1805, 1. Januar.
Am Morgen des letzten Neujahrstages, den Schiller erlebte, schreibt Goethe ihm ein Gratulationbillet; als er es aber durchliest, findet er, daß er darin unwillkürlich geschrieben hatte: »der letzte Neujahrstag« statt »erneute« oder »wiedergekehrte« oder dergleichen. Voll Schrecken zerreißt er's und beginnt ein neues. Als er an die ominöse Zeile kommt, kann er sich wiederum nur mit Mühe zurückhalten, etwas vom »letzten« Neujahrstag zu schreiben. So drängte ihn die Ahnung! Denselben Tag besucht er die Frau v. Stein, erzählt ihr, was ihm begegnet sei und äußert: es ahne ihm, daß entweder er oder Schiller in diesem Jahre scheiden werde.[1]
1794.*
1805, 26. Januar.
Ich wollte, Du hättest Goethe den Abend gesehen, als er Hebel's Gedichte gelesen. Nach neun Uhr abends lud er mich noch ein. »Und wenn Sie im Schlafrock wären,« sagte der Bediente, »Sie sollten nur so zu meinem gnädigen Herrn kommen; er muß Sie noch sprechen.« Als ich kam, sprudelte ein serapiontischer Erguß über die Gedichte, der am andern Morgen um sieben Uhr schon Recension war.[213]
226.*
1805, Ende Januar.
Wenn ich [Henriette von Knebel] Dir [Karl von Knebel] nur die Mémoires von Marmontel gleich verschaffen[1] könnte, die wir jetzt .... mit großem Vergnügen zusammen lesen. Wir dürfen sie nicht lange behalten. Marmontel, der von Natur fein jovialisch und gesellig war, sieht den Rousseau ganz in fatalem Licht. Goethe, der die Prinzeß kürzlich besucht hat, sprach hierüber recht gescheidt. Er meint, daß zwar die Freunde, die mit Rousseau in naher Verbindung gestanden hätten, oft übel daran gewesen wären, daß aber Marmontel nicht hoch genug gestanden wäre, um nicht einseitig zu sehen.[2]
1482.*
1805, Anfang Februar (?).
Die drei letzten Acte [der Übersetzung des »Othello«] las ich Goethe vor. Am Ende der dritten Scene im dritten Acte rief er mir ein herzlich gemeintes »Bravo!« zu, und da kannst Du [Abeken] leicht denken, daß ich nicht mit kaltem Herzen weiter las. Goethe will es haben, daß ich den »Lear« übersetzen soll und vor einigen Tagen, als ich Deinen Brief empfing, erzählte ich ihm, daß ich von Berlin aus Hilfe erwartete. Bei der Gelegenheit sagte er: es könnten allerdings mehrere an einem Werke übersetzen, nur sei dann nothwendig, daß die einzelnen Theile nicht an einander gereiht, sondern daß sie von einem einzigen redigirt und zur Einheit verbunden würden; wo er denn offenbar recht hat.[290]
227.*
1805, Mitte Februar.
Denselbigen Abend kam Stark [Professor der Medicin] aus Jena, (es war am Freitag [den 11. Februar?] Abend) der erklärte, wenn Goethe bis Sonntag früh lebte, so sei Hoffnung da. Aber schon in dieser Nacht hatte die Krankheit umgeschlagen, die Krämpfe hatten nachgelassen, das Fieber war sanfter gewesen und der Geliebte hatte über die Hälfte der Nacht ruhig geschlafen. Um 11 Uhr forderte er mich zu sich, weit er mich in drei Tagen nicht gesehen hatte. Ich war sehr bewegt, als ich zu ihm trat und konnte aller Gewalt ungeachtet, die ich mir anthat, die Thränen nicht zurückhalten. Da sah er mir gar freundlich und herzlich[2] ins Gesicht und reichte mir die Hand und sagte die Worte, die mir durch Mark und Gebein gingen: »Gutes Kind, ich bleibe bei Euch; Ihr müßt nicht mehr weinen.« Da ergriff ich seine Hand und küßte sie wie instinctmäßig zu wiederholten Malen, aber ich konnte keinen Laut sagen .....
Von dem Tage an ist Goethe zusehends besser geworden. Die Nacht vom Sonnabend bis zum Sonntag wachte ich bei ihm, und da hab' ich recht die Fortschritte beobachten können, die er machte. Als er um 12 Uhr zum ersten Mal aufwachte, fragte er mit ängstlicher Stimme: »Hab' ich auch wieder im Schlaf gesprochen?« Wohl mir, daß ich mit gutem Gewissen der Wahrheit gemäß verneinen konnte, was ich jedenfalls gelogen hätte. »Gut!« sagte er nach einer Pause, »das ist wieder ein Schritt zur Besserung.« – Wenn ich ihm dann schmeichelte, so nahm er jedesmal ganz geduldig seine Medicin, aber mit innerer Überwindung. Nun sollte ich ihm aber auch den Leib mit scharfem Spiritus einreiben und, wie der Arzt befohlen hatte, zweimal des Nachts. Dazu konnte ich ihn nur mit Mühe bringen. Wie ich aber gar nicht ablassen wollte und immer mehr schmeichelte, sagte er endlich ganz ruhig: »Nun denn, im Namen Gottes!« Dann wachte er einmal von einem Traum auf, wo er einem Turniere beigewohnt hatte. Diesen Traum erzählte er mir mit großer Freude, und in dem Augenblicke war er an energischem Ausdruck, an Lebendigkeit, ganz Goethe, trotz seiner[3] Krankheit. Über alles rührte mich seine wirklich väterliche und zärtliche Fürsorge für mich (ob ich mir nun nicht den Kaffee machen wollte – nun nicht ein Glas Wein trinken wollte u.s.w.), wobei er mich dann immer sein gutes Voßchen nannte. Wenn er dann wieder einschlief und sein Gesicht matt beleuchtet wurde, schien er mir immer so leidend auszusehen wie einer, der eben anfängt, sich aus einem unermeßlichen Jammer herauszuarbeiten und noch die Spuren davon in seinen Mienen trägt. Da fielen mir denn die Erzählungen von den fröhlichen Thaten seiner kraftvollen Jugend ein, die ich so manches Mal angehört hatte, und ich konnte nicht umhin, beide Zustände mit ihren schärfsten Contrasten zusammenzuhalten .....
Zwei Tage nach jener Nacht stand er zum ersten Mal wieder auf und aß ein gesottenes Ei. Bald darauf fing er auch wieder an, sich vorlesen zu lassen. Nur hielt hier die Befriedigung schwer: Goethe verlangte launige Sachen, und Du weißt, daß die heutzutage niemand schreibt. Ich brachte ihm Luther's »Tischreden« und las ihm daraus vor. Das ließ er sich gefallen eine Stunde lang. Aber da fing er auch zu wettern und zu fluchen an über die verfluchte Teufelsimagination unseres Reformators, der die ganze sichtbare Welt mit dem Teufel bevölkerte und zum Teufel personificirte. Bei der Gelegenheit hielt er ein schönes Gespräch über die Vorzüge und Nachtheile der Reformation und über die Vorzüge der katholischen und protestantischen Religion.
[4] Ich gab ihm vollkommen recht, wenn er die protestantische Religion beschuldigte, sie hätte dem einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehemals konnte eine Gewissenslast durch andere vom Gewissen genommen werden, jetzt muß sie ein belastetes Gewissen selbst tragen und verliert darüber die Kraft, mit sich selber wieder in Harmonie zu kommen. »Die Ohrenbeichte,« sagte er, »hätte dem Menschen nie sollen genommen werden.« Da sprach der Mann ein herrliches wahres Wort aus, wie mir in dem Augenblick recht anschaulich wurde. Ich selbst bin in dem Fall gewesen. Als im vorigen Sommer sich alles vereinigte, mich von Weimar weg nach Würzburg ziehn zu wollen, da fand ich nirgends Trost, so lang ich auf meinem Zimmer war; jedes Mal aber, wenn ich zu Goethe kam und ihm mein ganzes Herz (selbst alle Schwächen meiner Innerlichkeit) wie einem Beichtvater ausschüttete, so ging ich wie mit neuem Muth gekräftigt in meine Einsamkeit zurück, und ich werde ihm diese Wohlthat an mir mein Leblang danken .....
Den Tag darauf, nachdem Goethe den Luther genossen hatte, ließ er ihn zur Thür heraustransportiren. – Nun liest Goethe die Cervantischen Novellen, die ihm viel Freude machen.[5]
1483.*
1805, 24. Februar.
Als ich [Voß] gestern Abend Deinen [Abeken's] Brief abbrach, ging ich zu Goethe, wo ich Fernow und Meyer (den Schweizer) fand. Da haben wir dem alten guten Papa aus den französischen, englischen und italienischen Miscellen vorgelesen. Er kam wieder auf seine Krankheit zu reden; da sagte er: »Ich habe da ein Experiment gemacht, das beinahe schlimm abgelaufen[290] wäre.« – Was er am »Othello« bewundert, ist die unendliche Regelmäßigkeit des Plans und die große Wahrheit in den Charakteren der Hauptpersonen. Vom Cassio sagte er: »er ist betrunken, aber nur soweit als sich noch Liebenswürdigkeit mit diesem Zustande verträgt.« Dann, sagte er, hätte es ihm immer Bewunderung abgezwungen, wie es nur möglich gewesen wäre, mit einem so hohen Interesse eine so einfache Begebenheit fünf Acte hindurch auszuspinnen. Shakespeare, sagte er einmal, sei der erste Genius gewesen, den die Natur getragen hätte, und man könne es nicht begreifen, wenn man's nicht selber erlebt hätte.[291]
228.*
1805, 1. März.
»Für eine chemische Gesellschaft wäre ein gutes Motto und Emblem die Stelle im Homer von Menelaus und Proteus (Odyssee IV, 450 ff.). Proteus kann für ein Symbol der Natur, Menelaus für ein Symbol der naturforschenden und der naturzwingenden Gesellschaft gelten.«[6]
1484.*
1805, Anfang März.
Der »Othello« soll nun aufgeführt werden.
– – – – – – – – – – – – – – – – – –
Goethe sagte neulich: er wäre recht froh, daß er mal wieder ein Stück von Shakespeare sehen sollte. Er hat nunmehr meinen »Othello« ganz gelesen und sagte mir, ich hätte in der Übersetzung alle seine Wünsche befriedigt.[291]
229.*
1805, März oder April.
Ein andermal sagte Goethe: Er hätte den Einfall gehabt, auf die Mineralogen, zu der Zeit, wo sie in allen Gegenden mit Hämmern herumgingen und an die Steine schlugen, ein Bild zeichnen zu lassen, wo ihrer zwei von entgegengesetzten Seiten an einen Fels kämen und daran schlügen; der Felsen spränge und nun erblickten sich die Herren staunend und grimassirend. – Er erzählte dies mit seinem gewöhnlichen humoristischen Tone und der kleinen Andeutung von Gest, die er in solchen Fällen sich erlaubte.[6]
1485.*
1805, Anfang April.
Ich habe Goethes »Hermann und Dorothea« in bessere Hexameter umgeschmolzen, wozu ich vierzehn angestrengte[291] Tage gebraucht. Goethe hat mir seinen Beifall gegeben und mich gelobt, daß ich so schonend verfahren und nie dem Charakter Abbruch gethan; er meinte: ich habe ihm, wenige Stellen ausgenommen, nichts hineingebracht, was seinem Geiste fremd wäre. Er hat mir schon andre Sachen aufgegeben, und ich werde auch noch wohl den »Reinecke Fuchs« durchzunehmen bekommen. Nun werde ich all dies noch mit ihm gemeinschaftlich durchgehn, worauf ich mich unsäglich freue.[292]
230.*
1805, erste Hälfte des Mai.
In der letzten Krankheit Schiller's war Goethe ungemein niedergeschlagen. Ich [Voß] habe ihn einmal in seinem Garten weinend gefunden; aber es waren nur einzelne Thränen, die ihm in den Augen blinkten: sein Geist weinte, nicht seine Augen und in seinen Blicken las ich, daß er etwas Großes, Überirdisches, Unendliches fühlte. Ich erzählte ihm vieles von Schiller, das er mit unnennbarer Fassung anhörte. »Das Schicksal ist unerbittlich und der Mensch wenig!« Das war alles, was er sagte und wenige Augenblicke nachher sprach er von heitern Dingen. Aber als Schiller gestorben war, war eine große Besorgniß, wie man es Goethe beibringen wollte. Niemand hatte den Muth, es ihm zu melden. Meyer war bei Goethe, als draußen die Nachricht eintraf, Schiller sei todt. Meyer wurde hinausgerufen, hatte nicht den Muth, zu Goethe zurückzukehren, sondern ging weg ohne Abschied zu nehmen. Die Einsamkeit, in der sich Goethe befindet, die Verwirrung, die er überall wahrnimmt, das Bestreben, ihm auszuweichen, das ihm nicht entgehen kann – alles dieses läßt ihn wenig Tröstliches erwarten. »Ich merke es,« sagte er endlich, »Schiller muß sehr krank sein,« und ist die übrige Zeit des Abends in sich gekehrt.[7] Er ahnte, was geschehen war; man hörte ihn in der Nacht weinen. Am Morgen sagt er zu einer Freundin [Christiane Vulpius]: »Nicht wahr, Schiller war gestern sehr krank?« Der Nachdruck, den er auf das »sehr« legt, wirkt so heftig auf jene, daß sie sich nicht länger halten kann. Statt ihm zu antworten, fängt sie laut an zu schluchzen. »Er ist todt?« fragt Goethe mit Festigkeit. »Sie haben es selbst ausgesprochen,« antwortet sie. »Er ist todt!« wiederholt Goethe noch einmal und bedeckt sich die Augen mit den Händen. – Um 10 Uhr sehe ich Goethe im Park gehen; ich hatte aber nicht den Muth, ihm zu begegnen. Drei Tage lang bin ich ihm ausgewichen; am vierten paßte ich die Zeit ab, wo er auf die Bibliothek gegangen war. Ich folgte ihm, wünschte ihm einen guten Morgen und fing wohl zehn bibliothekarische Fragen an, bei denen ich so wenig etwas dachte, als Goethe bei seinen Antworten, die er mit sichtbarer Geistesabwesenheit, aber mit der größten scheinbaren Geschäftigkeit mir gab. Er hatte nachher gesagt: es wäre ihm lieb gewesen, daß ich nichts von Schiller gesagt hätte, er wäre schwerlich gefaßt gewesen, mir mit Ruhe darauf erwidern zu können. – Jetzt spricht Goethe sehr selten von Schiller, und wenn er es thut, so sucht er die heitern Seiten ihres schönen Zusammenlebens auf.
[Andere Mittheilungen über die Vorgänge nach Schiller's Tod, wie die von A. Genast – »Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers« – sind nicht als zuverlässig anzusehen. Voß selbst schrieb ähnlich wie hier an Solger am 22. Mai 1805.][8]
231.*
1805, Mitte Mai.
[Am Tage nach Schiller's Tod war die Bühne geschlossen gewesen und dies in der darüber erlassenen, wohl von Kirms verfaßten Bekanntmachung durch die traurige Stimmung der Schauspieler begründet worden.]
Einige Zeit darauf führten mich dringende Geschäfte zu ihm [Goethe]; mit Zittern und Zagen trat ich den Weg an. Er emfing mich mit ernster Miene, äußerte aber kein Wort über Schiller's Dahinscheiden. Als ich seine Befehle eingeholt hatte, wollte ich mich entfernen, da rief er: »Noch eins! Sagt dem, der die sonderbare Annonce über den Tod meines Freundes verfaßt hat, er hätte es sollen bleiben lassen. Wenn ein Schiller stirbt, bedarf es dem Publikum gegenüber wegen einer ausgefallenen Theatervorstellung keiner Entschuldigung.«[9]
232.*
1805, 18. Mai.
Nach Schiller's Tode habe ich mit Goethe einen Auftritt erlebt, den ich nie vergessen werde. Er hatte einen kleinen Rückfall von seinem Übel gehabt und[9] ging zum ersten Mal im Park spazieren, wo ich ihm begegnete. An dem Tage hatte er durch Riemer erfahren, daß mein Vater nach Heidelberg gehen würde. Seine Krankheitsschwäche, Schiller's Tod und der Verlust meines Vaters – alles lag schwer auf seinem Gemüth; er fing mit einer Heftigkeit an zu reden, bei der ich vor Entsetzen erstarrte. »Schiller's Verlust,« sagte er unter anderm, und dies mit einer Donnerstimme, »mußte ich ertragen; denn das Schicksal hat ihn mir gebracht; aber die Versetzung nach Heidelberg, das fällt dem Schicksal nicht zur Last, das haben Menschen vollbracht.« Ich vermochte ihm nichts zu antworten, aber nie habe ich einen größern Jammer gefühlt, als in diesem Augenblick. Wir gingen wohl fünf Minuten stumm neben einander. Endlich ergriff er meine Hand mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit und drückte und schüttelte sie, wie er es nie gethan.
Abends besuchte ich die Vulpius; die sagte mir, er sei noch auf seinem Zimmer eine Zeit lang bewegt gewesen. Unter anderm hatte er gesagt: »Voß wird seinem Vater nach Heidelberg folgen und auch Riemern wird man über kurz oder lang wegziehn, und dann steh' ich ganz allein.«[10]
1630.*
1805, Ende Juni.
Als Friedrich Heinrich Jacobi im Jahre 1805 nach München reiste, kam er auch durch Weimar und sprach bei Goethen ein, der ihn mit alter Freundschaft empfing und sich traulich mit ihm hinsetzte. Manches alte Thema wurde hervorgerufen und besprochen, wobei schon einigemal Goethe über den Standpunkt und die Meinungen Jacobi's sehr den Kopf schütteln mußte. Als sie aber allein geblieben waren, kam Jacobi mit der[42] vertraulichen Anfrage: Goethe möchte ihm doch nun einmal unter vier Augen offen und wahr bekennen, was er mit seiner »Eugenie« eigentlich gewollt habe. Goethen war es, wie er nachher selbst gestand, als wenn man ihm einen Eimer kalt Wasser übergösse; er sah plötzlich eine nie zu füllende Kluft zwischen sich und jenem, einen Abgrund ewigen Mißverstehens, und dabei war das Begehren so dumm und albern. Doch faßte er sich, und um nur den Freund und den Abend leidlich abzuthun, sagte er begütigend: »Lieber Jacobi, lassen wir das! Das würde uns für heute zu weit führen. Ein andermal, wenn es sich so fügen will.« Und fing sogleich ein anderes Gespräch an.[43]
233.*
1805, 21. (?) Juli.
Gleich nach meiner Rückkunft [nach Halle] sah ich ihn [Goethe] noch eine Stunde bei Wolf, den Tag darauf ging er nach Lauchstädt. Vorgestern [13. August] war ich auf einem großen Diner mit ihm bei Wolf ..... Er war gleich das erste Mal [21. Juli?] sehr freundlich mit mir, aber freilich in's rechte Sprechen bin ich noch nicht mit ihm gekommen; denn damals war Gall an der Tagesordnung, und neulich waren gar zu viel Menschen da.
Als [bei dem ersten Besuch] Mine Wolf herüberging, ihm zu sagen, ich wäre da, lag er auf dem Bette und las und sagte: »ei, das ist ja ein edler Freund; da muß ich ja gleich kommen.« Und so kam er denn auch bald und nahm mich wie einen alten Bekannten und ich auch so; denn man kann das sehr bald. Worüber ich am liebsten mit ihm spräche, darauf bin ich noch nicht gekommen; er war eben damals von Gall und Schiller voll.[11]
1795.*
1805, Juli oder August.
Gern hätte ich Ihnen [Böttiger] erzählt, wie Jacobi's wiederholte Unterhaltungen in Leipzig mir in Lauchstädt Goethe's Bekanntschaft zuführten, von dem ich ein ganz anderes Bild mir gemacht hatte, und mit dem ich dort in so lange und mir so interessante Verhandlungen über Ästhetik und Philosophie verflochten wurde, daß wir nicht zu Ende kamen und er mir sogar bei seiner ersten Reise nach Leipzig einen Besuch ankündigte.[214]
1486.*
1805, Ende Juli bis Anfang August.
Ich habe in diesen vierzehn Tagen ein Geschäft eigner Art, das mich ganz beschäftigt und dem ich selbst nur die Augenblicke abstehle, wo ich an Euch [Abeken und Solger] schreibe. Goethe hat mir die Umarbeitung von »Hermann und Dorothea« aufgetragen, und ich darf ändern, wo und wie viel ich will. Dazu hat er mir sein Manuscript gegeben, wo die einzelnen Verse so weit von einander abstehen, daß ich viel dazwischen schreiben kann. Ich war anfangs schüchtern dabei, doch nun habe ich, da er es nicht anders haben will, auch toll hineincorrigirt. »Nicht bloß begangene Sünden,« sagte er, »sondern auch die Unterlassungssünden suchen Sie zu tilgen.« Nun lege ich jeden Hexameter auf die Goldwaage und sehe zu, das Gedicht auch in dieser Hinsicht[292] vollkommen zu machen, ohne daß die naive Sprache und die vollendete Diction dabei einbüßt. Goethe ist jetzt in Lauchstädt; ich geb' ihm alle Wochen Rechenschaft, wie weit ich gekommen bin, und wenn er zurückkommt, da wollen wir das Gedicht noch einmal gemeinschaftlich durchgehen .... Goethe ist mit dem Anfang meiner Arbeit, den er nur gesehen hat, zufrieden und sagte: sie wäre besonnen und mit Eindringung in seinen Sinn gearbeitet, und dies Zeugniß macht mir Muth, unverdrossen fortzufahren.[293]
234.*
1805, vor 10. August.
Die Schauspielerin Wolf erzählte... einmal,... als sie den »Epilog zu Schiller's Glocke« bei ihm [Goethe] einübte, er bei einem besonders treffenden Worte sie faßte mit den Worten: »Ich kann, ich kann den Menschen nicht vergessen!« sie unterbrach und eine Pause, um sich zu erholen, verlangte.[12]
235.*
1805, 16. August.1
»Die Natur hat offenbar gewollt, daß wir nicht eben unsre körperlichen Kräfte in dem Grade des natürlichen Zustandes erhalten sollten, daß wir schwächer werden sollten, ohne doch darum einzubüßen; denn sie hat uns in der menschlichen Gesellschaft, im Zusammenleben und in der Gewalt des Verstandes eine Stärke zubereitet, die alle Stärke der wildesten Thiere übertrifft. Und gewisse Operationen des Geistes gelingen nicht anders, als bei einer zarteren Organisation.«
1 Das Datum ist, sofern die Äußerung in Riemer's Gegenwort gefallen sein soll, jedenfalls falsch.[12]
236.*
1805, Mitte August.
Henke, Goethe und Wolf hatten sich vereinigt, um dem Herrn v. Hagen einen Besuch zu machen.
– – – – – – – – –
Als der Wagen vorfuhr, ging der Herr v. Hagen den dreien entgegen und rief ihnen zu: »Willkommen, willkommen, Ihr Ersten bei einem der ersten eurer Verehrer!« Seine Augen funkelten dabei vor Freude und Bewegung. Goethe schien anfangs etwas zurückhaltend und gemessen, aber er thaute immer mehr auf, als er sah, welchen regen Geist und welch redliches Gemüth er vor sich hatte. Er wurde auf eine Art gesprächig, wie ich es noch von keinem gehört, so inhaltsreich und doch so einfach und so darstellend war seine Mittheilung. Er sprach unter anderm über Gebirgsschönheiten und Aussichten und was sie bedinge; über Farben, Licht und Schatten und über Landschaftsmaler, und ich [Theolog Waitze1] brauche gewiß nicht erst zu versichern, daß alle mit gespannter Aufmerksamkeit ihm zuhörten. Einige frappante Witze, welche der Wirth dazwischen schleuderte, brachten ihn zum lauten Lachen ..... Der Hausherr wagte sogar mit Goethe zu disputiren,[13] indem letzterer der Behauptung widersprach, daß eine Person, welche die Erfüllung des kategorischen Imperativs in sich darstelle, zugleich als sittlich vollendetster Charakter der höchste Gegenstand schöner Darstellung sei, weil die wahre Größe stets eine sittliche sein müsse. Und wie klar und geistreich widerlegte Goethe diese Behauptung! – Auch auf objective und subjective Darstellung kam die Rede. Wolf behauptete, bei den Griechen habe sowohl bei den Dichtern als bei den Rednern der besten Zeit die objective Darstellung vorgeherrscht, weil die Objectivität zur Subjectivität nicht des Individuums bloß, sondern der Nation geworden sei; als die Nation diese Richtung verloren, sei immer mehr das Individuell-Subjective hervorgetreten ..... In Beziehung auf poetische Behandlung philosophisch-religiöser Gegenstände, welche Goethe »einen widerstrebenden Stoff« nannte, kam die Rede auf Tiedge, den der Wirth kannte und an welchem er Wohllaut und Musik der Sprache lobte. Ein nicht gedrucktes, wirklich schönes Gedicht, welches er einst von dem Dichter erhalten hatte, trug er mit bewundernswerthem Wohlklange und richtigster Betonung vor. Das nahm Goethe mit großer Freude auf, bemerkte aber einige Stellen, wo »der alte Herr« doch gefehlt habe. Herr v. Hagen sagte: »Die ›Urania‹ ge fällt mir nicht: als Philosophen stört mich die Poesie und bei der Poesie sperrt sich der Stoff, der sich mir immer in philosophischer Reinheit entgegendrängt. Stoff und Gewand[14] gehören hier nicht zusammen; es ist mir dabei so, als wollte ich dort dem Apoll, oder dort der Venus (er wies auf zwei im Saale befindliche Cartonstatuen) ein Kleid von Drapd'or anziehen.« Goethe gab diesem Einfalle seinen Beifall.
Am Abende, als die Gesellschaft sich in Gruppen vertheilte, würdigte mich Goethe einer kurzen Unterhaltung. Er hatte zufällig gehört, daß ich jetzt hier Religionsunterricht gebe; da erzählte er mir, daß sein Sohn... von Herdern confirmirt worden und vorher unterrichtet sei. »Ich habe bei dieser Gelegenheit,« sagte er, »selbst zugehört und auf den Lehrgang geachtet. Licht und Finsterniß, Gutes und Böses im Menschen, im Zwiespalte und in Mischung, war die Grundlage. Dann folgte die Lehre von des Menschen Freiheit und Sittlichkeit als Bestimmung und seine Hülfsbedürftigkeit. Daraus ward die Nothwendigkeit der Erlösung und Beseligung dargethan und diese als in Jesu erschienen nachgewiesen. Was mir dabei sehr gefiel, war, daß alles dem Confirmanden so hingehalten und überall so klar dargestellt wurde, daß er immer selbst das Rechte erkennen und bei sich selbst feststellen konnte. Es war eine Vollständigkeit, welche keinen Fehlgriff oder Zweifel aufkommen ließ; überall stand die Frage vor ihm: ob er dem Lichte oder der Finsterniß angehören wollte.«
– – – – – – – – –
Am spätern Abend setzte sich die Gesellschaft nochmals[15] zu Tische – mehr der Unterhaltung, als des Essens wegen. Der Wirth gab eine für die seltensten Gäste gesparte Flasche zum Besten; er bemerkte, daß diese Flasche ein Jahr älter sei, als Goethe und er selbst: beide waren 1749 geboren. Henke, der gerade etwas an Halsschmerzen litt, hatte wenig Wein getrunken und wollte zu Abend durchaus keinen mehr trinken, sondern hatte sich ein Glas Bier erbeten. Da wollte ihn der heitere Wirth auf seine Weise bewegen, seine Rarität auch zu kosten; es entstand ein Spaß daraus, der viel Heiterkeit erzeugte. Der Herr v. Hagen ernannte nämlich Goethen zum Gesetzgeber und Kampfrichter gegen Henke. »Es hilft nichts, Hochwürden: Sie müssen sich heute der Excellenz unterwerfen.« Da dictirte Goethe, jeder solle, wie er es am Besten könne, Henke einladen und treiben, den Wein zu kosten. »Der alte Herr hier,« sagte er zu Hagen, »von dem ich höre, daß er ein fester Kantianer sei, muß es in Form eines Syllogismus thun, dem Henke nichts anhaben kann; Wolf muß ihn in einer griechischen Rede im Anakreontischen Ton auffordern.« Hierauf sah er mich an; ich verneigte mich mit den Worten: »Ich komme bei dem Symposion solcher Männer nicht in Betracht.« Aber das ließ der Wirth nicht gelten, sondern sprach: »Ei was! der Herr macht Verse; geb' er sein Scherflein auch.« – »Nun gut!« sagte Goethe, »so schmieden Sie schnell ein Distichon. Henke aber mag sich vertheidigen, aber nur in lateinischer Rede, die ihm ja so[16] sehr zu Gebote steht.« – »Nein!« sagte Henke, »da sitzt der Mann (auf Wolf zeigend), der eine fünfte Facultät, die philologische, gestiftet hat; der läßt mir nicht ein Wort passiren. Es wäre Verwegenheit, mit theologischem Latein vor ihm zu erscheinen.« – »Wenn das erste Glas getrunken und das zweite eingeschenkt ist,« sagte Goethe, »muß jeder fertig sein, und wenn Henke überwunden wird, trinken wir mit ihm auf seine Gesundheit.«
1 Wohl richtig für »Waitz«, wie Varnhagen v. Ense schreibt.[17]
237.*
1805, August (?).
»Von seinem Vortrag ist man im Ganzen wohl zufrieden. Ist er gleich nicht immer streng logisch geordnet, und laufen gleich zuweilen entbehrliche excursus mit unter, so ist er doch immer nicht nur unterhaltend, sondern auch belehrend. Ich habe den Schlüssel zu manchen von mir gemachten Beobachtungen gefunden. Auch ist mir Gall's Organenlehre, ob wir gleich noch nicht an das Detail gekommen sind, doch schon ziemlich klar und scheint mir sehr annehmlich. Das den Schädel ein wenig emportreibende kleine Partikelchen Hirn thut's freilich nicht, sondern der gesammte Theil des Nervensystems, der in jenem Partikelchen endet. Ich stelle mir es so vor: wenn wir einen Schädel in[17] den Händen haben und auf ein an demselben befindliches sogenanntes Organ hinabsehen, so blicken wir aus der Höhe auf einen belaubten Wipfel eines Baumes, dessen Äste wir aus unserem Standpunkt nicht bemerken und noch weniger (den hier in Rückenmark eingehüllten) Stamm sehen können. Aber wenn ich aus meinem Fenster meiner obersten Etage auf einen tief darunter stehenden Baum hinabsehe, so unterscheide ich gewiß sehr richtig an der Belaubung des Wipfels, ob der Baum in gesundem starkem Trieb stehe, oder ob er am Stamm den Brand habe, an der Wurzel von Wassermäusen angenagt sei u. dgl. Selbst die einzelnen kränkelnden oder gesunden Äste erkenne ich von oben herab sehr sicher an der Beschaffenheit ihrer Belaubung. Nicht als wenn die Kraft des Baumes von dem üppigen Laube abhinge, sondern ich dort oben, der ich nicht hinabsteigen und Stamm und Wurzel untersuchen kann, erkenne nur die kräftige und kränkelnde Vegetation am Laube des Wipfels.«[18]
238.*
1805, September (?).
Die Schauspielerin Wolff erzählte... einmal (1809), sie habe, da sie die Eugenie habe spielen sollen, bei Goethe in seinem Zimmer allein Leseprobe gehabt.[18] Als sie an das Ende des vorletzten Monologs gekommen –
Und wenn ich dann von Unbill dieser Welt
Nichts mehr zu fürchten habe, spült zuletzt
Mein bleichendes Gebein dem Ufer zu,
Daß eine fromme Seele mir das Grab
Auf heim'schen Boden wohlgesinnt bereite –
habe Goethen sein Gefühl bewältigt; mit Thränen im Auge habe er sie innezuhalten geboten.[19]
1487.*
1805, Herbst.
An Goethe hatte ich einen Brief des Professors Schaumann in Gießen, der mehrere Recensionen Goethischer Werke für die Jenaische Litteraturzeitung geschrieben hatte. Er empfing mich stehend in der Mitte des Zimmers, ein kräftiger rüstiger Mann, auch dem Anzuge nach mannhaft, etwa wie ein Forstmann, und setzte sich mit mir an ein Fenster. Er fragte mich nach den wissenschaftlichen Zuständen meiner, ihm ehemals wohlbekannten Heimath [Hessen]; das Gespräch fiel auch auf Wetzlar, und da ich naiv genug war, auch Werther'sche Localitäten zu berühren, sagte er: »Ja, das war ein Stoff, bei dem man sich zusammenhalten oder zugrundegehen mußte.«...
Voß, der tägliche Besucher der beiden großen Dichter,[293] erzählte nur von Goethe, wie angenehm es ihm sei, wenn er mit ihm Sophokles lese; wie er die Wörter, die er zuerst lerne, aufzufassen und nach allen Beziehungen zu würdigen verstehe; daß sich Goethe aus spanischen Büchern, die er von Göttingen erhalte, viele Wörter aufzeichne. Aber auch mit Rührung, wie weise und geschickt Goethe ihn, als er über eine böswillige Kritik aufgebracht war, besänftigt und auf alle Erwiederungen zu verzichten bewogen habe, und so immer wohlmeinend und edel in seinem Rathe sei.[294]
1796.*
1805, 7. November.
Goethe sagte mir vorgestern, ich hätte mich seit der Othelloübersetzung recht herausgemeistert, und es mache ihm Freude, daß ich mich durch diese Übersetzung als einen würdigen Shakespeareleser legitimirt hätte. Er ließ auch eine Flasche Wein holen, die wir der Übersetzung zu Ehren auszechten.[214]
1631.*
1805, 16. December.
Meine Überkunft danke ich Goethe, der viel, sehr viel Güte für mich hat. Er grüßt Dich [Brentano], dankt für unsre Sammlung, [»Des Knaben Wunderhorn«] hat sie gegen viele in Weimar gelobt und wird vielleicht selbst einige Worte darüber in der Jenaer Literaturzeitung sagen. Er hat mich auf alle Tage eingeladen zum Mittagessen, fast über jedes Lied gesprochen, er läßt Dir viel Schönes über des »Schneiders Feierabend« [im I. Bande des »Wunderhorns«, gleich den folgenden Liedern] sagen. Die Fischpredigt, die Mißheirath, der[43] Stauffenberg, das von Procop [»Maria auf der Reise«], zwei Nachtigallen, der Lindenschmied, der Neidhard mit seinen Mönchen schienen ihm am besten. Er sagte mir, die Prinzen und Prinzessin hätten es mit Lust gelesen. Es war mir dabei, als wenn eine schöne Königin mit ihren Fingern durch meine Mähne striche und mir den Hals klatschte. Er wünschte unsre Sammlung auch über die ausländischen Romanzen, sowol die heiligen der Edda, als noch die andern altfranzösischen, englischen, schottischen, spanischen ausgedehnt.[44]
239.*
1805, Ende (?).
Vor vielen Jahren erschien eine antikisirende Tragödie, »Polyidos« von .... Apel in Leipzig. Man versprach sich viel davon, und ich [Gries] ward aufgefordert, das Stück bei Frommanns vorzulesen; Goethe selbst wollte zugegen sein. Ich präparirte mich recht ordentlich und las, so gut ich konnte. Nach beendigter Vorlesung trat .... eine peinliche Stille ein. Endlich erhob sich Goethe, kam auf mich zu und sagte: »ich bin Ihnen um so mehr verpflichtet, daß Sie diese Mühwaltung übernommen haben, da ich, wäre ich allein gewesen, das Stück schwerlich zu Ende gebracht hätte.«[19]
240.*
1805 zu 1806, Winter.
Unter den uns vorliegenden Aufzeichnungen Sophiens [v. Schardt] befindet sich außer den auf die Farbe bezüglichen eine besonders ausführliche über den Magnet, sein Wesen, seine Beziehungen 1) auf sich, 2) zum Erdmagneten und die Minerale, welche magnetische Kraft besitzen. Wir heben daraus die Bemerkung aus: »Verschiedene Arten der Darstellung eines Begriffs; viererlei Sprachen giebt es dafür. Die erste möchte man die goldene nennen, wodurch das Phänomen, die Begebenheit, selbst erscheint. Die zweite nenne ich die poetische, wobei eine Nebenidee, die dem Hauptbegriff eine größere Klarheit mittheilt, hervorgerufen wird; so sind die Erläuterungen durch Beispiele: ein guter Regent ist gleich einem schattenden Baume, unter dem die Vögel des Himmels nisten. Die mnemonische, wo man an gewisse Dinge willkürlich Erinnerungen knüpft, um sich dieselben dabei zu vergegenwärtigen. Die mathematische.«
Auf einem besondern Blättchen hatte sie sich auf gezeichnet: »Was ist träger als, die Starrheit des Steines? Und siehe! die Natur verleiht ihm Sinne und Hände. Was ist streitbarer, als die Härte des Eisens? Aber es giebt nach und unterwirft sich der[20] Sitte; denn es wird vom Magnetstein gezogen. Und so rennt ein allbeherrschendes Wesen – wer weiß wie? – einem leeren nach, und indem es nahe kommt, tritt es heran und wird festgehalten in umklammernder Umarmung.«
Aus einem andern Vortrage hatte sie folgendes aufgezeichnet: »Zweierlei Vorstellungsarten: dynamisch, atomisch.«
1) Das Wirkende, sich Äußernde, Handelnde, Bewegende, Schaffende.
2) Das Erleidende, Duldende, Angeregte, Bewegte, Gegensatz des einen zum andern.
1) Ein Unsichtbares, ein Daseiendes ohne vehiculum, eine Kraftäußerung ohne ein Wie, das uns bekannt sein könnte.
2) Atome, wirkliche, sichtbare, zu ergreifende.
1) Die physische, die sich auf das Ganze bezieht.
2) Die chemische, die sich mit dem Besondern, dem Realen beschäftigt.
Aus verschiedenen Vorstellungsarten entsteht ein neues Resultat: jeder hat die seine; jeder neigt mehr zu der einen oder zu der andern herüber. Lukrez, Epikur bekannten sich zu der Vorstellungsart, die wir die atomistische oder chemische nennen möchten; in den realen Stoffen der Materie suchten sie Entstehung und Ordnung durch Hülfe des Zufalls. Andere suchten es in einer unbekannten, unsichtbaren, höhern Gewalt, in anregenden Kräften.
[21] Stets setzt das Wirkende ein Erleidendes, das Bewegte wieder ein Erregendes voraus. Nichts ist, nichts ist geworden, alles ist stets im Werden, in dem ewigen Strom der Veränderung ist kein Stillstand. Der Mensch ist mit jeder Minute ein anderer, doch sich selbst sonderbar gleich, beharrlich, in der Veränderung; dies ist ein Vorzug des höhern Wesens. Die Pflanze z.B., deren organische Natur so viel Ähnlichkeit mit der unsrigen hat, wird ganz verändert und durchaus – ihre Identität geht verloren.
Das Gesetz der Schwere, ein Anziehen und Abstoßen, eine Ausdehnung und [ein] Insichzusammenziehen des elastischen Wesens. Die Erde zieht die Luft, diese zieht sich in sich. Diese gegenseitige Wogung erhält das Gleichgewicht. Ungeheure Gewalt der Luft, oder Streben, von ihr alles zu erfüllen, nichts Leeres zu dulden, daher der in eine verdünnte Luft tretende Körper von der in ihm selbst enthaltenen sich entlastet; im Verhältniß der Verdünnung der äußern strebt dann die in ihm haftende hinauswärts, um diesen leeren Raum zu erfüllen. Dieses Ursache der Athemlosigkeit, Nasenblutens auf hohen Bergen. Nach dem selben Princip sehe ich Tropfen aus dem Erz dringen, das unter der Luftpumpe liegt.
Auf einem weitern Blatte lesen wir:
»Was ist das Sein? Es äußert sich durch Form und Bewegung oder Handlung. Warum soll das Sein anders, als durch diese Darstellung aller Existenz definirt[22] werden. Der Geist ist so gut wie die Materie das sich gestaltende und handelnde Sein in seiner Äußerung. Alle Hauptformen des Erdbodens, die Berge, Steinmassen etc. streben vom Mittelpunkte der Erde nach den Polen zu, kleinere Massen durchkreuzen seitwärts diese Strömung, als ob sie nach kleinern verschiedenen Anziehungspunkten strebten.
Jede veränderte Substanz modificirt die, mit der sie sich vermischt. Diese gegenseitige Wirkung bringt dann unendliche Abweichungen und Abwechslungen hervor. Beobachtungen hierüber im Steinreiche etc. Keine Substanz existirt auf Erden rein für sich und unvermischt. Alles Herabfallende von einer angemessenen Höhe (ductile) bildete sich in der Kegelform. Beispiele: wenn man Blei gießt, Wassertropfen etc.«
Abgesondert hat Sophie noch folgendes aufgezeichnet: »Strömungen der Berge von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Die Erde ist unter dem Meere fortgehend nach denselben Regeln. Inseln sind Köpfe der Berge. In den Richtungen von Norden nach Osten [so!] befindet sich das Eisen, von Westen nach Osten die Silberadern. – Wir verbinden die erste Empfindung von etwas, z.B. die der Ehrfurcht, der Liebe etc. mit dem Gegenstande, der sie erweckte, darum sind die ersten Empfindungen so dauernd.«[23]
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