Aus einem Stammbuch von 1604

[514] Hoffnung beschwingt Gedanken, Liebe Hoffnung,

In klarster Nacht hinauf zu Cynthien, Liebe!

Und sprich: wie sie sich oben umgestaltet,

So auf der Erde schwindet, wächst mein Glück.

Und wispere sanft-bescheiden ihr ans Ohr,

Wie Zweifel oft das Haupt hing, Treue tränte.

Und ihr, Gedanken, mißzutraun geneigt,

Beschilt euch die Geliebte dessenthalb,

So sagt: ihr wechselt zwar, doch ändert nicht,

Wie sie dieselbe bleibt und immer wechselt.

Untrauen tritt ins Herz, vergiftet's nicht,

Denn Lieb ist süßer, von Verdacht gewürzt.

Wenn sie verdrießlich dann das Aug umwölkt,

Des Himmels Kläre widerwärtig schwärzt,

Dann, Seufzerwinde, scheucht die Wolken weg,

Tränt nieder, sie in Regen aufzulösen.

Gedanke, Hoffnung, Liebe bleibt nur dort,

Bis Cynthia scheint, wie sie mir sonst getan.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 514.
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