[231] Wenn jemand Wort und Ausdruck als heilige Zeugnisse betrachtet und sie nicht etwa, wie Scheidemünze oder Papiergeld, nur zu schnellem, augenblicklichem Verkehr bringen, sondern im geistigen Handel und Wandel als wahres Äquivalent ausgetauscht wissen will, so kann man ihm nicht verübeln, daß er aufmerksam macht, wie herkömmliche Ausdrücke, woran niemand mehr Arges hat, doch einen schädlichen Einfluß verüben, Ansichten verdüstern, den Begriff entstellen und ganzen Fächern eine falsche Richtung geben.
Von der Art möchte wohl der eingeführte Gebrauch sein, daß man den Titel schöne Redekünste als allgemeine Rubrik behandelt, unter welcher man Poesie und Prosa begreifen und eine neben der andern, ihren verschiedenen Teilen nach, aufstellen will.
Poesie ist, rein und echt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.
Die Redekunst aber im eigentlichen Sinne ist eine Rede und eine Kunst; sie beruht auf einer deutlichen, mäßig leidenschaftlichen Rede und ist Kunst in jedem Sinne. Sie verfolgt ihre Zwecke und ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende. Durch jene von uns gerügte Rubrik ist nun die Poesie entwürdigt, indem sie der Redekunst bei-, wo nicht untergeordnet wird, Namen und Ehre von ihr ableitet.
Diese Benennung und Einteilung hat freilich Beifall und Platz gewonnen, weil höchst schätzenswerte Bücher sie an der Stirne tragen, und schwer möchte man sich derselben so bald entwöhnen. Ein solches Verfahren kommt aber daher, weil man bei Klassifikation der Künste den Künstler nicht zu Rate zieht. Dem Literator kommen die poetischen Werke[231] zuerst als Buchstaben in die Hand, sie liegen als Bücher vor ihm, die er aufzustellen und zu ordnen berufen ist.
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West-östlicher Divan
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