Vergleichung

[228] Da wir nun soeben bei dem Urteil über Schriftsteller alle Vergleichung abgelehnt, so möchte man sich wundern, wenn wir unmittelbar darauf von einem Falle sprechen, in welchem wir sie zulässig finden. Wir hoffen jedoch, daß man uns diese Ausnahme darum erlauben werde, weil der Gedanke nicht uns, vielmehr einem Dritten angehört.

Ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen, findet, daß kein deutscher Schriftsteller sich den östlichen Poeten und sonstigen Verfassern mehr als Jean Paul Richter genähert habe; dieser Ausspruch schien zu bedeutend, als daß wir ihm nicht gehörige Aufmerksamkeit hätten widmen sollen; auch können wir unsere Bemerkungen darüber um so leichter mitteilen, als wir uns nur auf das oben weitläufig Durchgeführte beziehen dürfen.

Allerdings zeugen, um von der Persönlichkeit anzufangen,[228] die Werke des genannten Freundes von einem verständigen, umschauenden, einsichtigen, unterrichteten, ausgebildeten und dabei wohlwollenden, frommen Sinne. Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird.

Wenn wir nun vor kurzem die Naturelemente, woraus die älteren und vorzüglichsten Dichter des Orients ihre Werke bildeten, angedeutet und bezeichnet, so werden wir uns deutlich erklären, indem wir sagen: daß, wenn jene in einer frischen, einfachen Region gewirkt, dieser Freund hingegen in einer ausgebildeten, überbildeten, verbildeten, vertrackten Welt leben und wirken und eben daher sich anschicken muß, die seltsamsten Elemente zu beherrschen. Um nun den Gegensatz zwischen der Umgebung eines Beduinen und unseres Autors mit wenigem anschaulich zu machen, ziehen wir aus einigen Blättern die bedeutendsten Ausdrücke:

Barrierentraktat, Extrablätter, Kardinäle, Nebenrezeß, Billard, Bierkrüge, Reichsbänke, Sessionsstühle, Prinzipalkommissarius, Enthusiasmus, Zepter-Queue, Bruststücke, Eichhornbauer, Agioteur, Schmutzfink, Inkognito, Colloquia, kanonischer Billardsack, Gipsabdruck, Avancement, Hüttenjunge, Naturalisationsakte, Pfingstprogramm, Maurerisch, Manualpantomime, Amputiert, Supranumerar, Bijouteriebude, Sabbaterweg und so fort.

Wenn nun diese sämtlichen Ausdrücke einem gebildeten deutschen Leser bekannt sind oder durch das Konversationslexikon bekannt werden können, gerade wie dem Orientalen die Außenwelt durch Handels- und Wallfahrtskarawanen, so dürfen wir kühnlich einen ähnlichen Geist für berechtigt halten, dieselbe Verfahrungsart auf einer völlig verschiedenen Unterlage walten zu lassen.

Gestehen wir also unserm so geschätzten als fruchtbaren Schriftsteller zu, daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner[229] Epoche geistreich zu sein, auf einen durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulierten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse, so glauben wir ihm die zugesprochene Orientalität genugsam bestätigt zu haben.

Einen Unterschied jedoch, den eines poetischen und prosaischen Verfahrens, heben wir hervor. Dem Poeten, welchem Takt, Parallelstellung, Silbenfall, Reim die größten Hindernisse in den Weg zu legen scheinen, gereicht alles zum entschiedensten Vorteil, wenn er die Rätselknoten glücklich löst, die ihm aufgegeben sind oder die er sich selbst aufgibt; die kühnste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er in einer so notgedrungenen Stellung behauptet.

Der Prosaist hingegen hat die Ellebogen gänzlich frei und ist für jede Verwegenheit verantwortlich, die er sich erlaubt; alles, was den Geschmack verletzen könnte, kommt auf seine Rechnung. Da nun aber, wie wir umständlich nachgewiesen, in einer solchen Dicht- und Schreibart das Schickliche vom Unschicklichen abzusondern unmöglich ist, so kommt hier alles auf das Individuum an, das ein solches Wagstück unternimmt. Ist es ein Mann wie Jean Paul, als Talent von Wert, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich; alles ist erlaubt und willkommen. Man fühlt sich in der Nähe des wohldenkenden Mannes behaglich, sein Gefühl teilt sich uns mit. Unsere Einbildungskraft erregt er, schmeichelt unseren Schwächen und festiget unsere Stärken.

Man übt seinen eigenen Witz, indem man die wunderlich aufgegebenen Rätsel zu lösen sucht, und freut sich, in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Scharade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden.

Dies ist ungefähr, was wir vorzubringen wußten, um jene Vergleichung zu rechtfertigen; Übereinstimmung und Differenz trachteten wir so kurz als möglich auszudrücken; ein solcher Text könnte zu einer grenzenlosen Auslegung verführen.[230]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 228-231.
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