1819

1563.*


Um 1819 (?).


Mit Karl Wolfgang und August von Heygendorff

[Als Beispiel von Goethes ausgebreiteter erzieherischer Thätigkeit ist folgendes anzuführen:]


Mein Vater [Generalmajor v. Heygendorff] theilte mir mit, daß Goethe ihn und seinen Bruder in Begleitung ihres gemeinsamen Hofmeisters öfters habe zu sich kommen lassen, und auf die Erzählungen über das Thun und Treiben der Knaben öfters gesagt habe: ›Das ist recht! Das ist brav!‹[113]


1680.*


1819, Mitte Januar.


Mit Ernst von Schiller

Der Geheimrath Goethe liebt ihn ordentlich und versicherte ihn, er hätte noch gehofft, viel mit ihm zu leben und hätte auf ihn gerechnet.[85]


725.*


1819, 27. Januar.


Mit Friedrich von Müller

»Gebet, gebet, gebet zum ersten, zweiten und dritten!« rief Goethe bei Besprechung der neuen Finanzeinrichtung aus.[1]


726.*


1819, 1. Februar.


Mit Friedrich von Müller

Goethe sagte: »Der dritte und vierte Theil des Don Quixote ist zuerst von einem Andern und dann erst später von Cervantes selbst geschrieben. Er hatte den guten Tact gehabt, mit jenen zwei Theilen enden zu wollen, denn die wahren Motive sind damit erschöpft. So lange sich der Held Illusionen macht, ist er romantisch, sobald er bloß gefoppt und mystificirt wird, hört das wahre Interesse auf.«[1]


727.*


1819, 24. Februar.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Ich ging um 8 Uhr zu Goethe. Es wurde aus dem Divan vorgelesen, den Goethe zum Vehikel seines[1] politischen Glaubensbekenntnisses und mancher, wie er es nennt, Eselsbohrereien zu brauchen scheint. Unter andern kam das Gespräch auf den Hof Herzog Karls von Würtemberg, dessen geschmackvollem Glanz Goethe, sowie dem Musikdirector Jomelli Lob spendete. Über unsern neuen Capellmeister Hummel äußerte Goethe: es sei ihm eben Ernst mit seiner Kunst, wie das sein muß, wenn irgend ein Mensch seine Stelle ausfüllen will.[2]


728.*


1819, 7. März.


Mit Friedrich von Müller

Goethe erzählte mir sehr heiter von dem Entstehen des Klosters im Park (30. Januar 1777) und von dem abendlichen Fischerspiel in Tiefurt.[2]


729.*


1819, 16. (?) März.


Mit Julie von Egloffstein u.a.

Nach einem Concert, das unsere Erwartungen nicht hinlänglich befriedigte, fuhren wir zu Goethens. Der alte Herr empfing uns ganz besonders zärtlich und entwickelte, als wir bald darauf mit ihm am traulichen Eßtisch saßen, seine ganze Liebenswürdigkeit in Scherz und Ernst auf's Allerreizendste. O, wie hinreißend, wie unwiderstehlich ist der Mann, wenn er in heitrer[2] Gemüthlichkeit sich zwischen seinen Kindern und Freunden bewegt – bald das Größte und Höchste in's Gespräch verflechtend, bald sich scherzhaft wieder zu dem Kleinsten und Unbedeutendsten herabneigend und jedem einen neuen Werth, eine neue Bedeutung verleihend.

Anfangs drehte sich die Unterhaltung um die Begebenheiten des Tags – es wurden einige Worte über das Concert gesagt – dann erzählte Goethe, welchen herrlichen Schatz alter Brochuren aus dem sechzehnten Jahrhundert er in Jena aufgefunden hätte, die von der Bluthochzeit und mehreren interessanten Begebenheiten aus früherer Zeit handelten und mit den allerwunderlichsten Holzschnitten verziert seien und damals statt Zeitungen gedient hätten. Natürlich drang sich mir hier der Wunsch auf, zu erfahren, seit wann eigentlich die Zeitungen eingeführt und eine bestimmte Ordnung und Form darin beobachtet würde, und wie es die Menschen vordem gehalten hätten, und Goethe befriedigte ihn auf alle Weise. Er erzählte mir nämlich, wie die Kaufleute mit ihren Speculationen stets die politischen Ereignisse als Hebel oder Hemmketten betrachtet und sich deshalb untereinander in Briefen Nachricht darüber ertheilt hätten. Diese Briefe seien zu weiterer Mittheilung späterhin gedruckt worden, aber lange Zeit sei hingegangen, ehe man auf den Einfall gekommen wäre, eine fortlaufende Reihe von Tagesblättern einzusetzen und damit auch ohne besondere Erscheinungen oder Erlebnisse in der politischen Welt fortzufahren. – Dieser[3] Gegenstand leitete uns dann weiter zurück in die entferntesten Zeiten der erwachenden Cultur zu der Erfindung der Schrift überhaupt, und ich warf Goethe die Frage auf, wie Homer seine Werke eigentlich geschrieben habe.

»Diese Frage, mein liebes Engelchen!« sagte er, »kann nur durch weitläufige Erzählungen beantwortet, oder vielmehr verneint werden.« Nun setzte er uns auseinander, daß Homer aller Vermuthung nach gar nicht existirt und folglich gar nicht geschrieben habe. Die Welt sei geneigt in allem die Persönlichkeit zu lieben, und deshalb schreibe sie einem einzigen so große Gabe zu, wahrscheinlich aber hätten mehrere aufeinanderfolgende Dichter jene Gesänge zustande gebracht – und durch mündliche Überlieferung weiter befördert, bis dann endlich einer auf den gescheidten Gedanken gekommen sei, sie aneinander zu reihen und zu re(digiren), dem denn auch der größte Ruhm gebühre.

Während diesem Gespräch, das eigentlich mehr zwischen Goethe und mir stattfand, hatten die Übrigen die heitersten Witze untereinander über den jungen [Franz] Nicolovius gemacht, und Goethe nahm sich seines Großneffens endlich mit Lebhaftigkeit an, mich auffordernd, ihn jenen beiden Damen, die sich um ihn stritten – Linchen [Gräfin Egloffstein] und Ottilien nämlich – abspenstig zu machen; er selbst gab mir darauf die besten Anschläge an die Hand, wie ich die[4] Aufmerksamkeit dieses höchst originellen und schweigsamen jungen Menschen aus mich lenken könnte, und forderte zuletzt seinen Sohn auf, sich mit mir zu verbünden, indem ja dem Mephistopheles nichts unmöglich sei, was List und Bosheit verlange. Linchen meinte, ich könne es immerhin versuchen; denn es würde mir nichts helfen, indem noch keiner sie und mich zugleich geliebt habe, als einmal ein Narr. »Ei, Kinder, seht!« – rief Goethe, – »auch ich liebe Euch beide zugleich, und so könnt Ihr Euch denn rühmen, daß Euch nicht nur ein Narr, sondern auch ein gescheidter Mann auf gleiche Weise geliebt.«[5]


730.*


1819, 18. März.


Mit Christian Gottfried Nees von Esenbeck

und Friedrich von Müller

Heute Abend traf ich [v. M.] bei Goethe den Präsidenten Nees v. Esenbeck aus Bonn, einen kleinen und hagern, muntern und ansprechenden Mann, der von dem Dünkel der modernen Naturforscher ganz frei schien. Goethes verbindliches und freundliches Wesen gegen ihn war höchst behaglich. Er las ihm und uns aus dem persischen Buche Kabus Unterricht an seinen Sohn vor, wie man sich als Regent und Particulier in allen Lebensverhältnissen zu betragen habe.[5]


731.*


1819, 28. März.


Mit Friedrich von Müller

Goethe war besonders liebenswürdig. Er sprach von Hammers Assassinengeschichte, über den Unterschied zwischen Chronik und Memoiren, und betonte den Mangel des Gefühls vom Werthe der Gegenwart, die Jedes nur los zu werden trachte, um darüber hinaus zu kommen; das sei die Ursache, daß man jetzt so wenig aufzeichne. Dann sprach er von der Religion. Zuversicht und Ergebung sind die ächten Grundlagen jeder bessern Religion, und die Unterordnung unter einen höheren, die Ereignisse ordnenden Willen, den wir nicht begreifen, eben weil er höher als unsere Vernunft und unser Verstand ist. Der Islam und die reformirte Religion sind sich hierin am ähnlichsten. Alle Gesetze und Sittenregeln lassen sich auf eine zurückführen, auf die Wahrheit. Fehler der Individualität als solcher gäbe die moralische Weltordnung jedem zu und nach; darüber möge jeder mit sich selbst fertig werden und bestrafe sich auch selbst dafür; aber wo man über die Grenzen der Individualität herausgreife, frevelnd, störend, unwahr, da verhänge die Nemesis früh oder spät angemessene Strafe. So sei in Kotzebue's Tod eine gewisse nothwendige Folge einer höhern Weltordnung erkennbar.[6]


732.*


1819, 30. März.


Mit Friedrich von Müller

Abends war ich bei Goethe, der sehr ernst war und fast bloß von dem leidigen Zustande der Jenaischen Dinge1 sprach. Man müßte jetzt nur von einem Tag zum andern leben; niemand sei der Sache mehr gewachsen.


1 In Folge der Ermordung Kotzebue's.[7]


1681.*


1819, 15. April.


Mit Friedrich von Müller

und Julie von Egloffstein

Ich traf mit Julie bei Goethe zusammen, der sich anfänglich mehr mit meiner Rede [auf den verstorbenen Minister v. Voigt], als mit mir abgab. »Sperlingskopf«, Erzählung von den Assassinen. Mittheilung[85] einer für Goethe rührend treuen Auffassung seiner Motive bei den Festgedichten (durch Rochlitz). – »Es ist besser, Du glaubst an das Falsche, als Du zweifelst am Wahren,« sagte er bedeutend zu Julien. »Alle Geschichte ist mißlich und schwankend, aber wer Dir etwas zweifelhaft hinterbringt, den kannst Du nur gleich abweisen.«[86]


1682.*


1819, 18. April.


Mit Friedrich von Müller

Abends bei Goethe ..... Kotzebue's Blut, sagte Goethe, bringe uns erst die wahre Preßfreiheit, weil nun jeder mit dem Innersten hervortrete.[86]


1529.*


1819, 10. Mai.


Mit Joseph Green Cogswell

Cogswell... speaks of his [Goethe's] enthusiastic praises of Byron, and also says that he was ›not merely gracious, but affectionate and even playful‹, and that they sat together till midnight and were in great glee.[351]


733.*


1819, 19. April.


Mit Friedrich von Müller u.a.

»Jedes Ding,« sprach Goethe, »jede Beschäftigung verlangt eine eigene Form, eine Formel, die, das Unwesentliche ausschließend, den Hauptbegriff scharf umgränzt.« Viele empfänden das Richtige, möchten es gern darstellen, könnten aber nicht zur passenden Form gelangen.

Wie anmuthig scherzte der herrliche Mann mit Ulrike [v. Pogwisch], der er gewisser technischer oder Coterie-Wörter Bedeutung anschaulich machen wollte, z.B. Kategorien, caput mortuum. Sie müsse dergleichen verstehen, aber nie selbst aussprechen.

Dann theilte er Anekdoten von seinem früheren Leben in Ilmenau mit; erzählte von den tollen Späßen[7] mit dem Glasmann Glaser, der durch alle vier Elemente von Goethen geängstigt und für sein Handbieten zu vorheriger nächtlicher Perturbation bestraft wird. Er erzählte von Einsiedels gottlosem Wegziehen des Tischtuches mit allen Abendspeisen und seiner Flucht. Aber sobald die Sonne kam, war Gottesfriede; Niemand durfte sich mehr am Andern rächen. Er erinnerte an v. Seebachs Wort beim Plumpsackspiel zu Wilhelmsthal: Schlagt doch zu! so gut wird es Euch nicht leicht wieder, Euern Fürsten und Herrn prügeln zu dürfen – fand er ganz sublim und grandios. Damals ritt letzterer täglich ein rasches bequemes Pferd, Poesie genannt. »O, es waren nicht schlechte Zeiten!« rief er wehmüthig aus. Dann kam ein bitteres Urtheil über den Stand des Weimarischen Theaters. Als einst die Göchhausen Graff ungerecht getadelt, habe er ihr gesagt: »Fräulein, Sie werden lange faulen, wenn Graff noch der Stolz unserer Bühne sein wird.«[8]


1683.*


1819, 19. April.


Mit Friedrich von Müller u.a.

[Ergänzung zu Nr. 733. Anfang:]


Abends bei Goethe. Er kritisirte meine Rede und bemerkte, ich habe mich vor zu ausgedehntem Gebrauche der Tropen zu hüten, wohin mein Stil gerade neige. »Es ist unrichtig zu sagen: ein abgeschlossenes Leben fordert. Ein abgeschlossenes Leben ist kein Leben mehr, es ist todt; jenes kann nichts fordern. Die Keuschheit der Tropen, ihre Proprietät ist Hauptmaxime des Stils[86] im westlichen Europa. Außerdem fällt man ins Bodenlose, Verwirrte, Absurde.« Bloß durch strenge Angeschlossenheit der Begriffe am Bilde, wodurch unmittelbare Anschaulichkeit erlangt wird, durch den eigensten keuschesten Gebrauch der Tropen habe er, Goethe, sich die Jugendlichkeit des Stils bewahrt. Man müsse sich von solchen Grundmaximen ganz durchdringen lassen, überhaupt eines Lehrers Ansichten so in Fleisch und Blut aufnehmen, daß man seine Worte nicht zu wiederholen brauche, ja sie ganz vergessen könne und doch immer den rechten Begriff wieder zu construiren, den richtigen Text durch eine entsprechende Maxime zu finiren vermöge.[87]


734.*


1819, 24. April.


Gesellschaft bei Goethe

Heute war große Abendgesellschaft bei Goethe, die Gräfin Henckel, Line (v. Egloffstein), Adele (Schopenhauer), Coudray und Tieck waren anwesend. Goethe sprach über die Eigenthümlichkeit der deutschen Sprüchwörter bei den verschiedenen Nationen; die griechischen[8] gingen alle aus unmittelbarster, speciellster Anschauung hervor, z.B. der Storch im Hanfe; die deutschen seien stets derb, tüchtig, sittlich, bezeichnend.

Dann sprach er über die Kunst zu sehen. »Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht. Oft sieht man lange Jahre nicht, was reifere Kenntniß und Bildung an dem täglich vor uns liegenden Gegenstande erst gewähren läßt. Nur eine papierne Scheidewand trennt uns öfters von unsern wichtigsten Zielen, wir dürften sie keck einstoßen und es wäre geschehen. Die Erziehung ist nichts anders als die Kunst zu lehren, wie man über eingebildete oder doch leicht besiegbare Schwierigkeiten hinauskommt.«[9]


735.*


1819, 25. April.


Mit Friedrich von Müller

und Julie von Egloffstein

Abends war ich mit Julie v. Egloffstein bei Goethe, der ihr Talent mit Roux1 verglich, welcher aus den Landschaften nie ein Bild habe machen können. Sehr schön war seine Erzählung, wie er einst auf bestem Wege gewesen sei sich in Fräulein v. Mellish zu verlieben. Nachdem er der kühnlich von Julie mit der Ölmalerei eingegangenen Ehe Lob gespendet, erzählte er uns von seinen Schweizer Reisen, von dem Berner[9] Arzt Schuppmüller2, glaube ich, der mit seinem hellen, scharfen Auge den Leuten jede Krankheit angesehen, gleichsam in Lunge und Leber hineingeguckt habe. Auch sprach er von seinem einstigen Vorhaben, in Italien für immer zu bleiben und das Leben in Rom Tag für Tag in großen Gemälden zu schildern. »Die Natur ist eine Gans, man muß sie erst zu etwas machen. Bekenne Dich nur,« sagte er zu Julie, »für einen armen Hund und stehle, wo Du kannst, aus fremden Bildern, selbst vom Altare.« Julie gestützt auf den einen Arm, war ganz Auge und Ohr für Goethe, ihr Auge schwamm im innigsten Behagen und wendete sich dann freundlich zu mir, gleichsam fragend, ob ich auch Alles recht mitfühle. Es war ein himmlischer Abend.


1 Jakob Roux, Maler in Jena


2 Jedenfalls Michel Schuppach.[10]


1684.*


1819, 25. April.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzung zu Nr. 735. Im Anschluß an »in großen Gemälden zu schildern«: ]


Von dem Consul v. Moritz, seiner unendlichen Tüchtigkeit und Gründlichkeit; nie sei er liebenswürdiger, geistreicher, mittheilender gewesen, als in den Stunden des Abschiedes, wenn schon der Postillon geblasen.[87]


736.*


1819, 28. April.


Gesellschaft bei Goethe

Abends war große Gesellschaft bei Goethe. Er erzählte der Line v. Egloffstein, wie er nur noch bei Gewährung1 seltner, sittlicher oder ästhetischer Trefflichkeit weinen könne, nie mehr aus Mitleid oder aus eigner Noth.


1 Erwähnung?[10]


737.*


1819, 6. Mai.


Mit Friedrich von Müller

Ich war noch spät bei Goethe, dem ich sein Anliegen wegen der Münzcabinetsschlüssel erledigte und der sehr heiter und interessant war. Er fürchte sich nicht vor der Arbeit des Ordnens im Münzcabinet, man müsse nur in Alles Methode bringen und die Sachen nicht zu transscendent nehmen. Bei allen Geschichten ist die Form der Behandlung die Hauptsache. Hierauf sprach er von den Fortschritten der Osteologie und vergleichenden Anatomie in Jena, welche bald die menschliche Anatomie fast entbehrlich machen werde. Er halte die verschiedenen Museen klüglich auseinander; nach seinem Tode werde man wahrscheinlich durch Vereinigung derselben Alles verderben und eine Art Akademie bilden, wo dann gleich alles Dumme und Absurde hervortrete.[11]


738.*


1819, 10. Mai.


Mit Friedrich von Müller, Heinrich Meyer und Joseph Green Cogswell

Bei Goethe, der sehr heiter war, traf ich einen interessanten jungen Amerikaner aus Boston, Namens Cogswell1, der schon drei Jahre in Europa umhergereist war. Die Unterhaltung drehte sich lange um Lord[11] Byron, den Goethe für den einzigen großen Dichter jetziger Zeit erklärte. »Wären wir zwanzig Jahre jünger,« sprach Goethe zu Meyer, »so segelten wir noch nach Nordamerika.« Und wenn's dreißig Jahre wären, so könnte es auch nichts schaden, sagte dieser trocken.


1 zweifellos so, statt Boxwell].[12]


739.*


1819, 12. Mai.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Bei Goethe war es heute munterer als gewöhnlich. Er erzählte von dem Venetianer Schauspieler, der die Bösewichte so trefflich spielte, daß Niemand mit ihm umgehen wollte und das Publicum einst, als er erstochen werden sollte, rief: tira, tira. Juliens Ölbild lobte Goethe sehr.[12]


740.*


1819, 7. Juni.


Mit Friedrich von Müller

Heute Abend war ich bei Goethe, der sich in den Finger schnitt und ihn bloß fest zuband, um ihn prima intentione zu heilen. Goethe kam hierauf auf Jenas Universitätsverhältnisse zu sprechen und gestand zu, daß Voigt's Schwäche gegen Eichstädt großentheils den Ruin von Jena herbeigeführt habe. »Man muß stets die Gunst vertheilen,« sagte er, »sonst windet man das Ruder sich selbst aus der Hand.« Er führte dabei an,[12] er habe 22 Jahre lang dem Theater vorgestanden, ohne sich eine Schwäche gegen eine Actrise zu verstatten, deren mehrere, besonders Euphrosyne und die Wolff, es ihm doch sehr nahe gelegt. Wer aber die Lust des Herrschens ein Mal empfunden, dürfe nicht leichtsinnig den Stützpunkt durch Favoritschaften aufgeben. Auf Jena zurückkommend, spendete er Renner und Döbereiner großes Lob.[13]


741.*


1819, 14. Juni.


Mit Friedrich von Müller

und Heinrich Meyer

Abends war ich mit Meyer bei Goethe. Er war sehr gesprächig und mittheilend. Die wunderliche Kephalideische1 Biographie, Friedr. Heinrich Jacobi's Leichenrede gaben Stoff zur Unterhaltung. »Jacobi's Schriften,« sagte Goethe, »sind nichts für mich; ich kann mich wohl in entgegengesetzte Systeme hinein denken, aber nicht in halb zu, halb abfällige, dunkelnde, nebelnde.« Dagegen lobte er Jacobi's persönliche Liebenswürdigkeit, Anmuth, Offenheit.

Von Raupachs »Lorenz und Cäcilie« urtheilte er ungünstig; es sei Talent und Ahndung des Rechten vorhanden, auch einzelne Schönheiten; aber durchaus nichts Rechtes, nichts Haltbares, nichts Darstellbares im Ganzen. Die Fabel des Stücks schien ihm zu unbedeutend.[13] Von Müllners »Albaneserin« urtheilte er insofern besser, als dieses Stück auf den Brettern Effect machen werde, weil es mit Kunst zusammengesetzt sei, wie wohl verflochten und wunderlich genug.


1 Aug. Guil. Kephalides, Reise durch Italien und Sicilien, Leipzig 1818, 2. B.[14]


742.*


1819, 15. (?) Juni.


Mit Friedrich von Müller

Nein, beste Line [Gräfin Egloffstein], ich schreibe Ihnen nicht, wie große Neigung ich auch gestern dazu hatte; – denn ich weiß aus einer verdrießlichen Pyrmonter Erfahrung, daß Sie mir nicht antworten. Nein: ich habe Ihre lieben Schriftzüge noch nicht erblickt, das allerliebste Reisejournal nicht gelesen, die wahrhaft humoristisch plastische Schilderung des groben Postmeisters und seiner rachesüchtigen Ehegefährtin nicht vernommen, unsern verehrten Herrn und Meister durch eine ganz kurze Relation daraus nicht in die allerheiterste und theilnehmende Stimmung versetzt; es ist nicht ein Wort wahr, daß er zu mir gesagt: »Die närr'schen Kinder! wenn man sie hier um sich hat, sind sie taciturn und zurückhaltend und albern bescheiden mit ihren Talenten, und wenn sie weg sind, vernimmt man erst, was sie für allerliebste Federn führen. Das hat ja ordentlich Humor, Composition, naive Benutzung der Motive, Anfang und Ende; das hebt ja die Objecte klar, lebendig, anschaulich hervor,[14] in unserm Sinn und Stil, gerade wie wir selbst es gern machen möchten. Fort, fort damit! Der alte Merlin könnte fast eine Anwandlung von Sehnsucht bekommen und sich einbilden, die Line hielte noch etwas auf seinen alten Kopf, und das wäre doch sehr eingebildet.«[15]


743.*


1819, 16. Juni.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Ich eilte ... zu Goethe, wo unter andern auch Frau v. Stein und v. Schiller waren. Anfangs schien Goethe taciturn und marode. Aber bald gelang es mir Leben zu erwecken. Ich erzählte von Voigts Vorlesung über Ludwig von Thüringen. Bei Erwähnung einiger Späße über unser Münzcabinet, über des Liqueurfabrikanten Henschel Wunsch, nach seinem Tode bei seiner eigenen Auction zu sein, der Baulust Huschke's und der Gräfin Henkel machte Goethe die Bemerkung, es gäbe gemauerte1 Thorheiten, flüssige Thorheiten und unscheinbare Thorheiten; erstere fielen am meisten ins Auge.

Die Okeniade gab reichen Stoff. Wir scherzten über das, was die Studiosen am 18. Juni vornehmen könnten. Als Alle hinweg waren, scherzte Goethe noch lange darüber; das Schlimmste sei, wenn man sich zu Extremen zwingen lasse. Man müsse das Extrem[15] auch extrem behandeln, frei, grandios, imposant. Man hätte Oken das Gehalt lassen, aber ihn exiliren sollen.


1 Jedenfalls bezieht sich das auf die Baulust einiger weimarischen Persönlichkeiten und die nicht vortheilhaft sich auszeichnenden weimarischen Gebäude.[16]


744.*


1819, 18. (?) Juni.


Mit Friedrich von Stein

Der Freiherr v. Stein hatte im Sommer 1819 bei einem Besuche der Weimarischen Verwandten... den Rauch'schen Entwurf [zum Blücher-Denkmal für Breslau] für Goethe mitgenommen, und dieser hatte in einem Vortrage über die Skizze verschiedene Ausstellungen laut werden lassen, welche Stein dem Urheber derselben nicht vorenthalten mochte. Er .... zählt die wesentlichen Bemängelungen dahin auf: »Man sieht den Körper nicht genug durch die Bekleidung durch; der Waffenrock (die Litewka) ist nicht genug sichtbar; der Falten des Mantels ist eine zu große Menge und Last; er ist nicht genug als Militär bezeichnet und als Feldherr.« .... Daß Goethe sich übrigens Blücher ganz anders vorstelle, deutet Stein nur mit einer leisen Hinweisung auf den Schadow'schen Blücher in Rostock hin.[16]


1685.*


1819, 7. August.


Mit Friedrich von Müller

Spät noch bei Goethe, mit dessen Sohne ich über Okens Entlaßbarkeit stritt. Beunruhigende Gespräche über die Stimmung der Zeit. Die Maxime der persönlichen Einwirkung hält Goethe nicht mehr anwendbar, ebenso die Möglichkeit einer Wirksamkeit durch Intrigue schon vernichtet.[88]


745.*


1819, 9. August.


Mit Friedrich von Müller

und Julie von Egloffstein

Von 4 – 6 Uhr war ich mit Julie v. Egloffstein bei Goethe. Er zeigte mir das Portefeuille der Harzzeichnungen[16] von Kraus. Julie erhielt Wiener Kreide von ihm zum Geschenk. Goethe entschuldigte sich, daß er mir das Münster'sche Pereat nicht erzählt habe: seine Maxime sei nicht zu hetzen, wo es doch zu nichts helfe. Vergebens erwartete ich seine Aufforderung Abends zu bleiben.[17]


1686.*


1819, 9. August.


Mit Julie und Caroline von Egloffstein

Am 9. August 1819 verlebten wir den Abend bei Goethe. Dieser hohe Freund hatte Julien Kreide zum Zeichnen geschenkt. Diese Gabe brachte das Gespräch auf die Zeichnung des Posthalters von Langensalza. Bei der Erzählung, wie wir in seine Schwächen eingegangen und dadurch seiner bis zur Verrücktheit gesteigerten Eitelkeit noch geschmeichelt hätten, bemerkte Goethe auf eine sein persiflirende Weise, daß darin die eigentliche Lebensklugheit bestehe und er ihr solches Benehmen gegen jedermann anrathe. Auf Juliens Frage, warum man nur gegen Carricaturen sich diese augenblickliche Verläugnung seiner Ansichten gestatte,[88] erwiederte er mit sichtbarer Freude über ihre Bemerkung, daß diese Gattung von Menschen, indem sie aus ihrer Natur heraustrete, auch alle Verpflichtungen, so wir gegen uns und andere üben, auflösen, und man daher diese Personen als halbe Wahnwitzige dulde, statt sie zu widerlegen in ihre Ideen eingehe. Julie citirte eine Person aus ihrer Bekanntschaft, wo man täglich diese Regel übe. Jedes glaubte, sie errathen zu haben, als der alte Herr mit Feinheit einfiel, daß man nur im Staatskalender suchen dürfe, um so einen Gegenstand zu finden. »Erhaltet Eure Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe so viel wie möglich,« fuhr er fort, »aber verfallt nicht in den Fehler der jetzigen Zeit, nämlich: durch allzugroße Aufrichtigkeit grob zu werden.« Hierauf erzählte er uns eine niedliche Anekdote von einer alten würdigen Castellanin zu Nürnberg, welche in einer Gesellschaft von jungen Leuten, die sich mit ungeziemender Heftigkeit und Unart über die Schmeichler und Heuchler äußerten, plötzlich hinter ihrem Kaffeetisch mit zusammengeschlagenen Händen in vollem Unmuth ausrief: Ach, wie lieb' ich die Schmeichler und Heuchler![89]


1530.*


1819, Ende August.


Mit Joseph Green Cogswell

At the end of August Cogswell went for the last time to Weimar to bid farewell to the friend whom he had come to venerate as a father. In order to avoid the public celebration of his seventieth birthday Goethe had gone to Jena, and here he received the young American. He was visibly affected by his visit; he embraced and kissed Cogswell with tears in his eyes, and said: »And will you remember me when you are surrounded by your friends at home? and may I believe that there is a heart[351] in the new world which cares for me?« Cogswell had not expected such a warm feeling on Goethe's part, and was deeply moved. »It almost broke my heart«, he writes, »to say adieu to him.«[352]


1687.*


1819, 3. October.


Mit Friedlieb Ferdinand Runge

Ich hatte die Genugthung, daß Doebereiner mir seinen ganzen Beifall zollte und mir beim Abschied[89] dankte für »die höchst belehrenden Versuche« [über die Wirkung von Giften auf's Katzenauge]. ›Sie sind von der höchsten Wichtigkeit,‹ sagte er, ›und noch heute Abend werde ich Goethe davon erzählen‹ ..... Schon am andern Tage nachmittags stand Doebereiner unter meinem Fenster und rief zu mir hinauf: ›Ich habe nicht lange Zeit, aber ich komme in einer für Sie wichtigen Angelegenheit. Ich war bei Goethe, sprach ihn gestern und sprach ihn jetzt. Er will Sie durchaus kennen lernen und Ihre Versuche selbst sehen. Gehen Sie hin; morgen Nachmittag erwartet er Sie. Versäumen Sie es ja nicht; eine solche Gelegenheit kommt alle hundert Jahre nur einmal vor.‹

Ich kann nicht läugnen, daß nach diesen Worten ein ganz eignes Beben mein junges Wesen durchrieselte. Ich kannte bis dahin von Goethe's Leistungen nur weniges, aber seinen »Faust« wußte ich auswendig, und dieses war übergenug, den unschätzbaren Werth des Wunsches dieses Mannes zu würdigen, der sich herabließ, einem unbedeutenden Studenten mit seiner Katze unterm Arm Audienz zu geben. Und so war es denn auch buchstäblich. Als ich nachmittags im entliehenen schwarzen Frack (damals eine Seltenheit in Jena) mit einem, auf gleiche Weise angeschafften Philisterhut und meiner Katze unterm Arm über den Marktplatz schritt, wurde ein allgemeiner Aufstand. Die Burschen, die gruppenweise herumstanden, kehrten auf den Ruf »Dr. Gift!« sich plötzlich gegen mich und vertraten mir in[90] meinem höchst abenteuerlichen Aufzuge den Weg. »Laßt mich zufrieden!« sagte ich mit einem Ernste, wie er mir in späteren Jahren nie wieder gelungen ist zu zeigen, »ich habe einen wichtigen Gang, ich gehe zu Goethe.« Man ließ mich gehen, ohne auch nur einen schlechten Witz mir nachzurufen. Ich verdankte dieß theils der allgemeinen Beliebtheit, der ich mich als lustiger Bursch erfreute, theils aber auch dem Spitznamen »Dr. Gift«, weil man wußte, daß ich immer in Giftpflanzen wühlte und eifrig bestrebt war, etwas Nützliches zu leisten. Ein eifriges Streben wird, wenn es auch lächerliche Seiten darbietet, selten verhöhnt. Der »Dr. Gift« war also eigentlich kein Spitzname, sondern ein Ehrentitel für mich. Zu meinem Glücke wußte ich gar nicht, daß Goethe Wirklicher Geheimer Staatsminister war und hatte auch, obgleich man mir gesagt hatte, ich müßte ihn »Excellenz« nennen, gar keinen Begriff von dem, was man Hofzwang oder Etiquette nennt. Ich trat also, nachdem ich mich dem Kammerdiener zu erkennen gegeben, mit größter Ungezwungenheit ins Empfangszimmer ein, in welchem bald darauf auch Goethe erschien.

Wie unser Willkommen gewesen, kann ich nicht sagen. Die schöne, hohe, mächtige Gestalt trat mir mit einem so überwältigenden Eindruck entgegen, daß ich ihm zitternd die Katze hinreichte, gleichsam als wollte ich mich damit vertheidigen. ›Ach so!‹ sagte er: ›das ist also der künftige Schrecken der Giftmischer? Zeigen[91] Sie doch!‹ Ich bog nun den Katzenkopf so, daß die Tageslichtbeleuchtung beide Augen gleichmäßig traf, und mit Erstaunen bemerkte Goethe den Unterschied an beiden Augen: neben der schmalen Spalte in dem einen Auge fiel das große, runde Sehloch in dem andern umsomehr auf, da vermöge einer etwas starken Gabe fast die ganze Regenbogenhaut sich zurückgezogen hatte und unsichtbar war. ›Womit haben Sie diese Wirkung hervorgebracht?‹ fragte Goethe. »Mit Bilsenkraut, Excellenz! Ich habe den unvermischten Saft des zerstampften Krautes ins Auge gebracht, darum ist die Wirkung so stark.« ›Doebereiner hat mir gesagt‹, bemerkte Goethe, ›daß die Arten der Gattung Belladonna und Datura auf ganz gleiche Weise wirken, wie die von Hyoscyamus, und daß Sie gefunden haben, der das Auge so sehr verändernde Stoff befinde sich in allen Theilen der Pflanze von der Wurzel bis zur Blüthe, Frucht und Samen. Wie verhält es sich mit anderen Pflanzen, besonders solchen, die eine verwandtschaftliche Gestalt haben?‹ – »Ein mir befreundeter Arzt, Dr. Karl Heise, hat, veranlaßt durch die auffallende Wirkung der genannten Pflanzen, eine sehr umfassende Arbeit unternommen und durchgeführt, und dadurch bewiesen, daß nur die Pflanzen der oben genannten Gattungen eine den Augenstern erweiternde Kraft besitzen. Alle andern Pflanzen, deren er unzählige in ihrer Einwirkung auf's Katzenauge versuchte zeigten sich völlig wirkungslos, ausgenommen einige,[92] die aber das Gegentheil bewirkten, nämlich eine Verengerung oder Verkleinerung des Sehlochs; z.B. Aconitum.« – ›Ei!‹ sagte Goethe, ›da könnte man ja auch auf diese Weise das ächte Gegenmittel gegen die schädlichen Wirkungen der Tollkirsche u.s.w. entdecken. Versuchen Sie dieß doch einmal, und lassen Sie von den beiden entgegengesetzt wirkenden Pflanzen nach einander oder gleichzeitig etwas auf's Katzenauge einwirken, und beobachten Sie den Erfolg. Die Sache hat ihre Schwierigkeiten, aber Sie werden sie schon überwinden. Nun sagen Sie mir aber, wie sind Sie auf diese eigenthümliche Art von organischer Chemie gekommen?‹

Die Frage hatte mir schon Doebereiner vorgelegt, aber ich war nicht dazu gekommen, sie ihm ausführlich zu beantworten. Es war mir daher angenehm, es hier bei Goethe zu thun, da ich voraussetzen konnte, sie würde seine regste Theilnahme und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ich begann nun meine Erzählung.

»Im Jahre 1810 wurde ich, ein Pfarrerssohn vom Lande bei Hamburg, nach Lübeck gesandt und in die Rathsapotheke in die Lehre gethan. Es war eine kriegerisch bewegte Zeit, und Napoleon bereitete seinen Einfall in Rußland vor. Alle irgend Wehrfähigen wurden unter die Fahnen gerufen, und bei der Widerwilligkeit, unter dem Wütherich zu dienen, wurde es immer schwerer, sich einen Stellvertreter zu erkaufen. Durch Empfehlung meines Oheims hatte ich Zutritt in einige vornehme Familien erhalten, und der Sohn von[93] einer derselben wurde bald mein Freund. Eines Abends kam er in größter Bestürzung in die Apotheke und klagte mir sein Leid, daß er übermorgen sich stellen und, da er ohne alle körperliche Fehler sei, wahrscheinlich Soldat werden müsse. ›Ich möchte mir die Hand verstümmeln, um nicht in diesen schändlichen Krieg zu ziehen,‹ seufzte er. Das ist nicht nöthig, bemerkte ich; vertrauen Sie mir, ich glaube imstande zu sein, sie auf ganz kurze Zeit so zu verstümmeln, daß man Sie ohne weiteres laufen läßt. ›Was wollen Sie denn mit mir vornehmen?‹ – Ich mache Sie blind auf vierundzwanzig Stunden. – ›Wie wollen Sie das anfangen?‹ – Hören Sie mich! Vor etwa acht Wochen hatte ich nach ärztlicher Vorschrift eine Arznei zu bereiten, wo eingekochter Bilsenkrautsaft in Wasser aufzulösen war. Es geschah dieß in einer Reibschale, und aus Unvorsichtigkeit spritzte mir ein Tropfen der Auflösung ins Auge. Ich empfand keinen Schmerz und bemerkte anfangs keine Veränderung, bis endlich ein Jucken und Flimmern im Auge mich zum Spiegel trieb. Wie groß war mein Erstaunen, als ich die eingetretene Veränderung meines Auges sah! Die Regenbogenhaut war fast gänzlich verschwunden, und das Auge sah genau so aus, wie das eines Menschen, der am schwarzen Staar leidet. Auch die Sehkraft war ungemein geschwächt, was ich erst bemerkte, als ich das gesunde Auge schloß. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß mich dieser mißliche Zustand[94] meines Auges nicht ängstlich machte. Er hielt mehrere Tage an. Endlich kam aber die Sehkraft wieder und mit ihr die naturgemäße Ausbreitung der Regenbogenhaut, sodaß nun beide Augensterne wieder gleiche Größe hatten und alles wieder in den vorigen Zustand zurückgekehrt war. Sehen Sie! eine solche Krankheit will ich Ihnen aus beiden Augen hervorbringen, und es müßte wunderbar zugehen, wenn Sie nicht schon nach oberflächlicher Besichtigung als unbrauchbar zum Dienst entlassen würden. – Nach einigen leicht beseitigten Einwürfen entschloß sich mein Freund zu dieser, damals gewiß sehr verzeihlichen Betrügerei und rettete dadurch sein Leben; denn von allen, die aus Lübeck mit nach Rußland geschleppt wurden, sind nur wenige wiedergekehrt. Seine zeitweilige Blindheit dauerte etwa sechsunddreißig Stunden, sie verging schmerzlos und hinterließ auch nicht die geringsten Folgen.

Nachdem Goethe mir seine größte Zufriedenheit sowol über die Erzählung des durch scheinbaren schwarzen Staar Geretteten, wie auch über das andere ausgesprochen, übergab er mir noch eine Schachtel mit Kaffeebohnen, die ein Grieche ihm als etwas ganz Vorzügliches gesandt. ›Auch diese können Sie zu Ihren Untersuchungen brauchen,‹ sagte Goethe. Er hatte recht; denn bald darauf entdeckte ich darin das, wegen seines großen Stickstoffgehaltes so berühmt gewordene Coffein.

Nun entließ er mich. Ohne recht zu wissen wie, war ich zur Thüre hinaus und die Treppe hinunter,[95] als Goethe mir noch nachrief: ›Sie vergessen Ihren Famulus!‹ und der Diener mir den kleinen Kater in den Arm legte, der während unserer Unterredung ruhig auf dem Sopha gesessen hatte.«[96]


746.*


1819, 14. October


Mit Friedrich von Müller u.a.

Fahrt mit Line und Ottilie nach Jena zu Goethe. Interessante Erzählung von Goethens Mutter. Abendgespräch mit Goethe von der Conception kolossaler Statuen.[17]


747.*


1819, 31. October.


Mit Friedrich von Müller

Bei Besprechung der politischen Ereignisse erinnerte Goethe: Die Mächte hätten in Kohlen geschlagen, die nun an Orte hingesprungen, wo man sie nicht haben wollte.[17]


748.*


1819, 21. September.


Mit Bernhard von Beskow

Deutschland ist und bleibt auf ewig das wahre Vaterland meines Geistes und meines Herzens ...[17] Schon vor einigen und zwanzig Jahren durchglühte mich diese Vorliebe so kräftig, daß Goethe mich einmal im Scherze »einen Allemand enragé« nannte und mir rieth nach England zu reisen, wo man mich mit dem Gruß empfangen würde: No German nonsense swells my British heart – (ein Vers aus einer eben damals erschienenen Satire: Pursuits of literature).[18]


1688.*


1819, 14. November.


Mit Charlotte von Schiller

Bei Geheimrath v. Goethe war ich, der sich sehr freut, daß Du exerciren mußt; da Du Dich ohnehin etwas vorbeugtest, und da Dein geliebter Vater militärisch erzogen war, so würdest Du diese Haltung noch gewinnen und ihm auch dadurch ähnlicher werden.[96]


1531.*


Um 1819 (?).


Mit einem Ungenannten,

vielleicht Friedrich August Wolf.1


a.

[Inhaltsangaben von Gesprächen:] Patriotismus – Sinn dafür – Individualität – doch so sehr deutsch.

Die Ehe – die drei Weiber im ›Meister‹, welche gar nicht dafür taugen.


b.

»Es war nie meine Art, gegen Institute zu eifern; das schien mir stets Überhebung, und es mag sein, daß ich zu früh höflich wurde. Kurz, es war nicht meine Art; ich habe deshalb immer nur ein entferntes Ende der Stange leise berührt.«


c.

»Sie fragen, ob ich mit ausgebildeter Absicht –? Ich desavouire mich nicht gerne ganz: mit ausgebildeter Absicht? Nein! Ohne sie? Nein! Ich habe nie mehr gewollt, als anregen; wenn der Schriftsteller mehr will,[352] so kommen die Sachen an die Regierungskanzlei, und er verliert nicht nur die Äpfel, sondern den Korb dazu.«


d.

»Die Romantik? Wer sich befähigt und berufen fühlt, der möge das Ungewöhnliche erfinden und ungewöhnlich färben; es wird manchen herausheben aus seinem gedrückten Zustande. Nur verbinde sich nicht die Prätension mit dieser Willkühr! Die freie Kunst darf nie an andere Prätensionen machen. Darin lag das Fehlerhafte der sogenannten Romantiker, besonders Tieck's, der für romantische Possen eine Anstellung bei der Nation haben möchte. Wir sind der Nation gegenüber alle Dilettanten, die kein Entréegeld verlangen dürfen. Dies Unromantische der Romantik hat sie sehr zurückgebracht.«


e.

»In Karlsbad hat einmal einer von mir gesagt: ich sei ein gesetzter Dichter; er wollte damit ausdrücken: ich bliebe beim Dichten doch nebenher ein bürgerlich vernünftiger Mann. Der eine hielt das für Lob, der andere für Tadel; ich kann nichts darüber sagen; denn es ist dies eben mein Ich, worüber andern das Urtheil zusteht. Wenn ich für mich nicht recht zu haben dächte, so wäre ich anders, wenigstens ein wenig anders; denn seine Ursprünglichkeit ändert jedermann sehr wenig.«


f.

[353] »Ob ich viel auf Änderung ausgegangen sei? Nein! nur auf Bildung. Jede Farbe kann zu einer gefälligen Darstellung gebildet werden; ich bin niemals roth gewesen, wie Lord Byron; mein Colorit von Hause aus war immer sanfterer Art, etwa ein artiges Blau. Ich hätte mich zerstört, wäre mir das Bestreben geworden, durchaus roth zu sein.«


g.

»Ob ich nicht zu weit gegangen sei mit der Art, mich zurückzuziehen, mit der abweisenden Lebensart, was man in einer Art auch Bildung nennen dürfe? Ob ich nicht eben dadurch manches verletzt, oder gar zerstört habe? Das kann wohl sein! Wo es soviel Unzureichendes giebt, wie in dieser Welt, wird nichts ohne Opfer erreicht: man hat nur die Wahl zwischen großen und kleinen. Ich that nur, wie ich konnte, und da ich immer sah, daß die geringsten Erfolge und die größten Nachtheile da entstanden, wo der Mensch sich selbst überbot und verlor, so drängte ich oft gewaltsam alles darauf hin, mich selbst vor dem tausendfachen Zudrange der Welt und deren Anmuthung zu retten. Da ich nun einmal zur ganzen Nation sprach, so hoffte ich dadurch im ganzen mehr zu retten, als wenn ich dem einzelnen stets zuwillen gewesen wäre. Jede Bildung ist ein Gefängniß, an dessen Eisengitter Vorübergehende Ärgerniß nehmen, an dessen Mauern[354] sie sich stoßen können; der Sichbildende, darin Eingesperrte, stößt sich selbst, aber das Resultat ist eine wirklich gewonnene Freiheit. Bei einem gewissenhaften Schriftsteller der Nation leiden die nächsten Umgebungen am meisten, sie leiden für den etwaigen Gewinn der Nation; man opfert auch hier das Kleinere für das Größere. Ich habe oft den Privatmann beneidet, daß er seinen Umgebungen alle Opfer, alle Hingebungen widmen kann, daß er seine Bildung stündlich zeigen darf; er sieht den Lohn nahe, er wird immer schnell bezahlt, wenn auch nur durch sich selbst. Ich habe die Größe mit Mühe erlernet, die Größe: in weiten National- oder Epochenkreisen das Genüge für meine Wirksamkeit zu suchen, oft in Symptomen zu erkennen, wo der nächste Freund mir die Zurechnung versagt, sie für Eitelkeit ausgegeben hatte.

Allerdings gehören meine Briefe in diesen Gedankenkreis. Wolf hat mir's vorgeworfen, Schiller, daß ich sie karg abspeiste. Wer sich in Briefen hingeben will, – der Glückliche! – der giebt die Sammlung auf, welche dem Nationalschriftsteller nöthig ist. Das Wort an den einzelnen mag erleichtern und schön sein, aber der Nachdruck, wenn es still in uns ausgetragen ist, wie das Kind der Mutter, die Peripherie desselben, die es am öffentlichen Orte gewinnen kann, geht verloren.«[355]


h.

»Sie werfen mir den Schluß des ›Meister‹ vor, nennen die Einhüllung in den geheimen Bund und das Dahingehörige wohlfeil und einen Mangel der Lösung im vollen Sonnenscheine. Lieber Freund! Erst haben Sie ein Hochwichtiges darin gefunden, daß eitel Mesalliancen zum Vorschein kommen und die mittlere Welt sich in die höhere eindränge, und nun vermissen Sie für ein solches Buch den vollen Sonnenschein! Ein solcher hätte erschreckend beleidigt; die Seele des Buchs aber ist eine höfliche Andeutung; mehr lag nicht in meinem Charakter und in meiner Fähigkeit, und das Zusammengehn dieser beiden macht allein eine wohlthätige Romanerscheinung. Überbietet mein eins oder das andere, so entsteht die Gewaltsamkeit, und der poetische Eindruck wird durch die Entrüstung zerstört, welche dadurch bei einer großen Classe von Lesern hervorgerufen wird. Darin versehen es diese begabten jungen Franzosen, und es überhebt sich ihrer deshalb sogar unser unschöpferischer Pendant. Wünschen darf man zu einem Buche, aber man muß nicht zum Wegwünschen genöthigt sein, aus welchem Wort das Verwünschen entstanden ist. Der Roman soll erscheinen, wie die Landschaft erscheint, ohne Leidenschaft; auch in jener verbergen sich dunkle Partien. Daß man für jenen geheimnißvollen Bund etwas Leichteres, Gefälligeres, oder, wie Sie sich ausdrückten, Natürlicheres[356] habe erfinden können, glaube ich wohl; es lag eben nichts solches in meiner schaffenden Kraft zur Hand; es bot sich mir jenes, und dem Schöpfer einer so breiten Welt muß man zutrauen, daß er, alle Rücksichten erwägend, passender wählt, als der besuchende Leser. Freilich sieht der Leser oft glücklicher: er ist frei, betrachtet ein Bild unbefangen – aber, Freund! wenn man sich darauf einlassen will, so wird am Ende alle Neigung, aller Muth zum Hervorbringen verleidet. Haben wir eine eigene Welt gemacht, so muß es uns doch auch fürs erste zustehn, die Gesetze darin zu machen; wer soviel anderes über ein Buch weiß, der sollte sich nicht über dem Buch ausgeben, sondern selbst ein anderes schreiben. Die eigensinnig fordernde Kritik hab' ich mir stets vom Leibe gehalten; wer mich nicht mag, dem kann ich nichts geben, mit dem ist es bald ein klares Verhältniß. Wer mich aber durchaus anders will, als ich bin, der versucht es, mich unter freundlichen Worten zu erwürgen; der ist mein schlimmster Feind, weil er spricht, als ob er mein Freund wäre. Und diese weichliche Freundesfeindschaft quält manchen armen Autor bei uns zu Tode. Ein ähnliches Verhältniß ward es zwischen mir und den Herren V. Schlegel sammt deren Kreuzfahrerheere: sie spannen mich ein mit Lob und Litanei, die mir nicht zukamen, und mit freundlicher Bußauflegung, die mir ebenfalls nicht zukam; sie wollten mich mir selbst entwenden. Ich wäre in dieser lobesamen Kritik erstickt, hätte ich[357] nicht plötzlich beide Arme gebraucht. – Endlich aber, um das Thema zu erledigen, war damals die Zeit der geheimen Bündnisse: alles war darauf gestellt; so gerieth es einem denn auch wohl in den Roman als etwas, was ganz in Herkommen und Ordnung sei.«


1 Der ganze Absatz von g. steht nicht entgegen[358]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 8, S. 352-359.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon