihm daher denselben gerne und förmlich, wie ich schon früher mit den »Kranichen des Ibykus« und manchem andern Thema getan hatte; da sich denn aus jener obigen Darstellung, verglichen mit dem Schillerischen Drama, deutlich ergibt, daß ihm alles vollkommen angehört und daß er mir nichts als die Anregung und eine lebendigere Anschauung schuldig sein mag, als ihm die einfache Legende hätte gewähren können.

Eine Bearbeitung dieses Gegenstandes ward immerfort, wie gewöhnlich, unter uns besprochen, die Rollen zuletzt nach seiner Überzeugung ausgeteilt, die Proben gemeinschaftlich vielfach und mit Sorgfalt behandelt; auch suchten wir in Kostüm und Dekoration nur mäßig, wiewohl schicklich und charakteristisch, zu verfahren, wobei, wie immer, mit unsern ökonomischen Kräften die Überzeugung zusammentraf, daß man mit allem Äußern mäßig verfahren, hingegen das Innere, Geistige so hoch als möglich steigern müsse. Überwiegt jenes, so erdrückt der einer jeden Sinnlichkeit am Ende doch nicht genugtuende Stoff alles das eigentlich höher Geformte, dessentwegen das Schauspiel eigentlich nur zulässig ist. Den 17. März war die Aufführung und durch diese erste wie durch die folgenden Vorstellungen, nicht weniger durch das Glück, welches dieses Werk durchaus machte, die darauf gewendete Sorgfalt und Mühe vollkommen gerechtfertigt und belohnt.

Der Verabredung mit Schiller gemäß, ein Repertorium unsers deutschen Theaters nach und nach zu bilden, versuchte ich mich an »Götz von Berlichingen«, ohne dem Zweck genugtun zu können. Das Stück blieb immer zu lang; in zwei Teile geteilt, war es unbequem, und der fließende historische Gang hinderte durchaus ein stationäres Interesse der Szenen, wie es[131] auf dem Theater gefordert wird. Indessen war die Arbeit angefangen und vollendet, nicht ohne Zeitverlust und sonstige Unbilden.

In diesen Zeiten meldete sich auch bei mir Graf Zenobio, um die fünfzig Karolin wieder zu empfangen, die er vor einigen Jahren bei mir niedergelegt hatte. Sie waren als Preis ausgesetzt für die beste Auflösung einer von ihm gestellten Frage, die ich gegenwärtig nicht mehr zu artikulieren wüßte, die aber auf eine wunderliche Weise da hinausging: wie es eigentlich von jeher mit der Bildung der Menschen und menschlicher Gesellschaft zugegangen sei. Man hätte sagen mögen, die Antwort sei in Herders »Ideen« und sonstigen Schriften der Art schon enthalten gewesen; auch hätte Herder in seinem früheren Vigor, um diesen Preis zu gewinnen, wohl noch einmal zu einem faßlichen Resümee seine Feder walten lassen.

Der gute, wohldenkende Fremde, der sich's um die Aufklärung der Menschen etwas wollte kosten lassen, hatte sich von der Universität Jena eine Vorstellung gemacht, als wenn es eine Akademie der Wissenschaften wäre. Von ihr sollten die eingekommenen Arbeiten durchgesehen und beurteilt werden. Wie sonderbar eine solche Forderung zu unsern Zuständen paßte, ist bald übersehen. Indessen besprach ich die Sache mit Schillern weitläufig, sodann auch mit Griesbach. Beide fanden die Aufgabe allzuweit umgreifend und doch gewissermaßen unbestimmt. In wessen Namen sollte sie ausgeschrieben, von wem sollte sie beurteilt werden, und welcher Behörde durfte man zumuten, die eingehenden Schriften, welche nicht anders als umfänglich sein konnten, selbst von dem besten Kopfe ausgearbeitet, durchzuprüfen? Der Konflikt zwischen den Anatoliern und Ökumeniern war damals lebhafter als jetzt; man fing an, sich zu überzeugen, daß das Menschengeschlecht überall unter gewissen Naturbedingungen habe entstehen können und daß jede so entstehende Menschenrasse sich ihre Sprache nach organischen Gesetzen habe erfinden müssen. Jene Frage nötigte nun, auf diese Anfänge hinzudringen. Entschied man sich fur eine Seite, so konnte der Aufsatz keinen allgemeinen Beifall[132] erwarten; schwanken zwischen beiden war nicht ein leichtes. Genug, nach vielen Hin- und Widerreden ließ ich Preis und Frage ruhen, und vielleicht hatte unser Mäzen in der Zwischenzeit andere Gedanken gefaßt und glaubte sein Geld besser anwenden zu können, welches aus meiner Verwahrung und Verantwortung loszuwerden für mich ein angenehmes Ereignis war.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 119-133.
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