Zehnter Auftritt

[397] DIE EINIGKEIT.

Der Geist, der alle Welten schafft,

Durch mich belehrt er seine Teuren:

»Von der Gefahr, der ungeheuren,

Errettet nur gesamte Kraft.«

Das, was ich lehre, scheint so leicht,

Und fast unmöglich zu erfüllen:

»Nachgiebigkeit bei großem Willen.«

Nun ist des Wortes Ziel erreicht,

Den höchsten Wunsch seh' ich erfüllen.

JUGENDFÜRST.

Ja, alle Kronen seh' ich neu geschmückt

Mit eignem Gold, mit Feindes Beute;

Ihr habt das Volk, ihr habt euch selbst beglückt;

Was ihr besitzt, besitzt ihr erst von heute.

Zwar hat der Ahnen würdiges Verdienst

Die goldnen Reife längst geflochten,

Doch nun ist's eigener Gewinst:

Ihr habt das Recht daran erfochten.

EPIMENIDES.

Und wir sind alle neugeboren,

Das große Sehnen ist gestillt;

Bei Friedrichs Asche war's geschworen

Und ist auf ewig nun erfüllt.

CHOR DER KRIEGER.

Und wir wandeln mit freien Schritten,

Weil wir uns was zugetraut,

Und empfangen in unsre Mitten

Gattin, Schwester, Tochter, Braut.

Getan! – Glück auf! – Getan!

Und den Dank nun zum Himmel hinan!

CHOR DER FRAUEN.

Euch zu laben,

Laßt uns eilen,

Unsre Gaben

Auszuteilen,

Eure Wunden

Auszuheilen:

Selige Stunden[397]

Sind gegeben

Unsrem Leben!


Große Gruppe.


EPIMENIDES.

Ich sehe nun mein frommes Hoffen

Nach Wundertaten eingetroffen;

Schön ist's, dem Höchsten sich vertraun.

Er lehrte mich das Gegenwärt'ge kennen;

Nun aber soll mein Blick entbrennen,

In fremde Zeiten auszuschaun.

PRIESTER.

Und nun soll Geist und Herz entbrennen,

Vergangnes fühlen, Zukunft schaun.

CHOR.

So rissen wir uns ringsherum

Von fremden Banden los.

Nun sind wir Deutsche wiederum,

Nun sind wir wieder groß.

So waren wir und sind es auch

Das edelste Geschlecht,

Von biederm Sinn und reinem Hauch

Und in der Taten Recht.


Und Fürst und Volk und Volk und Fürst

Sind alle frisch und neu!

Wie du dich nun empfinden wirst

Nach eignem Sinne frei.

Wer dann das Innere begehrt,

Der ist schon groß und reich;

Zusammen haltet euren Wert,

Und euch ist niemand gleich.


Gedenkt unendlicher Gefahr,

Des wohlvergoßnen Bluts,

Und freuet euch von Jahr zu Jahr

Des unschätzbaren Guts.

Die große Stadt, am großen Tag,

Die unsre sollte sein –

Nach ungeheurem Doppelschlag

Zum zweitenmal hinein!


Nun töne laut: Der Herr ist da!

Von Sternen glänzt die Nacht.[398]

Er hat, damit uns Heil geschah,

Gestritten und gewacht.

Für alle, die ihm angestammt,

Für uns war es getan,

Und wie's von Berg zu Bergen flammt,

Entzücken flamm' hinan!


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 397-399.
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