Neunter Auftritt


[395] Epimenides mit zwei Priestern.


EPIMENIDES nach oben.

Wie selig euer Freund gewesen,

Der diese Nacht des Jammers überschlief,

Ich konnt's an den Ruinen lesen,

Ihr Götter, ich empfind' es tief!


Zu den Umstehenden.


Doch schäm' ich mich der Ruhestunden;

Mit euch zu leiden, war Gewinn:

Denn für den Schmerz, den ihr empfunden,

Seid ihr auch größer, als ich bin.

PRIESTER.

Tadle nicht der Götter Willen,

Wenn du manches Jahr gewannst:

Sie bewahrten dich im stillen,

Daß du rein empfinden kannst.

Und so gleichst du künft'gen Tagen,

Denen unsre Qual und Plagen,

Unser Streben, unser Wagen

Endlich die Geschichte beut;

Und nicht glauben, was wir sagen,

Wirst du, wie die Folgezeit.

GLAUBE.

Zum Ungeheuren war ich aufgerufen,

Mir dienten selbst Zerstörung, Blut und Tod;

So flammte denn an meines Thrones Stufen

Der Freiheit plötzlich furchtbar Morgenrot.
[395]

Schneidend eisige Lüfte blasen,

Ströme schwellen Schlund auf Schlund,

Und der Elemente Rasen,

Alles kräftigte den Bund.

Heil der Edlen, die den Glauben

In der tiefsten Brust genährt,

Unter Glut und Mord und Rauben

Das Verderben abgewehrt.


Ihr danken wir, nach mancher Jahre Grauen,

Das schöne Licht, das wir vergnüglich schauen.

LIEBE.

Begrüßet ihn mit liebevollen Blicken,

Der liebevoll bei seinem Volk verweilt,

Der treuen Seinen neubelebt Entzücken

Mit offnem holden Vaterherzen teilt.

Der Edle hat mit Edlen sich verbündet,

Da jauchzte kühn die treue Schar;

Und wo die Liebe wirkt und gründet,

Da wird die Kraft der Tugend offenbar,

Das Glück ist sicher und geründet.

HOFFNUNG.

Ich will gestehn den Eigennutz, o Schwestern!

Für jedes Opfer fordr' ich meinen Lohn,

Ein selig Heute für ein schrecklich Gestern,

Triumpheswonne statt der Duldung Hohn:

So wollt' ich es dem hohen Paare geben,

Von dessen Blick beseelt wir alle leben.

EPIMENIDES.

Die Tugenden, die hier ein kräftig Wirken

Und in unendlichen Bezirken

Sich herrlich tausendfach gezeigt,

Den höchsten Zweck mit Blitzesflug erreicht,

Sie helfen uns die größten Tage feiern.

Nur eine, die mit treuer Hand

Die Schwestern fest und zart verband,

Abseits, verhüllt bescheiden stand,

Die Einigkeit muß ich entschleiern.


Er führt eine bisher verborgen gebliebene Verschleierte hervor und schlägt ihr den Schleier zurück.
[396]


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 395-397.
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