Künstlers Morgenlied

[396] Der Tempel ist euch aufgebaut,

Ihr hohen Musen all,

Und hier in meinem Herzen ist

Das Allerheiligste.


Wenn morgens mich die Sonne weckt,

Warm, froh ich schau umher,

Steht rings ihr Ewiglebenden

Im heil'gen Morgenglanz.
[396]

Ich bet hinan, und Lobgesang

Ist lauter mein Gebet,

Und freudeklingend Saitenspiel

Begleitet mein Gebet.


Ich trete vor den Altar hin

Und lese, wie sich's ziemt,

Andacht liturg'scher Lektion

Im heiligen Homer.


Und wenn er ins Getümmel mich

Von Löwenkriegern reißt

Und Göttersöhn auf Wagen hoch

Rachglühend stürmen an


Und Roß dann vor dem Wagen stürzt

Und drunter und drüber sich

Freund', Feinde wälzen in Todesblut –

Er sengte sie dahin


Mit Flammenschwert, der Heldensohn,

Zehntausend auf einmal,

Bis dann auch er, gebändiget

Von einer Götterhand,


Ab auf den Rogus niederstürzt,

Den er sich selbst gehäuft,

Und Feinde nun den schönen Leib

Verschändend tasten an:


Da greif ich mutig auf, es wird

Die Kohle zum Gewehr,

Und jene meine hohe Wand

In Schlachtfeldwogen braust.
[397]

Hinan! Hinan! Es heulet laut

Gebrüll der Feindeswut,

Und Schild an Schild, und Schwert auf Helm,

Und um den Toten Tod.


Ich dränge mich hinan, hinan,

Da kämpfen sie um ihn,

Die tapfern Freunde, tapferer

In ihrer Tränenwut.


Ach, rettet! Kämpfet! Rettet ihn!

Ins Lager tragt ihn fort,

Und Balsam gießt dem Toten auf

Und Tränen Totenehr!


Und find ich mich zurück hierher,

Empfängst du, Liebe, mich,

Mein Mädchen, ach, im Bilde nur

Und so im Bilde warm!


Ach, wie du ruhtest neben mir

Und schmachtetest mich an,

Und mir's vom Aug durchs Herz hindurch

Zum Griffel schmachtete!


Wie ich an Aug und Wange mich

Und Mund mich weidete,

Und mir's im Busen jung und frisch,

Wie einer Gottheit, war !


O kehre doch und bleibe dann

In meinen Armen fest,

Und keine, keine Schlachten mehr,

Nur dich in meinem Arm!
[398]

Und sollst mir, meine Liebe, sein

Alldeutend Ideal,

Madonna sein, ein Erstlingskind,

Ein heiligs, an der Brust;


Und haschen will ich, Nymphe, dich

Im tiefen Waldgebüsch;

O fliehe nicht die rauhe Brust,

Mein aufgerecktes Ohr!


Und liegen will ich Mars zu dir,

Du Liebesgöttin stark,

Und ziehn ein Netz um uns herum

Und rufen dem Olymp,


Wer von den Göttern kommen will,

Beneiden unser Glück,

Und soll's die Fratze Eifersucht,

Am Bettfuß angebannt.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 396-399.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Gedichte
Sämtliche Gedichte
Goethes schönste Gedichte (Insel Bücherei)
Wie herrlich leuchtet mir die Natur: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)
Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon