Wiederfinden

[536] Ist es möglich, Stern der Sterne,

Drück ich wieder dich ans Herz!

Ach! was ist die Nacht der Ferne

Für ein Abgrund, für ein Schmerz!

Ja, du bist es! meiner Freuden

Süßer, lieber Widerpart;

Eingedenk vergangner Leiden

Schaudr' ich vor der Gegenwart.


Als die Welt im tiefsten Grunde

Lag an Gottes ew'ger Brust,

Ordnet' er die erste Stunde

Mit erhabner Schöpfungslust,

Und er sprach das Wort: »Es werde!«

Da erklang ein schmerzlich Ach!

Als das All mit Machtgebärde

In die Wirklichkeiten brach.


Auf tat sich das Licht! sich trennte

Scheu die Finsternis von ihm,

Und sogleich die Elemente

Scheidend auseinanderfliehn.

Rasch in wilden, wüsten Träumen

Jedes nach der Weite rang,

Starr, in ungemeßnen Räumen,

Ohne Sehnsucht, ohne Klang.
[536]

Stumm war alles, still und öde,

Einsam Gott zum erstenmal!

Da erschuf er Morgenröte,

Die erbarmte sich der Qual;

Sie entwickelte dem Trüben

Ein erklingend Farbenspiel,

Und nun konnte wieder lieben,

Was erst auseinanderfiel.


Und mit eiligem Bestreben

Sucht sich, was sich angehört,

Und zu ungemeßnem Leben

Ist Gefühl und Blick gekehrt:

Sei's Ergreifen, sei es Raffen,

Wenn es nur sich faßt und hält!

Allah braucht nicht mehr zu schaffen,

Wir erschaffen seine Welt.


So mit morgenroten Flügeln

Riß es mich an deinen Mund,

Und die Nacht mit tausend Siegeln

Kräftigt sternenhell den Bund.

Beide sind wir auf der Erde

Musterhaft in Freud und Qual,

Und ein zweites Wort: Es werde!

Trennt uns nicht zum zweitenmal.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 536-537.
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