Geheimschrift

[110] Laßt euch, o Diplomaten!

Recht angelegen sein,

Und eure Potentaten

Beratet rein und fein.[110]

Geheimer Chiffern Sendung

Beschäftige die Welt,

Bis endlich jede Wendung

Sich selbst ins gleiche stellt.


Mir von der Herrin süße

Die Chiffer ist zur Hand,

Woran ich schon genieße,

Weil sie die Kunst erfand.

Es ist die Liebesfülle

Im lieblichsten Revier,

Der holde, treue Wille

Wie zwischen mir und ihr.


Von abertausend Blüten

Ist es ein bunter Strauß,

Von englischen Gemüten

Ein vollbewohntes Haus;

Von buntesten Gefiedern

Der Himmel übersät,

Ein klingend Meer von Liedern,

Geruchvoll überweht.


Ist unbedingten Strebens

Geheime Doppelschrift,

Die in das Mark des Lebens

Wie Pfeil um Pfeile trifft.

Was ich euch offenbaret,

War längst ein frommer Brauch,

Und wenn ihr es gewahret,

So schweigt und nutzt es auch.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 110-111.
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