Der Besuch

[343] Meine Liebste wollt ich heut beschleichen,

Aber ihre Türe war verschlossen.

Hab ich doch den Schlüssel in der Tasche!

Öffn' ich leise die geliebte Türe!


Auf dem Saale fand ich nicht das Mädchen,

Fand das Mädchen nicht in ihrer Stube;

Endlich, da ich leis die Kammer öffne,

Find ich sie, gar zierlich eingeschlafen,

Angekleidet, auf dem Sofa liegen.


Bei der Arbeit war sie eingeschlafen;

Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte

Zwischen den gefaltnen zarten Händen;

Und ich setzte mich an ihre Seite,

Ging bei mir zu Rat, ob ich sie weckte.
[343]

Da betrachtet ich den schönen Frieden,

Der auf ihren Augenlidern ruhte:

Auf den Lippen war die stille Treue,

Auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause,

Und die Unschuld eines guten Herzens

Regte sich im Busen hin und wider.

Jedes ihrer Glieder lag gefällig

Aufgelöst vom süßen Götterbalsam.

Freudig saß ich da, und die Betrachtung

Hielte die Begierde, sie zu wecken,

Mit geheimen Banden fest und fester.


O du Liebe, dacht ich, kann der Schlummer,

Der Verräter jedes falschen Zuges,

Kann er dir nicht schaden, nichts entdecken,

Was des Freundes zarte Meinung störte?


Deine holden Augen sind geschlossen,

Die mich offen schon allein bezaubern;

Es bewegen deine süßen Lippen

Weder sich zur Rede noch zum Kusse;

Aufgelöst sind diese Zauberbande

Deiner Arme, die mich sonst umschlingen,

Und die Hand, die reizende Gefährtin

Süßer Schmeicheleien, unbeweglich.

Wär's ein Irrtum, wie ich von dir denke,

Wär es Selbstbetrug, wie ich dich liebe,

Müßt ich's jetzt entdecken, da sich Amor

Ohne Binde neben mich gestellet.


Lange saß ich so und freute herzlich

Ihres Wertes mich und meiner Liebe;

Schlafend hatte sie mir so gefallen,

Daß ich mich nicht traute, sie zu wecken.[344]

Leise leg ich ihr zwei Pomeranzen

Und zwei Rosen auf das Tischchen nieder;

Sachte, sachte schleich ich meiner Wege.

Öffnet sie die Augen, meine Gute,

Gleich erblickt sie diese bunte Gabe,

Staunt, wie immer bei verschloßnen Türen

Dieses freundliche Geschenk sich finde.


Seh ich diese Nacht den Engel wieder,

O wie freut sie sich, vergilt mir doppelt

Dieses Opfer meiner zarten Liebe.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 343-345.
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