Sechster Auftritt

[87] Die Vorigen. Die Marquise. Der Marquis, hernach der Oberste der Schweizergarde. Schweizer.


MARQUISE zwischen die beiden hineintretend. Eilen Sie, mein Freund, entfernen Sie sich; ich habe ein Geräusch gehört, Sie sind keinen Augenblick sicher. Man könnte die Prinzessin im Schlosse vermissen; eilen Sie, wir müssen weg.

DOMHERR sich losreißend. Ich muß, ich will hinweg. Leben Sie wohl, lassen Sie mich keine Ewigkeit schmachten. Er geht sachte nach der linken Seite des Grundes.

MARQUISE. Nun folgen Sie mir, Nichte. Leben Sie wohl, Marquis, machen Sie Ihre Sachen gut, Sie sollen Ihre Frau – Ihre Freundin bald wiedersehn. Umarmen Sie ihn zum Abschied, Nichte.

DER MARQUIS umarmt die Nichte und zieht sie auf seine Seite herüber. Hierher, schönes Kind, kommen Sie mit mir; vor jener Türe steht mein Wagen.

DIE NICHTE zaudernd. O Gott, was will das werden!

MARQUISE nach der Nichte greifend. Was heißt das, Marquis? Sind Sie toll?[87]

MARQUIS. Machen Sie keinen Lärm; das Mädchen ist mein. Lassen Sie mir dieses Geschöpf, in das ich rasend verliebt bin, und ich verspreche Ihnen dagegen, alles treulich auszurichten, was Sie mir aufgetragen haben. Ich gehe nach England, besorge Ihre Geschäfte, wir erwarten Sie dort und wollen Sie wohl und redlich empfangen; aber lassen Sie mir das Mädchen.

MARQUISE. Es ist nicht möglich! Folgen Sie mir, Nichte. Was sagen Sie zu der Verwegenheit meines Mannes? Reden Sie! Sind Sie mit ihm einverstanden?

NICHTE zaudernd. Meine Tante –

MARQUIS sie fortziehend. Gestehn Sie es ihr, keine Verstellung! Es ist abgeredet! Kommen Sie! Keinen Widerstand, oder ich mache Lärm und bin in diesem Augenblicke meiner Verzweiflung fähig, uns alle zu verraten.

MARQUISE. Entsetzlich! Entsetzlich! Ich bin zugrunde gerichtet.


Die Waldhörner schweigen auf einmal, nachdem sie ein lebhaftes Stück geblasen.


DER OBERSTE der den Domherrn zurückbringt und dem zwei Schweizer folgen. Hierher, mein Herr, hierher!

DOMHERR. Was unterstehn Sie sich? Dieser Spaziergang ist einem jeden freigegeben.

OBERSTER. Jedem Spaziergänger, nicht dem Verbrecher! Sie entkommen nicht; geben Sie sich gutwillig.

DOMHERR. Glauben Sie, daß ich unbewaffnet bin? Er greift in die Tasche und zieht ein Terzerol hervor.

OBERSTER. Stecken Sie Ihr Terzerol ein. Sie können nach mir schießen; aus dem Garten kommen Sie nicht. Alle Zugänge sind besetzt. Es kommt niemand hinaus. Ergeben Sie sich in das Schicksal, dem Sie mutwillig entgegenrannten.

MARQUISE die indessen aufmerksam geworden ist und gehorcht hat. Welch ein neuer, unerwarteter Auftritt! Kommt auf diese[88] Seite. Wenn wir nicht einig sind, gehen wir miteinander zugrunde.


Die Marquise, der Marquis, die Nichte wollen sich auf die Seite zurückziehn, wo sie hereingekommen sind; es treten ihnen zwei Schweizer in den Weg.


MARQUISE. Wir sind zugrunde gerichtet!

MARQUIS. Wir sind verraten!

NICHTE. Ich bin verloren!

DOMHERR der in diesem Augenblick neben die Nichte zu stehen kommt. O Gott!

OBERSTER. Niemand gehe von der Stelle! Sie sind alle meine Gefangenen.

DOMHERR auf die Nichte deutend. Auch diese?

OBERSTER. Gewiß!

DOMHERR. Mein Unglück ist so groß, daß ich es in diesem Augenblick nicht überdenken kann.

OBERSTER. Nicht so groß als Ihre Unbesonnenheit!

DOMHERR. Ich will jeden Vorwurf ertragen, alles, was mir eine beleidigte Gerechtigkeit von Strafen auferlegen kann; ich folge Ihnen, schleppen Sie mich in einen Kerker, wenn es Ihnen befohlen ist: nur verehren Sie dies überirdische Wesen! Verbergen Sie, was Sie gesehen haben, leugnen Sie, erfinden Sie. Sie tun dem Fürsten einen größern Dienst als mit der traurigen, schrecklichen Wahrheit, daß seine Tochter, seine einzig geliebte Tochter –

OBERSTER. Ich kenne meine Pflicht. Ich sehe hier nur meine Gefangenen; ich kenne nur meine Ordre und werde sie vollziehn.

MARQUISE. Wohin!

MARQUIS. O warum mußt ich mit hieherkommen!

NICHTE. Meine Furcht war gegründet!

DOMHERR. So bin ich denn der unglücklichste aller Menschen! Was hat man im Sinn? Ist's möglich! Was kann der Fürst gegen das Liebste beginnen, das er auf der Welt[89] hat? Meine Gebieterin – meine Freunde – ich bin's, der euch unglücklich macht! O warum mußt ich leben? warum so lieben? warum verfolgt ich nicht den Gedanken, der mir mehr als einmal einkam, in einem fremden Lande meine Zärtlichkeit, meine Ehrbegier an andern Gegenständen abzustumpfen? Warum floh ich nicht? Ach, warum ward ich immer wieder zurückgezogen? Ich möchte euch Vorwürfe machen, ich möchte mich schelten, mich hassen; und doch, wenn ich mich in diesem Augenblicke ansehe, so kann ich nicht wünschen, daß es anders sein möchte. Ich bin immer noch der Glücklichste mitten im Unglück!

OBERSTER. Endigen Sie, mein Herr; denn es ist Zeit, und hören Sie mich an.

DOMHERR. Ja, ich will; aber zuerst entlassen Sie unsre Gebieterin. Wie? sie sollte hier in Nacht und Tau stehen und das Urteil eines Unglücklichen anhören, an dem sie teilnimmt? Nein, sie kehre zurück in ihre Zimmer, sie bleibe nicht länger den Augen dieser Knechte ausgesetzt, die sich über ihre Beschämung freuen! Eilen Sie, eilen Sie, meine Fürstin! wer kann sich Ihnen widersetzen? Und dieser Mann, der mich gefangenhalten darf, diese Kolossen, die mir ihre Hellebarden entgegensetzen, sind Ihre Diener. Gehn Sie, leben Sie wohl! Wer will Sie aufhalten? Aber vergessen Sie nicht eines Mannes, der endlich zu Ihren Füßen liegen konnte, der endlich Ihnen beteuern durfte, daß Sie ihm alles in der Welt sind. Sehn Sie noch einen Augenblick auf seine Qual, auf seine Wehmut, und dann überlassen Sie ihn dem grausamen Schicksal, das sich gegen ihn verschworen hat.


Er wirft sich der Nichte zu Füßen, die sich auf die Marquise lehnt. Der Marquis steht dabei in einer verlegenen Stellung, und sie machen auf der rechten Seite des Theaters eine schöne Gruppe, in welcher die zwei Schweizer nicht zu vergessen sind. Der Oberste und zwei Schweizer stehn an der linken Seite.
[90]


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 87-91.
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