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[59] Der Vorhang geht auf, und es zeigt sich ein Saal mit ägyptischen Bildern und Zieraten. In der Mitte steht ein tiefer Sessel, auf welchem eine in Goldstoff gekleidete Person zurückgelehnt liegt, deren Haupt mit einem weißen Schleier bedeckt ist. Zur rechten Hand kniet der Domherr, zur linken der Ritter, vorwärts neben dem Domherrn die Marquise, neben dem Ritter der Marquis, dann die Nichte. Die Musik verliert sich.
DOMHERR. Erhabener unsterblicher Greis! Du erlaubst Unwürdigen, sich deinen Füßen zu nähern, Gnade und Hülfe von dir zu erbitten. Du schläfst, oder vielmehr du scheinst zu schlafen: denn wir wissen, daß du selbst in deiner Ruhe aufmerksam und tätig bist und das Wohl der Menschen beförderst. Gib uns ein Zeichen, daran wir erkennen, daß du uns hörst, daß du uns hold bist!
Musik, nur wenige Töne. Der Verschleierte hebt die rechte Hand auf.
RITTER. Du siehst hier eine Anzahl Menschen vor dir, die, aufgemuntert durch das Versprechen deines würdigsten Schülers, in vollem Vertrauen sich zu dir nahen und hoffen, daß du ihre Bedürfnisse befriedigen werdest. Freilich sind diese Bedürfnisse sehr verschieden; doch selbst das Mannigfaltigste wird einfach vor deinem allgemeinen Blick, vor deiner ausgebreiteten Macht. Wirst du uns erhören, wenn wir gleich unwürdig sind?
Musik, wie oben, nach Verhältnis. Der Verschleierte richtet sich auf.
[59]
MARQUISE. Verzeihe der Ungeduld eines Weibes, laß uns dein Angesicht sehen, wir schmachten schon monatelang nach deiner Gegenwart.
Musik, wie oben. Der Verschleierte steht auf und bleibt vor dem Sessel stehen.
MARQUIS. Erlaube, daß wir uns dir nahen, daß wir den Saum deines Rockes küssen. Die Wünsche, die so lange in unsern Herzen schliefen, sind jetzt aufgewacht; in deiner Gegenwart werden sie unerträglich unruhig.
Musik, wie oben. Der Verschleierte tritt sachte die Stufen herunter.
NICHTE leise. Mir zittern alle Glieder!
DOMHERR. Versage uns nicht länger den Glanz deines Angesichts!
ALLE. Großer Kophta, wir bitten!
Musik, wenige rasche Töne.
Der Schleier fällt.
ALLE indem sie auf einmal aufstehen und weiter vortreten. Der Graf!
Die Jünglinge stehen auf.
GRAF der hervortritt. Ja, der Graf! Der Mann, den ihr bisher mit einem Namen nanntet, unter dem ihn die Welt in dem gegenwärtigen Augenblicke kennt. O ihr Blinden! Ihr Hartherzigen! Fast ein Jahr gehe ich mit euch um, ich unterrichte eure Unwissenheit, ich belebe euren toten Sinn, ich deute euch auf den Großkophta, ich gebe euch die entscheidendsten Winke; und es geht euch kein Licht auf, daß ihr denselben Mann, den ihr sucht, beständig vor euch habt, daß ihr die Güter, nach denen ihr euch sehnt, täglich von seinen Händen empfangt, daß ihr mehr Ursache habt, zu danken als zu bitten. Doch ich habe Mitleiden mit eurem irdischen Sinn, ich lasse mich zu eurer Schwäche herab. Seht mich denn in meiner Herrlichkeit; mögen eure Augen mich erkennen, wenn euer Herz mich[60] verkannt hat! Und wenn die Gewalt, die ich über eure Gemüter ausübte, euren Glauben schwach ließ, so glaubt nun an die Wunder, die ich außer euch, aber in eurer Gegenwart vollende!
DOMHERR beiseite. Ich erstaune!
RITTER beiseite. Ich verstumme!
MARQUISE beiseite. Seine Unverschämtheit übertrifft meine Erwartung.
MARQUIS beiseite. Ich bin neugierig, zu sehen, wo das hinauswill.
GRAF. Ihr steht bestürzt? Ihr seht vor euch nieder? Ihr getraut euch kaum, mich von der Seite anzublicken? Wendet euer Gesicht zu mir, seht mir freudig und zutraulich in die Augen, werft alle Furcht weg und erhebt euer Herz! – Ja, ihr seht den Mann vor euch, der, so alt als die ägyptischen Priester, so erhaben als die indischen Weisen, sich in dem Umgange der größten Männer gebildet hat, die ihr seit Jahrhunderten bewundert; der über allen Rang erhaben ist, keiner Güter bedarf, in der Stille das Gute wirkt, das die Welt bald dieser, bald jener Ursache zuschreibt; der in einer geheimen, durch die ganze Welt ausgebreiteten Gesellschaft von Männern lebt, die mehr oder weniger einander gleich sind, sich selten persönlich, öfters aber durch ihre Werke offenbaren.
DOMHERR. Ist es möglich, daß es noch mehrere deinesgleichen gebe?
GRAF in die Höhe deutend. Alles findet seinesgleichen, außer ein Einziger!
RITTER. Welch ein erhabener Gedanke!
MARQUISE beiseite. Welch ein Schelm! Das Heiligste in seine Lüge zu verweben!
GRAF. Ja, seht her. Diesem Haupte kann die brennende Sonne, der beizende Schnee nichts anhaben. Mit diesem unbewehrten vorgestreckten Arm habe ich in den libyschen Wüsten einen brüllenden hungrigen Löwen aufgehalten, mit dieser Stimme, die zu euch spricht, ihm gedroht,[61] bis er mir zu meinen Füßen schmeichelte. Er erkannte seinen Herrn, und ich konnte ihn nachher auf die Jagd ausschicken; nicht für mich, der ich blutige Speise nicht genieße, ja kaum einer irdischen Speise bedarf, sondern für meine Schüler, für das Volk, das sich oft in der Wüste um mich versammelte. Diesen Löwen habe ich in Alexandrien gelassen; ich werde bei meiner Rückkunft einen treuen Gefährten an ihm finden.
DOMHERR. Haben die übrigen Meister deiner Gesellschaft auch so große Fähigkeiten als du?
GRAF. Die Gaben sind verschieden ausgeteilt; keiner von uns darf sagen: er sei der größte.
RITTER. Ist denn der Zirkel dieser großen Männer geschlossen, oder ist es möglich, darin aufgenommen zu werden?
GRAF. Vielen wäre es möglich; wenigen gelingt es. Die Hindernisse sind zu groß.
DOMHERR. Wenn uns deine Erscheinung nicht unglücklicher machen soll, als wir bisher waren, so gib uns wenigstens einen Wink, wohin wir unsere Aufmerksamkeit, unser Bestreben richten sollen?
GRAF. Das ist mein Vorsatz. – Nach allen Prüfungen, die ihr ausgestanden habt, ist es billig, daß ich euch einen Schritt weiter führe, daß ich euch gleichsam eine Magnetnadel in die Hand gebe, die euch zeige, wohin ihr eure Fahrt zu richten habt. Vernehmt! –
DOMHERR. Ich bin ganz Ohr!
RITTER. Meine Aufmerksamkeit kann nicht höher gespannt werden!
MARQUIS beiseite. Ich bin äußerst neugierig!
MARQUISE beiseite. Was wird er vorbringen?
GRAF. Wenn der Mensch, mit seinen natürlichen Kräften nicht zufrieden, etwas Besseres ahnet, etwas Höheres begehrt; wenn er sich eine unverwüstliche Gesundheit, ein dauerhaftes Leben, einen unerschöpflichen Reichtum, die Neigung der Menschen, den Gehorsam der Tiere, ja sogar Gewalt über Elemente und Geister stufenweise zu verschaffen[62] denkt: so kann es nicht ohne tiefe Kenntnis der Natur geschehen. Hierzu eröffne ich euch die Pforte. – – Die größten Geheimnisse, Kräfte und Wirkungen liegen verborgen – – in verbis, herbis et lapidibus.
ALLE. Wie?
GRAF. In Worten, Kräutern und Steinen.
Pause.
MARQUISE für sich. In Steinen? Wenn er die meint, die ich in der Tasche habe, so hat er vollkommen recht.
MARQUIS. In Kräutern? Man sagt, es sei kein Kraut gewachsen, das unser bestimmtes Lebensziel verlängern könne; und doch muß Ihnen ein solches Kraut bekannt sein, da Sie Ihr Leben nicht allein hoch gebracht, sondern auch Ihre Kräfte, Ihr äußeres Ansehen so lange erhalten haben.
GRAF. Die Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache.
DOMHERR. In Worten? Hier ahne ich das meiste, erhabner Lehrer. Gewiß habt Ihr eine Sprache, eine Schrift, wodurch ganz andere Dinge bezeichnet werden als mit unsern armseligen Lauten, wodurch wir nur die gemeinsten Dinge auszudrücken imstande sind. Gewiß besitzest du die geheimnisvollen Zeichen, mit denen Salomon die Geister bezwang?
GRAF. Alle diese, ja die sonderbarsten Charaktere, die man jemals gesehen hat, Worte, die eine menschliche Lippe kaum auszusprechen vermag.
RITTER. O lehre sie uns nach und nach buchstabieren.
GRAF. Vor allen Dingen müßt ihr erkennen, daß es nicht auf die Lippen ankommt, nicht auf die Silben, die ausgesprochen werden, sondern auf das Herz, das diese Worte nach den Lippen sendet. Ihr sollt erfahren, was eine unschuldige Seele für Gewalt über die Geister hat.
NICHTE für sich. Ach Gott! Nun wird er mich vorrufen; ich zittre und bebe! Wie schlecht werde ich meine Rolle spielen! Ich wollte, ich wäre weit von hier, ich hätte diesen Menschen niemals gesehen.[63]
GRAF. Tritt herbei, schönes unschuldiges Kind! Ohne Furcht, ohne Sorge, tritt näher, mit einer holden Freude, daß du zu dem Glück auserlesen bist, wornach so viele sich sehnen.
DOMHERR. Was soll das geben?
RITTER. Was haben Sie vor?
GRAF. Wartet und merket auf!
Musik. Der Graf gibt ein Zeichen. Ein Dreifuß steigt aus dem Boden, auf welchem eine erleuchtete Kugel befestigt ist. Der Graf winkt der Nichte und hängt ihr den Schleier über, der ihn vorher bedeckt hat, doch so, daß ihr Gesicht frei bleibt; sie tritt hinter den Dreifuß. Bei dieser Pantomime legt der Graf sein gebieterisches Wesen ab; er zeigt sich sehr artig und gefällig, gewissermaßen ehrerbietig gegen sie. Die Kinder mit den Rauchfässern treten neben den Dreifuß. Der Graf steht zunächst der Nichte, die übrigen gruppieren sich mit Verstand. Die
Jünglinge stehen ganz vorn. Die Nichte sieht auf die Kugel, die Gesellschaft auf sie, mit der größten Aufmerksamkeit. Sie scheint einige Worte auszusprechen, sieht wieder auf die Kugel und biegt sich dann erstaunt, wie jemand, der was Unerwartetes sieht, zurück und bleibt in der Stellung stehen. Die Musik hört auf.
GRAF. Was siehst du, geliebte Tochter? Erschrick nicht, fasse dich! Wir sind bei dir, mein Kind!
RITTER. Was kann sie sehen? Was wird sie sagen?
DOMHERR. Still, sie spricht!
Nichte spricht einige Worte, aber leise, daß man sie nicht verstehen kann.
GRAF. Laut, meine Tochter, lauter, daß wir es alle verstehen!
NICHTE. Ich sehe Kerzen, helle brennende Kerzen in einem prächtigen Zimmer. Jetzt unterscheide ich chinesische Tapeten, vergoldetes Schnitzwerk, einen Kronleuchter. Viele Lichter blenden mich.
GRAF. Gewöhne dein Auge, sieh starr hin; was siehst du weiter? Ist niemand im Zimmer?
NICHTE. Hier! – Laßt mir Zeit – hier in dem Schimmer[64] beim Kerzenlichte – am Tische sitzend – erblick ich eine Dame; sie schreibt, sie liest.
DOMHERR. Sag, kannst du sie erkennen? Wie sieht sie aus? Wer ist's? Verschweige nichts!
NICHTE. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen; die ganze Gestalt schwankt vor meinen Augen wie ein Bild auf bewegtem Wasser.
MARQUISE für sich. Ganz vortrefflich spielt das gute Kind uns ihre Lektion vor.
MARQUIS für sich. Ich bewundere die Verstellung. Liebe Natur, wozu bist du nicht fähig!
NICHTE. Jetzt! jetzt! Ihr Kleid kann ich deutlicher sehen; himmelblau fällt es um ihren Sessel, und wie der Himmel ist es mit silbernen Sternen besät.
DOMHERR zur Marquise. Nun werde ich ganz glücklich! Es ist die geliebte Fürstin. Man sagte mir von diesem Kleide, blau mit silbernen Muschen, die den Augen des Kindes als Sterne erscheinen. Horch!
NICHTE. Was seh ich! Großer Meister, erhabener Kophta, entlaß mich! Ich sehe fürchterliche Dinge.
GRAF. Bleibe getrost und sprich: was siehst du?
NICHTE. Ich sehe zwei Geister hinter dem Stuhle; sie flüstern einer um den andern der Dame zu.
GRAF. Sind sie häßlich?
NICHTE. Sie sind nicht häßlich, aber mich schaudert's.
GRAF zum Domherrn. Diese Geister sprechen zum Vorteil eines Freundes. Kannst du die Dame erkennen? Kennst du den Freund?
DOMHERR ihm die Hand küssend. Du bist ewig meiner Dankbarkeit versichert!
NICHTE. Sie wird unruhig; das Flüstern der Geister hindert sie am Lesen, hindert sie am Schreiben; ungeduldig steht sie auf; die Geister sind weg. Sie wendet ihr Gesicht ab. Laßt mich einen Augenblick.
GRAF. Nur gelassen, meine Tochter! Wenn du wüßtest, unter welchem Schutze du stehst! Er unterstützt sie.[65]
RITTER für sich. O wie sie liebenswürdig ist! Wie reizend in ihrer Unschuld! Nie hat mich ein Mädchen so gerührt. Nie hab ich eine solche Neigung empfunden! Wie sorge ich für das gute Kind! Gewiß, der Domherr, die Tante – das himmlische Wesen ahnet nicht, in welcher Gefahr sie schwebt! O wie gern möcht ich sie aufmerksam machen, sie retten, wenn ich mich auch ganz dabei vergessen sollte.
GRAF. Nimm dich zusammen, meine Taube, sieh hin; gewiß, du hast uns noch mehr zu offenbaren!
NICHTE auf die Kugel blickend. Sie tritt ans Kamin, sie blickt in den Spiegel! Ahi!
GRAF. Was ist dir?
NICHTE. Ahi!
MARQUISE. Was hast du?
NICHTE. Ach, in dem Spiegel steht der Domherr.
DOMHERR. Welche Glückseligkeit! Meister – ich – wie soll ich dir danken! Das tust du alles für mich!
NICHTE. Sie sieht hinein, sie lächelt; weg ist der Domherr, sie sieht sich selbst.
RITTER. Welche Wunderkraft! Welche Gaben!
NICHTE mit einem gefühlvollen freudigen Ausdruck. Ja nun! – Ich sehe alles nun deutlich, ich sehe die herrliche Schönheit, das liebenswürdige Gesicht. Wie ihm die Traurigkeit so schön steht, die sich über alle Züge verbreitet.
DOMHERR der bisher die Hände des Grafen gehalten und sie öfters geküßt. Unaussprechlich, unbeschreiblich beglückst du deinen Knecht!
NICHTE. Sie wird unruhig, das Zimmer scheint ihr zu enge, sie geht nach der Glastüre, sie will hinaus. Ach! Ach! –
GRAF. Ermanne dich! Nur noch einen Augenblick! Sieh noch einmal hin!
NICHTE verwirrt. Die Geister stehn ihr zur Seite. Sie öffnen die Türe, draußen ist's dunkel.
MARQUISE zum Domherrn. Sie geht dir entgegen.[66]
DOMHERR. Ist's möglich!
MARQUISE. Du wirst's erfahren.
NICHTE. Ach! Sie fällt in Ohnmacht.
RITTER. O Gott! Helft ihr! Schont sie! Es ist unverzeihlich, daß Ihr sie nicht eher entlassen habt!
MARQUISE. Hier ist Salz.
Die Hauptpersonen drängen sich zu ihr, die Jünglinge treten aus dem Proscenio ins Theater, die Kinder furchtsam zu ihnen. Es macht alles eine schöne, aber wilde Gruppe.
GRAF. Überlaßt sie mir! Nur durch himmlischen Balsam kann sie erquickt werden.
Der Vorhang fällt.
Ausgewählte Ausgaben von
Der Großkophta
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