Das Veilchen

[113] Ein Veilchen auf der Wiese stand

Gebückt in sich und unbekannt;

Es war ein herzigs Veilchen.

Da kam eine junge Schäferin,

Mit leichtem Schritt und munterm Sinn,

Daher, daher,

Die Wiese her, und sang.


Ach! denkt das Veilchen, wär ich nur

Die schönste Blume der Natur,

Ach, nur ein kleines Weilchen,

Bis mich das Liebchen abgepflückt

Und an dem Busen matt gedrückt!

Ach nur, ach nur

Ein Viertelstündchen lang!
[113]

Ach! aber ach! das Mädchen kam

Und nicht in acht das Veilchen nahm,

Ertrat das arme Veilchen.

Es sank und starb und freut' sich noch:

Und sterb ich denn, so sterb ich doch

Durch sie, durch sie,

Zu ihren Füßen doch.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 113-114.
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