Siebenter Auftritt

[75] Die Nichte. Der Marquis.


MARQUIS halb in der Türe. Sind Sie allein, Nichte? Nur ein Wort!

NICHTE indem der Marquis wieder zur Tür hinaussieht, betrachtet sie sich geschwind im Spiegel. Ich sehe verweint, verworren aus! Was werd ich sagen?

MARQUIS sie umarmend und fest an sich drückend. Süßes, holdes Geschöpf!

NICHTE ihn zurückhaltend. Um Gottes willen, Marquis!

MARQUIS. Wir sind allein, fürchten Sie nichts!

NICHTE sich von ihm losmachend. Die Marquise erwartet mich.

Beiseite. Wenn der Ritter noch da wäre!

MARQUIS. Was haben Sie? Sie sehen ganz verstört aus.[75]

NICHTE. Ach Gott! Die Zumutungen meiner Tante –

MARQUIS. Du dauerst mich, liebes Kind; aber ich will dich retten.

NICHTE. Sie wissen doch, heute nacht soll ich die Rolle der Prinzessin spielen. Es ist erschrecklich! Kommen Sie! Sie sieht sich inzwischen furchtsam nach der Garderobetür um.

MARQUIS. Bleiben Sie, bleiben Sie, eben deswegen bin ich hier! Spielen Sie heute nacht Ihre Rolle nur gut, Sie haben nichts zu besorgen.

NICHTE. So lassen Sie uns gehen.

MARQUIS. Nein doch; ich wollte Ihnen sagen –

NICHTE. Dazu ist's morgen Zeit.

MARQUIS. Keineswegs! Sie scheinen diese Abenteuer weniger zu fürchten, als Sie sollten.

NICHTE wie oben. Ich bin in der größten Verlegenheit!

MARQUIS. Es steht Ihnen noch etwas Seltsames diese Nacht bevor, an das Sie nicht denken.

NICHTE. Was denn? Sie erschrecken mich!

MARQUIS. Daß Sie mit mir wegreisen werden.

NICHTE. Mit Ihnen?

MARQUIS. Und das sagen Sie mit einer Art von Widerwillen?

NICHTE. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

MARQUIS. Ich werde Sie leicht aufklären. Die Maskerade, zu der Sie angezogen sind, ist nicht ein bloßer Scherz. Meine Frau hat im Namen der Prinzessin den Domherrn um einen wichtigen Dienst ersucht, und Sie sollen die Dankbarkeit der Fürstin gegen den betrogenen Mann ausdrücken.

NICHTE wie oben in Verlegenheit. Ich soll ihm eine Rose geben.

MARQUIS. Eine würdige Belohnung für einen solchen Dienst! Denn zu nichts Geringerem hat sich die blinde Leidenschaft des Domherrn bereden lassen, als das schöne Halsband von den Hofjuwelieren zu kaufen.

NICHTE. Das Halsband?[76]

MARQUIS. Das wir gestern so sehr bewunderten, als wir diesen Ring kauften.

NICHTE. Es ist nicht möglich!

MARQUIS. So gewiß, daß ich schon einen Teil davon in der Tasche habe.

NICHTE. Sie? Was soll das heißen? – Man könnte horchen.

MARQUIS. So treten Sie hieher! Er nähert sich der Garderobe. Ja, mein Kind! Der Domherr besaß es kaum eine Viertelstunde; gleich war es in den Händen meiner Frau, um es der Prinzessin noch heute abend zu überliefern. Wie glücklich war das Weib in diesem Augenblick, und ich nicht weniger! Unbarmherzig brach sie die schöne Arbeit voneinander; es tat mir im Herzen weh, den kostbaren Schmuck so zerstört zu sehen, und ich konnte nur durch das herrliche Paketchen getröstet werden, das sie mir zu meiner Reise zubereitete. Ich habe wenigstens für hunderttausend Livres Steine in der Tasche. Ich geh noch heute nach England ab, mache dort alles zu Gelde, schaffe Silbergeschirr und Kostbarkeiten in Menge.

NICHTE welche bisher die größte Verlegenheit verborgen. Welche gefährliche Unternehmung!

MARQUIS. Wir müssen jetzt nicht sorgen, sondern wagen.

NICHTE. Ich wünsche Ihnen Glück!

MARQUIS. Nein, du sollst es mir bringen! Du sollst und mußt meine Reisegefährtin sein.

NICHTE. Sie wollen mich dieser Gefahr aussetzen?

MARQUIS. Die Gefahr ist weit größer, wenn du zurückbleibst. Meine Frau ist verwegen genug, das Märchen, solang es nur gehen will, durchzuspielen. – Bis der erste Zahlungstermin kommt, ja noch weiter, ist sie ziemlich sicher. Indes kann ich dich nicht hier lassen.

NICHTE. Bedenken Sie –

MARQUIS. Ich weiß nicht, wie ich dein Betragen erklären soll. Wär es möglich, daß man mir schon dein Herz entwendet hätte? – Nein, es ist nicht möglich! Du bist verlegen, aber nicht verändert. Laß dich nicht etwa den[77] anscheinenden Reichtum des Domherrn blenden; wir sind jetzt reicher als er, der in kurzem sich in der größten Verlegenheit sehen wird. Ich habe alles genau berechnet. Du magst heute nacht die Person der Prinzessin noch vorstellen. – Es ist die Absicht meiner Frau, daß ich euch hinausbegleiten und dann gleich weiterfahren soll. Ich nehme deswegen einen besondern Wagen. Ist die Szene vorbei, so erkläre ich der Marquise kurz und gut, daß du mich begleitest. Du magst ein wenig widerstehen, ich führe dich mit Gewalt weg. Lärm darf sie nicht machen, aus Furcht, daß alles verraten wird. – Du hörst nicht zu; was ist dir?

NICHTE. Verzeihen Sie mir – dieser Vorschlag – Ich bin verwirrt – ich verstumme! Bedenken Sie, in welcher Lage wir die Tante zurücklassen!

MARQUIS. Sie wird sich schon helfen, sie ist klug genug. Sie hat diese Sache so weit gebracht, und wir verderben ihr nichts an ihrem Plan. Genug, ich will, ich kann dich nicht entbehren, und wenn du je an meiner Liebe zweifeltest, so siehst du nun, wie heftig sie ist. Ich werde dich nicht hier lassen, so vielen Nachstellungen, so vielen Gefahren ausgesetzt; nicht acht Tage, so hab ich dich verloren. Die unsinnige Leidenschaft des Domherrn zur Fürstin hält ihn nicht von andern Liebeshändeln zurück. Nur wenige Tage, und du wirst unter dem Schleier seine Gebieterin und ohne Schleier sein gehorsamstes Liebchen sein. Komm! – So hab ich es beschlossen, und davon laß ich nicht ab. Er umarmt sie. Du bist mein geworden, und niemand soll dich mir rauben! Meine Frau war mir niemals hinderlich, und wenn sie die Steine glücklich davonbringt, wird sie uns gern verzeihen. – Wie ist dir? Du bist nicht bei dir!

NICHTE. Es ist um mich geschehen! Führen Sie mich, wohin Sie wollen.

MARQUIS. Wisse nur, es ist schon alles richtig. Unter einem andern Vorwande habe ich von deinem Kammermädchen[78] nur das Notwendigste zusammenpacken lassen. Es kommt auf wenige Tage an, so sind wir neu und besser als jemals gekleidet. Wir wollen uns nicht mit alter Trödelware beschweren. Er führt die Nichte ab, die ihm trostlos folgt und nochmals zurück nach der Garderobetür sieht.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 75-79.
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