Warnung

[226] Auf alles, was wir bisher geäußert, können wir uns wohl berufen als Zeugnis besten Willens gegen orientalische Dichtkunst. Wir dürfen es daher wohl wagen, Männern, denen eigentlich nähere, ja unmittelbare Kenntnis dieser Regionen gegönnt ist, mit einer Warnung entgegenzugehen, welche den[226] Zweck, allen möglichen Schaden von einer so guten Sache abzuwenden, nicht verleugnen wird.

Jedermann erleichtert sich durch Vergleichung das Urteil, aber man erschwert sich's auch: denn wenn ein Gleichnis, zu weit durchgeführt, hinkt, so wird ein vergleichendes Urteil immer unpassender, je genauer man es betrachtet. Wir wollen uns nicht zu weit verlieren, sondern im gegenwärtigen Falle nur soviel sagen: wenn der vortreffliche Jones die orientalischen Dichter mit Lateinern und Griechen vergleicht, so hat er seine Ursachen, das Verhältnis zu England und den dortigen Altkritikern nötigt ihn dazu. Er selbst, in der strengen klassischen Schule gebildet, begriff wohl das ausschließende Vorurteil, das nichts wollte gelten lassen, als was von Rom und Athen her auf uns vererbt worden. Er kannte, schätzte, liebte seinen Orient und wünschte dessen Produktionen in Altengland einzuführen, einzuschwärzen, welches nicht anders als unter dem Stempel des Altertums zu bewirken war. Dieses alles ist gegenwärtig ganz unnötig, ja schädlich. Wir wissen die Dichtart der Orientalen zu schätzen, wir gestehen ihnen die größten Vorzüge zu, aber man vergleiche sie mit sich selbst, man ehre sie in ihrem eignen Kreise und vergesse doch dabei, daß es Griechen und Römer gegeben.

Niemanden verarge man, welchem Horaz bei Hafis einfällt. Hierüber hat ein Kenner sich bewundrungswürdig erklärt, so daß dieses Verhältnis nunmehr ausgesprochen und für immer abgetan ist. Er sagt nämlich:

»Die Ähnlichkeit Hafisens mit Horaz in den Ansichten des Lebens ist auffallend und möchte einzig nur durch die Ähnlichkeit der Zeitalter, in welchen beide Dichter gelebt, wo bei Zerstörung aller Sicherheit des bürgerlichen Daseins der Mensch sich auf flüchtigen, gleichsam im Vorübergehen gehaschten Genuß des Lebens beschränkt, zu erklären sein.«

Was wir aber inständig bitten, ist, daß man Ferdusi nicht mit Homer vergleiche, weil er in jedem Sinne, dem Stoff, der Form, der Behandlung nach, verlieren muß. Wer sich[227] hiervon überzeugen will, vergleiche die furchtbare Monotonie der sieben Abenteuer des Isfendiar mit dem dreiundzwanzigsten Gesang der »Ilias«, wo zur Totenfeier Patroklos' die mannigfaltigsten Preise von den verschiedenartigsten Helden auf die verschiedenste Art gewonnen werden. Haben wir Deutsche nicht unsern herrlichen »Nibelungen« durch solche Vergleichung den größten Schaden getan? So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich und dankbar aufnimmt, so wunderlich erscheinen sie, wenn man sie nach einem Maßstabe mißt, den man niemals bei ihnen anschlagen sollte.

Es gilt ja schon dasselbe von dem Werke eines einzigen Autors, der viel, mannigfaltig und lange geschrieben. Überlasse man doch der gemeinen, unbehülflichen Menge, vergleichend zu loben, zu wählen und zu verwerfen. Aber die Lehrer des Volks müssen auf einen Standpunkt treten, wo eine allgemeine deutliche Übersicht reinem, unbewundenem Urteil zustatten kommt.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 226-228.
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