Dschami

[201] Stirbt 1494, alt 82 Jahre


Dschami faßt die ganze Ernte der bisherigen Bemühungen zusammen und zieht die Summe der religiosen, philosophischen, wissenschaftlichen, prosaisch-poetischen Kultur. Er hat einen großen Vorteil, dreiundzwanzig Jahre nach Hafis' Tode geboren zu werden und als Jüngling abermals[201] ein ganz freies Feld vor sich zu finden. Die größte Klarheit und Besonnenheit ist sein Eigentum. Nun versucht und leistet er alles, erscheint sinnlich und übersinnlich zugleich; die Herrlichkeit der wirklichen und Dichterwelt liegt vor ihm, er bewegt sich zwischen beiden. Die Mystik konnte ihn nicht anmuten; weil er aber ohne dieselbe den Kreis des Nationalinteresses nicht ausgefüllt hätte, so gibt er historisch Rechenschaft von allen den Torheiten, durch welche stufenweis der in seinem irdischen Wesen befangene Mensch sich der Gottheit unmittelbar anzunähern und sich zuletzt mit ihr zu vereinigen gedenkt; da denn doch zuletzt nur widernatürliche und widergeistige, grasse Gestalten zum Vorscheine kommen. Denn was tut der Mystiker anders, als daß er sich an Problemen vorbeischleicht oder sie weiterschiebt, wenn es sich tun läßt?

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 201-202.
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