Der Chinese in Rom

[365] Einen Chinesen sah ich in Rom; die gesamten Gebäude

Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer.

»Ach!« so seufzt' er, »die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen,

Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt,

Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung

Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut.«[365]

Siehe, da glaubt ich, im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen,

Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur

Ewigem Teppich vergleicht, den echten, reinen Gesunden

Krank nennt, daß ja nur er heiße, der Kranke, gesund.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 365-366.
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