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[202] Man hat aus der sehr schicklich-geregelten Folge der sieben ersten römischen Könige schließen wollen, daß diese Geschichte klüglich und absichtlich erfunden sei, welches wir dahingestellt sein lassen, dagegen aber bemerken, daß die sieben Dichter, welche von dem Perser für die ersten gehalten werden und innerhalb eines Zeitraums von fünfhundert Jahren nach und nach erschienen, wirklich ein ethisch-poetisches Verhältnis gegeneinander haben, welches uns erdichtet scheinen könnte, wenn nicht ihre hinterlassenen Werke von ihrem wirklichen Dasein das Zeugnis gäben.

Betrachten wir aber dieses Siebengestirn genauer, wie es uns aus der Ferne vergönnt sein mag, so finden wir, daß sie alle ein fruchtbares, immer sich erneuendes Talent besaßen, wodurch sie sich über die Mehrzahl sehr vorzüglicher Männer, über die Unzahl mittlerer, täglicher Talente erhoben sahen, dabei aber auch in eine besondere Zeit, in eine Lage gelangten, wo sie eine große Ernte glücklich wegnehmen und gleich talentvollen Nachkommen sogar die Wirkung auf eine[202] Zeitlang verkümmern durften, bis wieder ein Zeitraum verging, in welchem die Natur dem Dichter neue Schätze abermals aufschließen konnte.

In diesem Sinne nehmen wir die Dargestellten einzeln nochmals durch und bemerken: daß

Ferdusi die ganzen vergangenen Staats- und Reichsereignisse, fabelhaft oder historisch aufbehalten, vorwegnahm, so daß einem Nachfolger nur Bezug und Anmerkung, nicht aber neue Behandlung und Darstellung übrigblieb.

Enweri hielt sich fest an der Gegenwart. Glänzend und prächtig, wie die Natur ihm erschien, freud- und gabenvoll erblickt' er auch den Hof seines Schahs; beide Welten und ihre Vorzüge mit den lieblichsten Worten zu verknüpfen war Pflicht und Behagen. Niemand hat es ihm hierin gleichgetan.

Nisami griff mit freundlicher Gewalt alles auf, was von Liebes- und Halbwunderlegende in seinem Bezirk vorhanden sein mochte. Schon im Koran war die Andeutung gegeben, wie man uralte lakonische Überlieferungen zu eigenen Zwecken behandeln, ausführen und in gewisser Weitläuftigkeit könne ergetzlich machen.

Dschelâl-eddîn Rumi findet sich unbehaglich auf dem problematischen Boden der Wirklichkeit und sucht die Rätsel der innern und äußern Erscheinungen auf geistige, geistreiche Weise zu lösen, daher sind seine Werke neue Rätsel, neuer Auflösungen und Kommentare bedürftig. Endlich fühlt er sich gedrungen, in die Alleinigkeitslehre zu flüchten, wodurch so viel gewonnen als verloren wird und zuletzt das so tröstliche als untröstliche Zero übrigbleibt. Wie sollte nun also irgendeine Redemitteilung poetisch oder prosaisch weiter gelingen? Glücklicherweise wird

Saadi, der Treffliche, in die weite Welt getrieben, mit grenzenlosen Einzelnheiten der Empirie überhäuft, denen er allen etwas abzugewinnen weiß. Er fühlt die Notwendigkeit, sich zu sammeln, überzeugt sich von der Pflicht zu belehren, und so ist er uns Westländern zuerst fruchtbar und segenreich geworden.

[203] Hafis, ein großes heiteres Talent, das sich begnügt, alles abzuweisen, wonach die Menschen begehren, alles beiseite zu schieben, was sie nicht entbehren mögen, und dabei immer als lustiger Bruder ihresgleichen erscheint. Er läßt sich nur in seinem National- und Zeitkreise richtig anerkennen. Sobald man ihn aber gefaßt hat, bleibt er ein lieblicher Lebensgeleiter. Wie ihn denn auch noch jetzt, unbewußt mehr als bewußt, Kamel- und Maultiertreiber fortsingen, keineswegs um des Sinnes halben, den er selbst mutwillig zerstückelt, sondern der Stimmung wegen, die er ewig rein und erfreulich verbreitet. Wer konnte denn nun auf diesen folgen, da alles andere von den Vorgängern weggenommen war, als

Dschami, allem gewachsen, was vor ihm geschehen und neben ihm geschah; wie er nun dies alles zu sammen in Garben band, nachbildete, erneuerte, erweiterte, mit der größten Klarheit die Tugenden und Fehler seiner Vorgänger in sich vereinigte, so blieb der Folgezeit nichts übrig, als zu sein wie er, insofern sie sich nicht verschlimmerte; und so ist es denn auch drei Jahrhunderte durch geblieben. Wobei wir nur noch bemerken, daß, wenn früher oder später das Drama hätte durchbrechen und ein Dichter dieser Art sich hervortun können, der ganze Gang der Literatur eine andere Wendung genommen hätte.

Wagten wir nun mit diesem wenigen, fünfhundert Jahre persischer Dicht- und Redekunst zu schildern, so sei es, um mit Quintilian, unserm alten Meister, zu reden, von Freunden aufgenommen in der Art, wie man runde Zahlen erlaubt, nicht um genauer Bestimmung willen, sondern um etwas Allgemeines bequemlichkeitshalber annähernd auszusprechen.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 202-204.
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