Das Sträußchen

[622] Altböhmisch


Wehet ein Lüftchen

Aus fürstlichen Wäldern;

Da läufet das Mädchen,

Da läuft es zum Bach,

Schöpft in beschlagne

Eimer das Wasser.


Vorsichtig, bedächtig

Versteht sie zu schöpfen.

Am Flusse zum Mädchen

Schwimmet ein Sträußchen,

Ein duftiges Sträußchen

Von Veilchen und Rosen.


»Wenn ich, du holdes

Blümchen, es wüßte,

Wer dich gepflanzet

In lockeren Boden,

Wahrlich! dem gäb ich

Ein goldenes Ringlein.


Wenn ich, du holdes

Sträußchen, es wüßte,

Wer dich mit zartem

Baste gebunden,

Wahrlich! dem gäb ich

Die Nadel vom Haare.


Wenn ich, du holdes

Blümchen, es wüßte,

Wer in den kühlen

Bach dich geworfen,

Wahrlich! dem gäb ich

Mein Kränzlein vom Haupte.«
[622]

Und so verfolgt sie

Das eilende Sträußchen,

Sie eilet vorauf ihm,

Versucht es zu fangen:

Da fällt, ach! da fällt sie

Ins kühlige Wasser.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 622-623.
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