1697.*
1821, 15. Januar.
Abends nach acht Uhr zu ihm gegangen und bis nach zehn Uhr geblieben.
[100] Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Riemer's Dienstverhältniß neben Vulpius, des ersteren Zulage und Competenzen. Ein Bibliothekar, der keine Geheimnisse, kein verschlossenes Zimmer habe, sei kein rechter. Riemer sei nicht ganz geeignet zum currenten Bibliotheksdienst; man könne Vulpius nicht verargen, wenn er sich nicht ins Handwerk greifen lasse. Er habe aber leider kein Maß und keine Gränze in seinem Thun und Wollen; er sei ein Faß, dem die Reifen fehlen.1
Ich erwähnte Schubarth's schöner Äußerungen über das ideale Maß jeder menschlichen Anlage gelegentlich seines Aufsatzes über »Faust«.2 Goethe nahm Gelegenheit, mir dessen letzten Brief zu zeigen: »wie ungern ich auch« – setzte er hinzu – »Briefe vorzeige.« .....
Von Schubarth's Bruder sagte Goethe: er sei ein auf Landwirthschaft gerichteter, gar liebenswürdiger, heiterer, verständiger Mensch, viel realer, sinnlicher, fester als der Schriftsteller. Er hätte ihn gern hierher empfohlen, wenn er anders noch den geringsten Glauben an das Gelingen solcher Unternehmungen hätte. Als wir auf einige in Untersuchung begriffene Beamte von ganz untergeordneter Bedeutung zu reden kamen, äußerte Goethe: »Überall überspannte Ansprüche auf Lebensgenuß,[101] überall die dunkle Meinung, es sei alles zu wagen, es werde alles durchgehen..«
Über Schubarth und Riemer äußerte er noch: beide seien gleich wenig zu directen Lehrämtern, wohl aber zu Akademikern im französischen Sinne gemacht: zur Belehrung der ganzen Welt durch scharfsinnige Schriften, nicht aber durch consequente, folgerechte Belehrung einzelner.
Eben kamen eine Menge Briefe an ihn von der Post an. Er theilte mir die neue Berliner Monatsschrift mit, worin ein fingirter, von Madame Laura Förster – die Goethe als sehr schön schildert – abgefaßter Bericht an Goethe über die Berliner Kunstausstellung befindlich.3 Dann zeigte er mir sein Tagebuch, in Folio zu halbem Rand geschrieben, wo am Rande jeder abgegangene Brief genau bemerkt ist. Auf gleich großem Bogen bemerkt er täglich am Morgen die »Agenda« nur mit Einem Wort für jedes Vorhaben, und durchstreicht es jedesmal nach geschehener Erledigung. Selbst die Zeitungen, die er liest, werden actenmäßig geheftet. Bei den Bibliotheken hier und in Jena muß ihm jeder Angestellte ein sauber geschriebenes Tagebuch halten, worin Witterung, Besuche, Eingänge und Vorgänge aller Art, sowie das jeden Tag Gearbeitete aufgezeichnet werden müssen. »So« – sprach er – »wird den Leuten erst lieb, was sie treiben,[102] wenn sie es stets mit einer gewissen Wichtigkeit anzusehen gewohnt werden, stets in gespannter Aufmerksamkeit auch auf das Kleinste bleiben.«
1 Dieser zweite Absatz ist von Burkhardt aus v. Müller's Tagebuch nur auszugsweise wiedergegeben.
2 In »Zur Beurtheilung Goethe's u.s.w.« I, 13-25.
761.*
1821, 22. Januar.
Als ich eintrat, heftete Goethe eben Correcturbögen zusammen. Doch nicht von Meisters Wanderjahren? sagte ich, aufgeregt durch einen Artikel der Frankfurter Zeitung. »Und warum nicht?« erwiderte Goethe, und so kam ich bald darüber zur Gewißheit, ohne meine Zweifel zu verrathen. Dieß gab zu näherem Gespräch über Wilhelm Meister Anfaß, den Goethe jetzt nach langen, langen Jahren erst mit Übersprung des ersten Theils wieder gelesen. Schon vor seiner italienischen Reise sei er größtentheils fertig gewesen. Es mache ihm Freude und Beruhigung zu finden, daß der ganze Roman durchaus symbolisch sei, daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege. Lange sei das Buch mißverstanden worden, sogar anstößig gewesen. »Die guten Deutschen,« äußerte er, »brauchen immer gehörige Zeit, bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflectirt hätten. Erst in ihren Unglückstagen zu Memel hat die mir früher nicht sonderlich wohlwollende Königin Louise von Preußen den W. Meister liebgewonnen und immer wieder gelesen. Sie mochte wohl finden, daß er tief genug in der Brust und gerade da anklopfte, wo der wahre menschliche Schmerz und die wahre Lust,[76] wo eigentliches Leid und Freude wohnen. Noch ohnlängst hat mir die Herzogin von Cumberland versichert, daß die Königin durch die Thränen, die sie über jene Stelle in Mignon's Lied:
Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt Euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
vergoß, sich ungemein erleichtert gefunden habe. Bei jetziger Wiederlesung meines Romans hätte ich fast zu mir selbst – wie einst zu Ariosto der Cardinal von Este – sagen mögen: Meister Ludwig, wo Henker, habt Ihr all' das tolle Zeug hergenommen? Der ›Meister‹ belegt, in welcher entsetzlichen Einsamkeit er verfaßt worden, bei meinem stets auf's allgemeinste gerichteten Streben. Wilhelm ist freilich ein armer Hund, aber nur an solchen lassen sich das Wechselspiel des Lebens und die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht deutlich zeigen, nicht an schon abgeschlossenen festen Charakteren.«
Goethe war sehr unzufrieden, daß ich nicht Tags vorher an Riedels1 Grab gesprochen; ich hätte alles Bedenken beseitigen, noch im letzten Augenblicke mich zum Improvisiren entschließen, den Mantel wie eine Verhüllung abwerfen und frei und ergreisend vortreten und sprechen müssen; da würden leicht unvertilgbare[77] Eindrücke hervorzurufen gewesen sein. »Doch« sagte er, »man muß auch regrets im Leben haben.«
Von den vielfältigen auswärtigen Mittheitungen, die er täglich erhalte, äußerte er: »Ja, es leben gar viele seine, tüchtige und Treffliches erstrebende Menschen in Deutschland umher, die so manches, was ich früher nur angedeutet, verarbeitet und weiter gefördert haben, wenn gleich in ihrem, wenn gleich oft in ganz anderem Sinn. Man erkennt dann oft den eignen Samen kaum wieder, aber was gut daran war, wuchert fort und bricht sich Bahn durch alle Hemmungen.«
1 Geh. Kammer-Rath in Weimar: Cornel. Joh. Rudolf.[78]
1698.*
1821, 22. Januar.
[Ergänzung zu Nr. 761, zum Tod Riedels:]
In Bezug auf die vorhabende Trauerrede in der Loge meinte er: man müsse sich mehr historisch als pathetisch halten, nekrologartig.[103]
762.*
1821, 9. Februar.
Nachdem im Stadthaus diesen Abend ein Tausendkünstler seinen Hocuspocus uns mit bewundernswürdiger Zierlichkeit und Geschicklichkeit vorgemacht, besuchte ich Goethen und traf den alten Meyer bei ihm an. Die Erzählung des eben Gesehenen machte ihm Freude.
»Um das Unmögliche bis auf einen gewissen Grab möglich zu machen,« sagte er, »muß sich der Mensch nur keck mit rastlosem Streben an das scheinbar Unmögliche machen. Sah ich doch voriges Jahr in Dornburg einen Indianer sich einen Ellen langen Degen in den Schlund hinein stecken, wozu mehrjähriges tägliches Fortprobiren ihn geführt hatte.«
[78] Er zeigte mir einen herrlichen Kupferstich von Martin Lunghi, eben aus Mailand gekommen, die Hochzeit der Maria von Rafael vorstellend. Das Bild hängt in der Brera zu Maitand, in Öl gemalt und ist aus Rafaels mittlerer Periode, schon in Verwandtschaft mit der Schule zu Athen. Darauf ward von den Tableaux aus Faust erzählt, die eine hiesige Gesellschaft unter Lieber's, Holdermann's und Schwerdgeburth's Direction dermalen von Zeit zu Zeit im Alexanderhof1 darstelle.
Das Gespräch lenkte sich auf des preußischen Justizministers Kircheisen Jubelfest und auf die zu Ehren desselben geschlagene Medaille. Goethe erzählte, wie er Kircheisen vor mehr als 20 Jahren einst in Karlsbad als liebenswürdigen Gesellschafter kennen gelernt, und wie er ihm so klar als tüchtig, so wohlwollend als heiter, fast sanguinisch erschienen sei. »Eine schöne, muntere Polin,« setzte er hinzu, »zog mich damals gewaltig an, so daß meine Freunde, und darunter auch Kircheisen, um meiner froh zu werden, sich genöthigt sahen, sie auch in ihre Kreise zu ziehen. Bei ihrer Ankunft mit mehreren Landsmänninen blieb sie von der Menge ganz unbemerkt, fast wie ein Aschenbrödel; ich entdeckte sie und ihren vorzüglichen Werth gar bald, und suchte sie wie eine Kastanie aus der Asche hervor. Wir wurden uns lieber und lieber; es war ein allerliebster[79] sarmatischer Hanswurst, voll Verstand, Laune, Frohsinn. Als aber eine gewisse polnische Fürstin anlangte, sagte sie mir plötzlich: Nun muß ich mich der Verhältnisse wegen ganz zu dieser halten, und wir werden uns wohl nicht mehr allein sehen und sprechen dürfen. Das soll ganz von Ihnen abhängen, erwiederte ich. Darauf ist sie mir denn auch in der That nur noch in größern Cirkeln und zwar gegen ihre bisherige Art, immer höchst prächtig geschmückt, sichtbar worden, und wir haben nie mehr Worte gewechselt.«
Ich ging gegen 10 Uhr mit Meyer weg, obgleich Goethe mich durchaus halten wollte und dringend ein »Minimum von Jenaischem Zwieback« zu genießen anbot. Aber ich war müde und von katarrhalischem Zustand geplagt, dem die gewaltige Hitze in Goethes kleinem Zimmer schlecht zusagte.
»So werde ich mich denn einsam mit der Mitternacht befreunden müssen,« sagte er zum Abschied, und es that mir in der That weh, ihn zu verlassen.
763.*
1821, 20. Februar.
Abends nach 8 Uhr traf ich Coudray bei Goethe. Das Gespräch kam von dem für morgen angekündeten Trauerspiel »Cäsars Tod« auf die Erfurter[80] Periode im Jahre 1808, die Goethe sehr lebhaft Schildern half.
Nach Coudray's Weggang sprachen wir von Knebel's Lucrez, und Goethe erzählte, wie er, um ihn von der vorgehabten polemisirenden Vorrede abzubringen, brieflich die unverfänglichen Gesichtspunkte aufgestellt habe, um Knebeln dabei fest zu halten und ihn productiv und positiv zu machen, wie jedoch jener gleich in der ersten Antwort abgesprungen und sich keineswegs mit Heiterkeit der Aufforderung gefügt habe, daher am Gelingen derselben fast zu zweifeln sei.
Auf die religiösen Ansichten des Lucrez dürfe man sich nämlich gar nicht einlassen; seine Natur-Anschauung dagegen sei grandios, geistreich, erhaben; diese sei zu preisen –; wie er hingegen über die letzten Gründe der Dinge gedacht, gleichgültig. Es habe schon damals eine gewaltige Furcht vor dem Zustande nach dem Tode in den Köpfen der Menschen gespukt, ähnlich dem Fegfeuer-Glauben bigotter Katholiken; Lucrez sei dadurch ergrimmt, in das Extrem verfallen, von dieser Furcht durch seine Vernichtungslehre mit einem Male heilen zu wollen. Man spüre durch das ganze Lehrgedicht einen finstern, ingrimmischen Geist wandeln, der sich durchaus über die Erbärmlichkeit seiner Zeitgenossen erheben wolle. So sei es immer gewesen, auch bei Spinoza und andern Ketzern. Wären die Menschen en masse nicht so erbärmlich, so hätten die Philosophen nicht nöthig, im Gegensatz so absurd zu sein! Lucrez[81] komme ihm in seinen abstrusen Lehrsätzen immer wie Friedrich II. vor, als dieser in der Schlacht von Collin seinen Grenadieren, die eine Batterie zu attaquiren zauderten, zurief: Ihr Hunde, wollt Ihr denn ewig leben?
Ich pries den Zufall, der ihn zum Briefwechsel über diese Vorrede verleitet habe. Da antwortete er: »was thut man denn Bedeutendes, ohne durch einzelnen Anlaß aufgeregt zu sein? Die Gelegenheiten sind die wahren Musen, sie rütteln uns auf aus Träumereien und man muß es ihnen durchaus danken. Knebel hatte leider keine Collectionen über Lucrez, keine Acten, darum werde es ihm schwer, jetzt productiv und positiv zu sein. Da habe ich ganz anders gesammelt, Stöße von Excerpten und Notizen über jeden Lieblingsgegenstand.«[82]
764.*
1821, 18. Mai.
Abends von 7-9 Uhr. – Ich traf Riemern bei Goethe an, im vordern Gemach Kupferstich-Mappen aufgeschlagen.
Die neue weimarische Pinakothek gab zuerst Unterhaltungsstoff. Der Maler Caspar von Crayer, gemalt von van Dyck, wie er die Laute mit höchster Anmuth, und doch mit Würde und Ernst im Blicke spielt, ist[82] eins der schönsten Steinbilder.1 Wir kamen auf des Raths Kraus Harzgegenden. »Er that alles mit Liebe, was er that,« sagte Goethe, »war anschmiegsam, feinsinnig wie keiner. Damals bei jenem Streifzug in die Harzgebirge holte ich einst, auf von Trebra's Schultern gestiegen, ein merkwürdig Mineral mit vieler Gefahr von seiner Bildungsstätte, vom Felsen, herab; ›wir müssen erst noch berühmt werden, ehe wir den Hals brechen, darum hat es jetzt keine Gefahr,‹ sagte ich scherzend zu Trebra. Ich besitze noch eine kleine polirte Marmorplatte aus jenen Gegenden mit der von Trebra aufgesetzten Inschrift jener Worte. Ja, wenn man in der Jugend nicht tolle Streiche machte, und mitunter einen Buckel voll Schläge mit wegnähme, was wollte man denn im Alter für Betrachtungsstoff haben?«
Die Sammlung von Caricaturen auf Napoleon zu sehen, lehnte er ab, »ich darf mir dergleichen, mir widrige Eindrücke, nicht erlauben, denn in meinem Alter stellt sich das Gemüth, wenn es angegriffen wird, nicht so schnell wieder her, wie bei Euch Jüngern. Ich muß daher mich nur mit ruhigen, gründlichen Eindrücken umgeben.«
[83] Darauf kamen wir auf seinen Berliner Prolog, den er mir jedoch wegen Mangels an reinlicher Abschrift nicht zeigen wollte, und auf die Unart eines Prager Naturforschers Purkinje, der Goethes Farbenlehre predigt, ohne ihn nur zu citiren, so daß Goethe sich jetzt in der Morphologie den Spaß macht, sich selbst bei Kritik jenes Werks zu allegiren. »Man muß gar nicht leben, sich nicht mittheilen wollen, wenn man sich solche Plagiate nicht ruhig gefallen lassen will. Der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn war Bertuch, der sogar den armen Batsch, als dieser ein neues System der Naturgeschichte schrieb, zwang sich gefallen zu lassen, daß Bertuch ankündigte: da er selbst nicht Zeit habe, werde Batsch seine (Bertuch's) Ideen dem Publicum vorlegen. Dafür aber hat die Nemesis ihn auch gestraft, daß jenes Unternehmen, wegen Mangels aller Methode mißlungen, und ihm ein baarer Schade von mehreren tausend Thalern geworden ist.«
1 Steinbilder, weil H. Müller dieses u. a. Stücke der weimarischen Sammlung litographirte; das van Dyck'sche Original ist eine Ölskizze auf Papier; s. Katalog des Gr. Museums, Weimar 1869 S 54.[84]
1699.*
1821, Mai.
Jüngst kam... die Kaiserin Alexandra Feodorowna in Gegenwart des Kaisers auf die Thatsache zu reden, daß das russische Volk seine großen Dichter so wenig kenne und schätze. Das sei erstaunlich; in Deutschland verfahre man ganz anders, da lerne man seinen Schiller und Goethe auswendig. Der Kaiser hatte diesen Bemerkungen zugehört und knüpfte daran eine Mittheilung über seine Begegnung mit Goethe, die in Weimar stattfand, im Salon der Großfürstin Maria Pawlowna,[103] jener bekannten Gönnerin der Künste und Wissenschaften. Die äußere Erscheinung des alten Olympiers muß Nikolaus außerordentlich imponiert haben; denn der Kaiser bemerkte darüber: ›Ein prächtiger Kopf, der Kopf eines Jupiter Stator.‹ Weiter meinte der Kaiser: ›Er hat durch seine göttliche Ruhe und durch sein ernstes, gehaltenes Wesen einen ganz gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. Er erweckte Achtung durch diese Ruhe und durch seine schlichte Haltung. Als ich ihn sah, war ich noch sehr jung, mochte mich noch nicht in ein Gespräch mit ihm ein lassen und hörte der Unterhaltung der Älteren zu. Nie vernahm ich von ihm eine inhaltslose Äußerung; über alles wußte er mit der Ursprünglichkeit eines Genies, eines Menschen voller eigener, nicht erborgter Ideen zu reden. Goethe fragte mich, was ich über »Werther's Leiden« und über Werther selber dächte. Diese Frage, ich gestehe es, kam mir nun ein wenig unerwartet. Ich, ein junger Mann, wie hätte ich einem Goethe mein Urtheil über sein Werk mittheilen sollen! Er bestand aber auf seiner Frage und so meinte ich denn: ich hielte den Werther für einen schwächlichen Charakter, der sich einbilde, stark zu sein. Charlotte wäre wol unglücklich mit ihm geworden, da sie eine Frau war, die zugleich achten und lieben wollte; diese Seelenstimmung erhebe sie in meinen Augen. – Meine Antwort befriedigte Goethe vollkommen. Im Fortgange der Unterhaltung drückte Goethe seine eigene Meinung über Werther aus und[104] bemerkte unter anderem, daß er nie die Absicht gehabt, den Selbstmord als interessant hinzustellen, daß er ihn vielmehr als ein sittliches Vergehen beurtheile.‹[105]
765.*
1821, 8. Juni.
Ich traf ihn gegen 6 Uhr Abends ganz allein und gerieth, als ich ihm des edlen, verstorbenen Senators Merkel in Nürnberg Lebensabriß von Roth in München mittheilte und einige Stellen daraus zur Empfehlung[84] vorlas, alsobald in argen und mißlichen Streit mit ihm.
Der Verfasser hatte nämlich, bei Erwähnung von Merkels heterodoxem Freunde Cnopf, geoffenbarte und natürliche Religion in schroffen Gegensatz gestellt, was Goethe zum allerhöchsten mißbilligte. »Hier sieht man den Schelm, der nicht ehrlich herausgeht mit der wahren Farbe,« rief er aus; »das sind die verdammten Rednerkünste, die Alles bemänteln, über Alles hingleiten wollen, ohne das Rechte und Wahre herauszusprechen. Was hat denn der christlichen Religion den Sieg über alle andern verschafft, wodurch ist sie die Herrin der Welt geworden und verdient es zu sein, als weil sie die Wahrheiten der natürlichen Religion in sich aufgenommen? Wo ist denn da der Gegensatz? Die Grenzen fließen ja in einander.«
Nun analysirte er Roth's ganze Phrase, ihre Halbheit und Unrichtigkeit bitter rügend, und ließ mich gewaltig bereuen, gerade diese Stelle hervorgehoben zu haben, was auch eigentlich gar nicht in meiner Absicht gelegen hatte, da ich nur eine andere weit treffendere nicht gleich finden konnte.
Das Gespräch ging auf Röhr und den Rationalismus über. Goethe tadelte heftig, daß das Publicum an den sentimentalen Faseleien eines Schulze, an der Nullität eines .... weit mehr Geschmack finde, als an Röhr's klarer Gediegenheit und aufgeklärter Consequenz. Das hänge aber mit der Sinnlichkeit, die jeder[85] geschmeichelt verlange, zusammen. Vernünftig sein und blos vernünftig handeln aber wolle niemand. Als ich beklagte, daß Röhr nicht eine kleine Dosis Phantasie mehr habe, und das Gemüth mehr anspreche, behauptete er heftig, dieses sei mit Röhr's streng abgeschlossener Individualität unvereinbar, und wenn man ihm nur einen Tropfen Phantasie, wie aus dem Wunderfläschchen des heiligen Remigius, womit Frankreichs Könige gesalbt würden, auf's Haupt träufeln könnte, so würde er eben ein ganz anderer Mann sein. Wie sich einmal der geistige Organismus des Menschen gebildet, darüber könne er nicht hinaus; die Natur schaffe nichts Ganzes in den Individuen, während der Charakter der Gattung freilich ein Ganzes sei, und man die verschiedenen menschlichen Eigenschaften eigentlich nicht zersplittert denken dürfe. Die Brünette könne nun einmal nicht zugleich blond sein, weil es sonst kein Individuum wäre. Alle Geistliche, die nicht wahre Rationalisten seien, betrügen sich selbst oder andere. Das Wort »Betrug« wollte ich nicht zugestehen; er gab es endlich preis, ohne jedoch den Sinn desselben auszugeben, und ich fühlte abermals, wie schwer es halte, mit ihm bei der Schärfe und vollendeten Klarheit aller seiner Begriffe und Redewendungen zu disputiren.
Er zeigte mir hierauf illuminirte Bilder von kölnischen gemalten Fenstern in der Kirche des heiligen Humbert, wir kamen aber bald wieder auf philosophische[86] Gegenstände, auf die schöne Zeit der Herzogin Mutter und auf sein Verhältniß zu Wieland und Herder zu sprechen.
Über die Ursachen seiner Spannung mit Herdern, den er drei Jahre lang in der letzten Zeit nicht sah, theilte er Vertraulichstes mit, unter feierlichstem Handschlag.
In Jena trafen sie sich dann einmal wieder. Goethe besuchte Herdern zuerst. Sie sprachen lange und doch – setzte er hinzu – getraue ich mir den Ausgang dieses Gesprächs nicht zu offenbaren. Herdern selbst muß man vieles wegen seiner steten Kränklichkeit zu gute halten; leider hatte er die Reizbarkeit und Bitterkeit im Urtheil, die ihm von Jugend auf angeklebt, in's Alter hinüber getragen. Aber Unarten, die in der Jugend so gar interessant und am Manne noch erträglich sind, werden ganz unleidlich, wenn man sie in's Alter hinüber nimmt. Je mehr man Herdern geliebt, je mehr habe man sich von ihm entfernt, entfernt halten müssen, um ihn nicht todt zu schlagen.
Wieland's Unarten sind ganz anderes und oft wahrhaft liebenswürdig gewesen. Einsiedel, den zuweilen auch ein grandioser Sinn angewandelt, habe einst, als ich mich über Wieland's unleidliche Willkür im Urtheil beklagte, ein trefflich Wort gesprochen. Wenn man Wieland selten sieht, sagte er, muß man sich über ihn ärgern, sieht man ihn täglich, so findet man erst Harmonie in seinem Wesen und erstaunt über den Umfang[87] dessen, was man von ihm Treffliches hört und lernt. Böttiger war eigentlich der böse Dämon unter jenen Männern, der alles Unheil anzettelte.
»Die Herzogin Mutter war es, die sich höchst gemäßigt bei allem diesen benommen, die entgegengesetzten Geister immer freundlich auseinander gehalten und mir nie den geringsten Stoff zu einer Klage gegeben hat. Sie war ein allerliebstes, vortreffliches, aber indefinibles Wesen. Inzwischen« – setzte er hinzu – »um das oft gebrauchte Gleichniß, daß wir zu nah aneinanderstehende Bäume gewesen, beizubehalten, – wenn jene Verstimmungen mich hinderten an Ausbreitung, so trieben sie mich desto mehr in die Höhe: ich blieb mir getreu und lebte auf meine Weise. Jeder von uns hätte eines eignen, abgeschlossenen Kreises für sich bedurft; in einer großen Stadt, z.B. in Berlin hätten wir ihn gefunden, während wir uns hier oft durchkreuzten. Und so war ich stets und werde es bleiben, so lange ich lebe und darüber hinaus hoffe ich auch noch auf die Sterne; ich habe mir so einige ausersehen, auf denen ich meine Späße noch fortzutreiben gedenke.«
Wir sprangen über auf die »Wahlverwandtschaften« und auf die »Wanderjahre.« »Ich begreife wohl,« sagte er, »daß den Lesern Vieles räthselhaft blieb, daß sie sich nach einem zweiten Theile sehnten; aber da ja Wilhelm so Vieles schon in den Lehrjahren gelernt, so muß er ja auf der Wanderschaft desto mehr Fremdes[88] an sich vorübergehen lassen; die Meisterjahre sind ohnehin noch schwieriger und das Schlimmste in der Trilogie. Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall steckt noch etwas anderes dahinter. Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.« Dann sprach er von Fräulein Caspers in Wien, die ihn durch Struve habe grüßen lassen, und daß sie eines jener lieblichen, aber neutralen adiaphoren weiblichen Wesen sei, die, mit geringer Sinnlichkeit ausgestattet, um so sicherer durch die Welt gehen, weil sie eben nicht mehr anreizen, als daß man gerne bei ihnen verweilt.[89]
766.*
1821, um Mitte Juli.
Da wir [Genast und Frau] einige Tage im Theater [zu Lauchstädt, wo die Leipziger Schauspieler Vorstellungen gaben] nicht beschäftigt waren, so benutzten wir die Gelegenheit, unserm lieben Vater in Weimar einen Besuch abzustatten, und Freund Koch, unser trefflicher Komiker, der ein großes Verlangen trug, Goethe kennen zu lernen, wozu ich ihm sichere Aussicht gemacht, schloß sich unserer Partie an ..... Den andern Tag ließ ich bei Goethe anfragen, ob ich ihm einen Leipziger Schauspieler vorstellen dürfte. Mein Gesuch wurde gewährt und ich nebst meinem Freunde nach Wunsch empfangen.
[89] Im Gespräche fragte Goethe, welchem Fach Koch sich gewidmet, und als dieser erwidert hatte, daß er hauptsächlich im Lustspiel und der Posse wirke, bemerkte Goethe: »Nun, das ist eine ganz schätzenswerthe Aufgabe, andern Menschen heitere Stunden zu bereiten!« Dann wandte er sich zu mir und fragte, was jetzt meine Beschäftigung im Schauspiel wäre. Ich sagte ihm, daß ich wohl noch hier und da ernstere Liebhaber spiele, der Hofrath Küstner mir aber zumeist Charakterrollen übertrüge, und so hätte ich denn vor kurzem den König Philipp in »Don Carlos« mit Erfolg gegeben, wozu ich ein treffliches Vorbild an dem Schauspieler Kühne von Hamburg gehabt, der in dieser Rolle ganz unvergleichlich sei und den ich darin sogar noch über Eßlair stelle. »Ich habe schon viel Gutes von diesem Manne gehört, und er soll ein ganz tüchtiger Charakteristiker sein, mit einem kräftig schönen Organ und entsprechender Persönlichkeit,« sagte Goethe. Dann fragte er nach meiner Frau, ob sie mitgekommen sei, was ich bejahte, aber sogleich hinzufügte, daß sie sich nicht mit der nöthigen Toilette versehen, um Sr. Excellenz aufwarten zu können. »Ei was!« rief er; »sie ist mir in jedem Costüme willkommen.«
Abends kamen wir seinem Verlangen nach, und er begrüßte sie mit großer Herzlichkeit.[90]
767.*
1821, 21. Juli
Unter all diesen Betrachtungen war indeß 11 Uhr herangekommen, ja, vorübergegangen, und ich eilte nun, Goethes Wohnung aufzufinden. Gleich beim Eintritt in das mäßig große, im einfach antiken Stil gebaute Haus deuteten die breiten, sehr allmählich sich hebenden Treppen, sowie die Verzierung der Treppenruhe mit dem Hunde der Diana und dem jungen Faun von Belvedere die Neigungen des Besitzers an. Weiter oben fiel die Gruppe der Dioskuren angenehm in die Augen, und am Fußboden empfing den in den Vorsaal Eintretenden blau ausgelegt ein einladendes Salve. Der Vorsaal selbst war mit Kupferstichen und Büsten auf das Reichste verziert und öffnete sich gegen die Rückseite des Hauses durch eine zweite Büstenhalle auf den lustig umrankten Altan und auf die zum Garten hinabführende Treppe. In ein anderes Zimmer geführt, sah ich mich auf's Neue von Kunstwerken und Alterthümern umgeben: schön geschliffene Schalen von Chalcedon standen auf Marmortischen umher; über dem Sopha verdeckten halb und halb grüne Vorhänge eine große Nachbildung des unter dem Namen der Aldobrandinischen Hochzeit bekannten alten Wandgemäldes, und außerdem forderte die Wahl der unter Glas und Rahmen bewahrten Kunstwerke, meistens Gegenstände[91] alter Geschichte nachbildend, zu aufmerksamer Betrachtung auf.
Endlich kündigte ein rüstiger Schritt durch die anstoßenden Zimmer den werthen Mann selbst an. Einfach im blauen Zeugoberrock gekleidet, gestiefelt, in kurzem, etwas gepuderten Haar, mit den bekannten von Rauch herrlich aufgefaßten Gesichtszügen, in gerader kräftiger Haltung schritt er auf mich zu und führte mich zum Sopha. Die zweiundsiebzig Jahre haben auf Goethe wenig Eindruck gemacht; der arcus senilis in der Hornhaut beider Augen beginnt zwar, sich zu bilden, aber ohne dem Feuer des Auges zu schaden. Überhaupt ist das Auge an ihm vorzüglich sprechend, und mir erschien darin zumeist die ganze Weichheit des Dichtergemüths, welche sein übriger ablehnender Anstand nur mit Mühe zurückzuhalten und gegen das Einbringen und Belästigen der Welt zu schützen scheint; doch auch das ganze Feuer des hochbegabten Sehers leuchtete in einzelnen Momenten des weitern mehr erwärmten Gesprächs mit fast dämonischer Gewalt aus den schnell aufgeschlagenen Augen.
So saß ich denn nun ihm gegenüber! Die Erscheinung eines Menschen, welchem ich selbst einen so großen Einfluß auf meine Entwickelung zugestehen mußte, war mir plötzlich nahe gerückt, und ich war umsomehr bemüht, diese merkwürdige Gegenwart genau zu beachten und zu erfassen. Die gewöhnlichen einleitenden Gespräche waren bald beseitigt: ich erzählte[92] von meinen neuen Arbeiten über die Ur-Theile des Knochengerüstes und konnte ihm die Bestätigung seiner frühern Vermuthung über das Dasein von sechs Kopfwirbeln mittheilen. Zur schnellern Darlegung des Ganzen ersuchte ich um Bleistift und Papier; wir gingen in ein zweites Zimmer, und wie ich nun den Typus des Fischkopfes in seiner Gesetzmäßigkeit schematisch entwickelte, unterbrach er mich oft durch beifällige Ausrufungen und freudiges Kopfnicken. »Ja, ja! Die Sache ist in guten Händen,« sagte er; »da haben uns der Spix und Bojanus so etwas hergedunkelt! Nun, nun! Ja, ja!«1
Der Diener brachte eine Collation. Es war mir ein rührendes Verhältniß, Goethe zu sehen, wie er mir den Wein eingoß und ein Brod mit mir theilte, selbst von der einen Hälfte genießend und mir die andere reichend. – Dabei sprach er von meinen beiden Bildern, die ich ihm vor einem Jahre durch Frommann gesendet hatte, erzählte, wie ihm das eine (das Haus auf der Brockenspitze) längere Zeit seiner Bedeutung nach räthselhaft geblieben, wie nur später erst eine dritte Person2 ihm den Aufschluß darüber gegeben, und wie diese Dinge überhaupt wohl in Ehren gehalten würden. Dann ließ er sein Portefeuille über vergleichende Anatomie[93] bringen und zeigte seine frühern Arbeiten. Späterhin kamen wir auf das Bedeutungsvolle in der Form der Felsen und Gebirge für Bestimmung der Art des Gesteins, ja, für die gesammte Bildung der Erdoberfläche; und auch in diesen Ideen war er völlig einheimisch, ja, er hatte dafür gesammelt, wie eine zweite wohlgefüllte Mappe mit Felsenzeichnungen vom Harz und andern Orten deutlich bewies.
Merkwürdig waren mir, als ich jetzt kurze Zeit im Zimmer allein blieb, die Anordnungen und Ausschmückungen desselben. Außer einem hohen Gestelle mit gewaltigen Mappen für Kupferstiche in ihrer geschichtlichen Folge, interessirte mich ein, mit Schubkästen behufs der Aufbewahrung einer Münzsammlung versehener Schrank. Der Aufsatz desselben trug nämlich unter Glas eine ansehnliche Menge antiker Götterbildchen, Larven, Faunen u.s.w., unter welchen ein ganz kleiner goldener Napoleon, in das glockenförmig verschlossene Ende einer Barometerröhre gestellt, sich sonderbar genug ausnahm. Auch sonst aber wollte noch manches beachtet sein. So beschäftigte mich ein alterthümliches wunderliches Schloß, welches mit seinem Schlüssel am Fenstergewände hing; so forderten auch hier manche Kupferstiche zur Betrachtung auf; ja, selbst die Einrichtung der Zimmerthür war bemerkenswerth, da sie nicht in Angeln sich bewegte, sondern aus dem Thürgewände hervor- und zurückgeschoben werden mußte.
[94] Zuletzt noch sprachen wir über entoptische Farben, und es brachte ihn dies darauf, karlsbader Glasbecher mit gelber durchsichtiger Malerei herbeibringen zu lassen, an denen er mich die fast wunderbar scheinenden Verwandlungen von Gelb in Blau und Roth in Grün – je nachdem die Beleuchtung auf eine oder die andere Weise geleitet wurde, wahrnehmen ließ.3 Äußerungen über die ungünstige Aufnahme so mancher seiner wissenschaftlichen Arbeiten konnte er hierbei doch nicht ganz unterdrücken. – Gegen 1 Uhr entfernte ich mich endlich, in aller Hinsicht erfreut und erwärmt.
Seit jenem Morgen des 21. Juli sind nun mehr als vier Decennien vorübergegangen, und immer noch steht mir die einfach schöne Gestalt des werthen Mannes, ganz in der Art, wie ich sie sah und wie der treffliche Rauch als Statuetten sie bald nachher ausgeführt hatte, vor der Seele. Ich hätte ihn damals länger sehen sollen! Er wollte mich zu Tisch behalten, ein paar Tage in seiner Nähe: welche vermehrte und liebe Erinnerungen[95] würde ich mir bereitet haben! Aber so ist die Jugend! Mit Hast treibt sie meist fernen Zielen zu und vieles Große, zu spät Erkannte geht ihr darüber verloren.
1 Mit diesen, auf eigenthümlich gutmüthige Weise betonten Worten pflegte er überhaupt alle Pausen des Gesprächs zu beleben.
2 Der Großherzog, wie Frommann mir sagte.
3 Ich hatte damals sehr den Wunsch, solchen Glasbecher zu erlangen, allein der verehrte Mann sagte mir, dergleichen wären jetzt nicht mehr zu haben, aber versprach mir einen Ersatz dafür. In Wahrheit sendete er mir später einen hübschen kleinen Apparat, in welchem sich über schwarz und weißem Felde schwachfarbige Glasplättchen hin und herschieben fassen und das Phänomen vortrefflich zeigen.[96]
1536.*
1821, Sommer (?).
Durch ein so unerwartetes Geschenk [des Gedichts »An Herrn Hofrath Förster in Berlin«] fühlten meine Frau und ich uns veranlaßt, unsern Dank im nächstfolgenden Jahre persönlich auszusprechen. Zelter hatte wieder für Gruß und Empfehlung bestens gesorgt und eine Rolle noch ungedruckter Compositionen Goethe'scher Lieder meiner Frau mitgegeben, um sie dem Dichter vorzusingen, was auch an verschiedenen Abenden zu seiner großen Zufriedenheit bei ihm und bei seiner Schwiegertochter... ausgeführt wurde.
Am liebenswürdigsten und heitergeselligsten war Goethe am Mittagstische, wo jedoch die Eingeladenen nie[367] die Zahl der Musen überschritten. Vor ihm stand eine Flasche alten Rheinweins, welche er ganz allein zu leeren pflegte; wir andern hatten uns aus den vor uns aufgestellten Flaschen nach Belieben zu versorgen. Auf den Küchenzettel, den er für gewöhnlich selbst angab, hatte die Anwesenheit von Gästen besonderen Einfluß; es gab außer der Suppe gewöhnlich drei, höchstens vier Schüsseln: Fleisch mit Gemüse, (er aß sehr gern ein nach italienischer Kochkunst bereitetes stuffato) dann gab es Fisch (Forellen liebte er zumeist), Braten (zumeist Geflügel oder Wild) und, wie er erklärte, wegen der Damen eine Mehlspeise (Karlsbader Strudel) .... Er selbst zog der süßen Speise ein Stück englischen oder schweizer Käse vor. Das Zerlegen des Bratens, selbst wenn es ein schwieriger Wildziemer war, besorgte er eigenhändig, legte auch wohl einer begünstigten Tischgenossin ein ausgesuchtes Stück oder die zierlichste der Forellen vor. Vorherrschend war an dem Mittagstische bei dem alten Herrn... der ausgezeichnet gute Humor und die scherzhaften Neckereien mit seiner Schwiegertochter, doch nahm die Unterhaltung zuweilen auch eine ernste Richtung. Von dem einen wie von dem andern sind Erinnerungen in den Tafeln meines Gedächtnisses aufgezeichnet.
Als einmal gegen das Ende der Mahlzeit der Wunsch ausgesprochen wurde, eine Spazierfahrt zu machen, brachten die einen Belvedere, die andern Tiefurt, noch andere Ettersburg und andere schön gelegene[368] Orte in Vorschlag. Den, nach so verschiedenen Himmelsrichtungen hinstrebenden Geistern rief Goethe mit erhobener Stimme in gebieterischer Haltung zu:
»Vertheilet Euch nach allen Regionen
Von diesem heil'gen Schmaus!«
und meinte, solches Gebot könne hier wohl Anwendung und Beachtung finden. Ottilie erklärte sich damit einverstanden und fügte hinzu: es sei ihr sehr lieb, doch endlich einmal über jenes geheimnißvolle Gedicht, über welches sie sich vergeblich den Kopf zerbrochen, von dem Dichter Aufschluß erhalten zu haben. »Also Du1 selbst, lieber Vater, bist der Allgebietende, welcher an die, ihm dienenden Geister diesen Zuruf ergehen läßt, und so werden wir denn heute auch erfahren, weshalb jenes Gedicht die Überschrift ›Weltseele‹ führt.« – »Das nehme ich an,« erwiederte Goethe, »daß ich den Ausruf ergehen lasse, und somit seid Ihr es, an die ich mich wende, und mögt Ihr Euch nun als Cherubim, Aeone oder weltschöpferische Urgeister bezeugen und nach vollbrachtem Werte, worauf wir doch wohl mehr als sechs Tage zubringen dürften, vom All in's All zurückzukehren; dann werdet Ihr wohl inne geworden sein, was unter der Weltseele gemeint ist.« Uns allen eine gesegnete Mahlzeit wünschend, zog sich Goethe mit einer verbindlichen Handbewegung und dem entschuldigenden Worte: »Am siebenten Tage ruhte er« – in sein[369] Zimmer zum Mittagsschläfchen zurück. – »Da sind wir nun« – bemerkte Frau v. Goethe, nachdem der Papa sich entfernt hatte – »so klug wie vorher! Schon einigemal habe ich es versucht, ihn zu veranlassen, über jenes wundersame Gedicht und dessen Überschrift uns Aufklärung zu geben, allein ich erhielt immer ausweichende Antworten.«
1 Ottilie duzte den Schwiegervater nicht.[370]
768.*
1821, 28. Juli.
Sobald Goethe [in Eger] angekommen, meldete es mir sein Bedienter Stadelmann und brachte eine Einladung zum Besuche. Beim Eintritte empfing mich Goethe auf eine Art, die sich nicht beschreiben läßt, es war etwas Herzliches und doch Imponirendes darin, zugleich Liebe und Ehrfurcht einflößend. Nachdem er mir zum Willkommen die Hand gereicht, sagte er: »Sehen Sie, Freundchen, ich habe mich über die böhmischen feststehenden Gebirge wieder herüber gemacht, ich reise zwar nach Marienbad, allein ich komme wieder nach Eger, um dann länger hier zu bleiben.«
Er wies mir einen Sitz neben sich auf dem Sopha an, und fragte mich dann, wie lange ich diene, ob während meiner Dienstzeit Vorfallenheiten von bedeutender Wichtigkeit sich zugetragen hätten, und dergleichen. Ich hatte mich für einen solchen Fall gefaßt gemacht und meine wichtigsten Zeugnisse mitgenommen, um beweisen zu können, daß er sein Zutrauen nicht einem Beamten von so ganz gewöhnlichem Schlage schenke.[96] Ich überreichte ihm daher diese Zeugnisse mit dem Bemerken, daß aus selben, wenn er die Güte haben wollte, sie zu durchblicken, nicht uninteressante Begebenheiten zu ersehen sein dürften.
Er nahm diese Zeugnisse mit den Worten an: »Ihr offenes, freundliches Benehmen und das, was ich von Ihnen Gutes eingeholt habe, hat mir ein besonderes Vertrauen eingeflößt. Sie sind in allem gut unterrichtet, worüber ich belehrt sein will. Ihre Zeugnisse, die Sie mir anvertrauen, bringe ich von Marienbad wieder mit.« – Er sah sie flüchtig durch und sagte dann: »Über den Inhalt derselben werden Sie mir bei meiner Rückkunft Auskunft zu geben nicht ermangeln, besonders über die Räubergeschichte.«
Als ich bei unserem ferneren Beisammensein bemerkte, daß ich mir seine Farbenlehre nicht eigen machen könnte, und so vieles in ihr schon darum nicht verstünde, weil die Experimente kostspielige Instrumente erfordern, sagte er:
»Da sind Sie nicht der Einzige; diese Lehre hat viele Widersacher gefunden. Die Instrumente haben mich über zweitausend Gulden gekostet. Ich lebte in der Beruhigung, daß vielleicht einmal nach funfzig Jahren jemand mein Buch in die Hände bekommen und sagen würde: hat sich der auch auf dieses Feld gewagt! Wenn er es studiren und in das Innere eindringen wollte, so würde er den durch ein Löchlein eines verschlossenen Fensters auf ein Glasprisma[97] fallenden Sonnenstrahl lächerlich und die Newton'sche Lehre ungrundhaltig finden. Indeß habe ich doch auch schon bei meinem Lebzeiten das Vergnügen, daß man in Berlin in meine Lehre eingeht, zu welchem Ende ich auch meine Instrumente dahin geschickt habe. Die Ursache der Entstehung werden Sie gelesen haben. Ich habe noch das Blättchen Papier, auf welches im Zelte bei Mainz es geregnet hat. Seit dieser Zeit habe ich mich ernstlich mit dieser Lehre beschäftigt. Unser Verstand ist noch so beschränkt, daß wir gewisse Gegenstände bloß a posteriori annehmen und darauf bauen müssen; so verhält es sich mit der Sonne, so auch mit unsern Augen: wir wissen es, daß wir sie haben, wir bemerken die Wirkungen, und kein Mensch wird ergründen können, wie diese hervorgebracht werden, und woraus die Sonne bestehe. Alle die Schreibereien darüber sind grundlose Hypothesen.«
Die Lehre, sagte ich hierauf, daß, wenn dunkle Gegenstände im Hintergrunde, sind, die Luft uns blau erscheint, war mir ganz neu; daher ist mir auch jetzt erst verständlich geworden, wenn Chateaubriand anführt, daß er die Luft im Oriente, wo Kreidengebirge im Hintergrunde sind, gelblich gefunden habe.
Goethe erwiederte: »Damit kann man sich manches Späßchen machen, weil sich viele das Phänomen nicht zu erklären wissen, was Sie gelegentlich selbst in Anwendung bringen können; denn wenn Sie einen weißen Gegenstand in tiefes Wasser legen, so wird das Wasser[98] eine gelbliche Farbe annehmen, während es sonst überall dunkel bleibt. Am besten dürfte es sich mit einer weißen glänzenden Blechplatte bewähren. Ich habe Gläser, wenn Sie selbe auf ein schwarzes Tuch legen, so stellen sie sich dem Auge vollkommen blau dar. Legen Sie selbe auf weißes Papier, so sind sie gelb. Solche Gläser sollen Sie von mir haben.«[99]
769.*
1821, 29. Juli.
Da zur Abfahrt nach Marienbad schon Alles vorbereitet war, so empfahl ich mich unter Glückwünschen, und Goethe reiste mit der Zusicherung ab, er werde bei der Rückkunft in Eger länger verweilen und meiner freundlich gedenken.[99]
770.*
1821, 25. August.
Auf dem Wege dahin [- nach Franzensbad -] trug ich ihm, wie ich schon vor der Abfahrt gethan, die Einladung nach Hartenberg von Seite des Appellationspräsidenten Herrn Grafen Joseph von Auersperg vor, und schilderte das Vergnügen, welches er durch die Annahme diesem ausgezeichneten Staatsdiener und Schriftsteller machen würde. Goethe erkundigte[99] sich näher über die Lage Hartenbergs, über die Familienverhältnisse, und darüber kamen wir in Franzensbrunn an. Er nahm die Quellen, den Park, Kursaal, kurz Alles in Augenschein, und lobte besonders die schönen Anlagen, die große Reinlichkeit, die überall vorherrsche, die seit seiner letzten Anwesenheit durchgeführten zweckmäßigen Verschönerungen, stellte Vergleichungen zwischen sonst und jetzt an, worauf wir nach Eger zurückfuhren. Ich machte Goethe auf das morgige Fest aufmerksam, zu welchem alle dem Eger'schen Patronat unterstehenden Pfarrer mit ihren Kirchenkindern, unter Vortragung ihrer Fahnen und mit Musik, von früh 7 Uhr an kommen.[100]
771.*
1821, 26. August.
Das St. Vincenzfest ist zugleich ein Ernte-Danksagungsfest. Der Einzug der Pfarrer mit ihren Kirchkindern von so verschiedenen Stadtthoren her, die Märsche, die auf Blasinstrumenten größtentheils von Egerländer Bauernburschen ausgeführt wurden, das Wogen so vieler tausend Menschen auf dem Ringe, unter denen Goethe, sie aufmerksam betrachtend, mit mir umherwandelte, unterhielt ihn sehr, und er sagte:
»Es ist ein stämmig robustes Volk von gesundem[100] Aussehen. So viel ich bemerke, haben die Egerländer weiße gesunde Zähne, dunkelbraune Haare, doch wenig Waden.«
Wir verfügten uns dann in die mit Menschen angefüllte Hauptkirche zu St. Niklas, aus welcher die Procession, der Dechant das in Gold gefaßte und mit Edelsteinen geschmückte Haupt des heiligen Vincenz aus einem rothsammtenen goldgestickten Kissen tragend, von allen Pfarrern im größten Ornate, von den bürgerlichen uniformirten Schützen, von den Zünften mit ihren Fahnen und vielem Volke begleitet, aus ging.
Nachdem alles vorüber, sagte Goethe zu mir: »Wenn Sie nichts Besseres zu thun haben, so wünschte ich, daß Sie mich Nachmittags nach Liebenstein begleiten,« – welche Einladung ich mit Vergnügen annahm. Die Herrschaft Liebenstein, dem Grafen Zedtwitz gehörig, ist ein Kronlehengut. Es befindet sich dort ein altes in geschichtlicher Beziehung merkwürdiges Ritterschloß. Goethe mochte diese Excursion gewählt haben, weil westlich, dem Kammerberg gegenüber, sich der hohe Plattenberg erhebt, um hier vielleicht einigen näheren Aufschluß über jenen zu erhalten.
Der Weg dahin war äußerst schlecht, große mit Wasser gefüllte Löcher, deren Tiefe man kaum berechnen konnte, hinderten die Fahrt. Ich war um seine Person sehr besorgt, rief immer dem Kutscher zu, behutsam zu fahren; allein Goethe sagte:
[101] »Sie sehen, daß der Mensch die Sache besser versteht wie wir. Wenn ihn Napoleon gekannt hätte, er würde ihn zu seinem Leibkutscher gemacht haben, Sie sehen, er fährt sehr behutsam mitten in die großen Löcher hinein, daher kann er nicht umwerfen.«
Da ich keine Ängstlichkeit an ihm bemerkte, so war ich um so aufgeheiterter. Plötzlich stieg Goethe aus dem Wagen, machte seine Betrachtungen über einen Stein, und ich hörte ihn sprechen: »Nun, wie kommst du daher?« welche Frage er wiederholte. Mir kam diese Frage, da ich von der Mineralogie nichts verstand, nahezu lächerlich vor; ich dachte, wie kann einen so gelehrten Mann, so ein Stein interessiren, den ich nicht mit dem Fuße stoße, und deren Tausende zu finden sein werden; allein Stadelmann mußte ihn mitnehmen, und nach der Hand erfuhr ich, daß dieser Stein ein Feldspath-Zwillingskrystall war. Ich nahm mir nun vor, Steine, welche von dem gewöhnlichen Äußern abweichen, bei meinen Geschäftsreisen gelegentlich aufzusuchen, und sie an Goethe zu senden, weil ich sah, daß er für diesen Zweig der Naturwissenschaft eine große Vorliebe habe. Er hatte sich auch eine breite lange Tafel von weichem Holze machen lassen, welche er in dem Zimmer Nr. 1 im Gasthofe zur goldenen Sonne in Eger aufstellte, und auf welche die aus Marienbad mitgebrachten wie auch die in der Umgegend gesammelten Mineralien gelegt wurden. Goethe machte über sie seine Betrachtungen, ordnete die Gesteine[102] und stellte Suiten zusammen, die er zur Versendung bestimmte.
Die Zeit der morgigen Abfahrt nach Hartenstein wurde bestimmt.[103]
772.*
1821, 27. August.
Ich [Grüner] hatte dem Grafen Auersperg von der beiläufigen Ankunft Goethes mit dem Bemerken Nachricht gegeben, daß der 28. August der Geburstag Goethes sei.
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Für Goethe war ein gut meublirtes Zimmer mit allen nöthigen Bedürfnissen, ein zweites für seinen Bedienten vorgerichtet, die Aussicht ging auf die nördlich am Abhange des Schloßberges angebrachten Anlagen. Bei der Ankunft Goethes kam der Graf ihm entgegen, und drückte seine hohe Freude über die Ehre aus, die ihm durch die Anwesenheit Seiner Excellenz zu Theil werde. Lange, sehr lange habe er den Wunsch gehegt, den Mann, dessen Werke er studire, persönlich kennen zu lernen, und dergleichen mehr, was Goethe artig erwiederte.
Als Goethe in das für ihn bestimmte Gemach trat, winkte er mir ihm zu folgen. Er war von der Reise etwas ermüdet, und nach kurzer Zeit sagte er: »Freundchen, machen Sie mich mit der Hausordnung bekannt,[103] damit ich nicht störe, weil ich sehe, daß Sie hier wie zu Hause sind.«
Euere Excellenz, erwiderte ich, der Wille und ausdrücklichste Wunsch des Grafen ist, daß, so lange Eure Excellenz hier verweilen, Sie Herr des Schlosses sind und Ihnen Alles zu Gebote stehe.
Auf wiederholtes Andringen gab ich Aufschluß über die Lebensweise und Beschäftigung des Grafen, worüber Goethe um so mehr erfreut war, als dieses seinen Zuständen, wie er sich ausdrückte, ganz angemessen sei.
Vor dem Souper wurde plötzlich der Abhang des ganzen im Norden liegende Berges hell, und es wurde unter Vivatruf und Pöllersalven ein nicht unbedeutendes Feuerwerk abgebrannt. Im Tempel des Ruhmes zeigte sich eine Schrift mit großen Buchstaben, besagend: »Zu Goethe's zweiundsiebzigstem Geburtstage.« Goethe, nicht ahnend, daß dieser für ganz Deutschland merkwürdige Tag, auch im böhmischen Mittelgebirge so herzlich theilnehmend gefeiert werden sollte, war höchst freudig überrascht und tief gerührt, als von allen Seiten so herzliche Glückwünsche dargebracht wurden.[104]
773.*
1821, 28. August.
Am 28. August früh besah Goethe vom Schloßbalkone aus die Gegend. Die Aussicht ist wunderschön,[104] Goethe konnte sich lange nicht von ihr trennen; dann besuchte er die Anlagen, besonders diejenige, von der aus er durch Beleuchtung und Feuerwerk erfreut worden war. Der Sitz, wo Goethe dort von Bergsteigen ausruhte, hat den Namen »Goethes Ruhe« empfangen und behalten. Hierauf nahm er die ansehnliche Bibliothek und Mineraliensammlung des Grafen in Augenschein.
Der Graf hatte ein feierliches Mittagsmahl veranstaltet, und hierzu den Kreishauptmann Baron Erben und andere angesehene Personen eingeladen. Beim Mahle herrschte Heiterkeit und Frohsinn. Goethe in seiner gewöhnlichen Art wollte immer in naturwissenschaftlicher Beziehung und sonst belehrt werden, und unterhielt sich mit dem Grafen und Kreishauptmann sehr angenehm. Als es aber zu Toasten kam, und Graf Auersperg ihm einen Kranz von Eichenlaub unter Musik und Trompetenschall überreichte, während alle Gäste glückwünschend sich erhoben, und die Toaste nicht allein auf sein langes Wohlergehen, sondern auch auf das des Großherzogs ausgebracht wurden, der sich ein deutsches Athen in so großen Zierden der deutschen Nation zu erziehen wußte, war Goethe äußerst bewegt und gerührt, und dankend äußerte er sich bloß, daß die so gastfreundschaftlich freundliche Ausnahme in Hartenberg ihm unvergeßlich sein werde.[105]
774.*
1821, 30. August.
Die Juden bewohnten im vierzehnten Jahrhunderte einen großen Theil der Stadt Eger, namentlich die Juden-, Bruder- und Rosengasse. In der Brudergasse befand sich ihre damals sehr berühmte Synagoge; den Eger'schen Chroniken zufolge soll in Deutschland bloß hier eine hohe Judenschule sich befunden haben. Als nun in dem gedachten Jahrhunderte die Klagen der Egerer Kaufleute über Bedrückung der Juden immer häufiger wurden, und als eines Tages ein Barfüßer Mönch das Leiden Christi mit den glühendsten Farben schilderte und die Juden als die Urheber alles Unheils darstellte, sprang, dadurch gereizt, ein Kriegsmann zum Hochaltare, ergriff dort ein Crucifix und schrie: Wer ein guter Christ ist, der folge mir nach!
Und es folgte ihm aus der Kirche der fanatische Pöbel, außen gesellte sich Gesindel jeglicher Art dazu, die Judenhäuser wurden geplündert, alle Juden wurden bis auf einen einzigen ermordet, der sich in einen Schornstein versteckt haben soll und nach hergestellter Ruhe als Bürger von Eger anerkannt wurde. Die meisten Juden sollen in das schmale Gäßchen zwischen der Juden- und Brudergasse geschleppt und ermordet worden, und aus dem Gäßchen, das noch heute zu Tage die Mordgasse heißt, das Blut wie ein Bach[106] herabgeflossen sein. Der damals regierende römische König Karl IV. ließ hierüber eine Untersuchung eintreten, in deren Folge der Rath von Eger zu einer sehr namhaften Geldbuße verurtheilt ward ..... Unter Kaiser Siegmund wurde die obgedachte Synagoge in eine katholische Kirche verwandelt. Diese nun besichtigte Goethe. Von außen fand man im Gemäuer einen Opferstock mit nicht mehr lesbarer hebräischer Inschrift. Im Innern der Kirche ist an einer in ihrer Mitte stehenden Granitsäule gleichfalls eine hebräische Inschrift angebracht.
Mir lag daran, Goethes Meinung über die Juden zu erfahren. Was ich aber auch vorbringen mochte, er blieb in Betrachtung der alten Inschriften vertieft, und äußerte sich nicht mit Bestimmtheit in Betreff der Juden.
Wir gingen nun in die alte Burg, in welcher die zu einem Bankett geladenen vornehmsten Anhänger Wallensteins niedergemacht worden sind. Goethe blieb vor der ehemaligen Zugbrücke stehen, und betrachtete den sogenannten schwarzen Thurm. Dann sagte er:
»Dieses großartige Werk wollen wir nun auch von Innen betrachten. Das Gestein ist wahrscheinlich vom Kammerberge. Sehen Sie, wie kunstreich die Steine behauen, und um der Witterung zu widerstehen, zusammengesetzt sind. Sie haben beinahe die Form wie einige unsere losen Feldkrystalle bei Elbogen. Wir müssen ihm (dem Thurm) etwas abgewinnen, um Vergleichung[107] mit dem Vorkommen im Kammerberge anstellen zu können.«
Es wurden dann auch einige abgehauene Stücke mitgenommen. Die Schloßkapelle wurde von außen betrachtet, und es wurden an der Westseite Tragsteine bei und zu einem Fenster wahrgenommen, welches zur Hälfte von unten vermauert ist, und offenbar ehemals eine Thüre bildete. Zu dieser Thüre mußte ein auf jenen Tragsteinen ruhender Zugang von dem Schloßgebäude geführt haben, der den hohen Herrschaften diente, für welche allein auch die Emporkirche in der Kapelle bestimmt und eingerichtet gewesen sein mag.
An der Südseite beim Eingange befindet sich ein in Granit gehauenes Kreuz. Gegen Norden erblickt man in der Mauer Höhlungen, welche aus der Zeit der schwedischen und der französischen Belagerung stammen. In das Innere führen einige Stufen hinab. Auf runden massiven Granitsäulen ruht das obere Gewölbe. Dieser untere Theil scheint für das Volk be stimmt gewesen zu sein. An der nördlichen Seite gelangt man über eine schmale Granittreppe in den oberen Theil. Goethe bewunderte die Bauart, die Capitäler der marmornen Säulen, sie waren bei jeder Säule verschieden, nur dürfe man, meinte er, auf die zweite Säule, in welcher eine männliche und weibliche Figur angebracht ist, ein Frauenzimmer nicht aufmerksam machen. Vorzüglich erregte jene gewundene mit Vertiefungen versehene Säule, in dem Raume, wo[108] gegen Osten ein Altar errichtet gewesen sein mag, seine Aufmerksamkeit und Beobachtung. Goethe stieg auch zum Dachboden hinauf, und labte sich an der freien Aussicht in das schöne Egerthal gegen Osten und Westen. Als wir zu den Schloßruinen kamen, erzählte ich Goethe, daß die Erbprinzessin von Oldenburg, geborene Großfürstin von Rußland1, indem Sie die Stauden mit rothen Beeren betrachtete, ausgerufen habe: Sehen Sie, hier sproßt das Blut der Ermordeten aus.
Goethe äußerte hierauf: »Sie hatte Geist, doch führte dieser Sie in ihren Äußerungen oft zu weit. So hat sie zu Weimar in der Bibliothek, als der Bibliothekar ihr malebarische Dokumente vorzeigte, und auf ihr Verlangen, den Inhalt zu wissen, denselben nicht anzugeben vermochte, weil er die Sprache nicht verstehe, ausgerufen: Ein Bibliothekar und versteht nicht malebarisch! als ob ein Bibliothekar, bemerkte Goethe, alle Sprachen der Welt verstehen sollte. Sie wer den,« sagte er dann, »über Manches, was hier vorging, aus Ihren Archivschätzen Aufschluß geben können.«
Es ist wohl Einiges vorfindig, erwiderte ich, und wenn Eure Excellenz erlauben, so will ich es im Zusammenhange mit Hofrath Försters Geschichte Wallensteins kurz vortragen.
Goethe sprach: »An Ort und Stelle hat die Erzählung einer wichtigen Begebenheit stets mehr Interesse. Lassen Sie hören.«
[109] Nachdem ich meine Erzählung von der Eger'schen Mordnacht beendet hatte, sagte Goethe: »Sie sehen, die Sache gewinnt hier mehr an Interesse. Es wäre zu wünschen, daß Sie für die Fremden einen Wegweiser drucken ließen; denn Wallenstein spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle. Hier an Ort und Stelle hat jeder freien Spielraum, sich den Platz zu denken, wo Graf Terzky sich heldenmüthig vertheidigte und fiel. Die noch stehenden Tragsteine lassen auf den ehemaligen Umfang des Saales schließen. Die Marmorsäulen an den Fenstern zeigen etwas Großartiges an, allein Schade, daß für die Erhaltung nicht gesorgt wird.«
An der zweiten Säule werden Eure Excellenz einen freien Adler mit gesenktem Flügel bemerken. Dieser dürfte, fügte ich hinzu, aus der Zeit stammen, als Eger zu den freien Reichsstädten gezählt wurde, wozu sie unter Kaiser Friedrich Barbarossa erhoben worden war, als er das Beilager mit Adelheid, einer Tochter des Markgrafen von Vohburg, hier feierte.
»Natürlich stützt sich das alles, was Sie mir sagten, auf Urkunden?« bemerkte Goethe.
Ich habe das Archiv, sagte ich, und alle auf die Entstehung der Urkunden bezüglichen Correspondenz-Vortragsbücher durchgelesen und es wäre zu weitläufig, Sie in Bezug dieses Gegenstandes (der Ermordung Wallensteins nämlich und seiner vornehmsten Genossen) damit zu ermüden.
[110] Goethe erwiderte: »Es ist an dem genug, was Sie mir sagten, und Jeder würde sich damit begnügen. Solche Geschichtsumstände müssen auch ganz kurz abgefaßt sein.«
Ich darauf: Einiges war mir dennoch sehr von Bedeutung, was ich erst aufgefunden habe. Als erwiesen wird angenommen, daß Wallenstein am 25. Februar 1634 hier erstochen wurde. Nun fand ich in der Correspondenz, dem sogenannten Copialbuche, daß am 26. Februar 1836 an den Gouverneur zu Theusing geschrieben und er ersucht wurde, Victualien jeder Art nach Eger zu senden, weil wegen Anwesenheit Wallensteins und seines Hofstaates hier und in der Umgegend Alles aufgezehrt werde. Ich prüfte genau, ob vielleicht ein Schreibfehler unterlaufen sei; allein es finden sich vor und nach jener Zuschrift Ersuchs schreiben wegen anderer Gegenstände vom 26. Februar 1634 vor, daher konnte kein Irrthum hinsichtlich des 26. Februar vorgefallen sein. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß man die Ermordung Wallensteins verheimlichen wollte, und daß militärischer Seits auf die Ausfertigung jenes Gesuchsschreiben an den Gouveneur zu Theusing Rücksicht genommen worden sei.
Goethe fragte: »Wodurch ist denn sicher gestellt, daß Wallenstein am 25. Februar 1634 erstochen worden? Wenn, wie Sie sagen, in dieser Zuschrift ausdrücklich erwähnt wird, daß er an diesem Tage noch gelebt habe, so konnte er erst am 26. Februar ermordet worden sein.«
[111] [Nachdem hierauf Grüner ausführlich dargelegt, wie er eine städtische Urkunde gefunden, in welcher der 25. Februar als Tag der Ermordung Wallensteins und seiner Offiziere angegeben sei, berichtet er weiter:]
Goethe sagte: »Dieses Actenstück ist auf jeden Fall wichtig; denn es giebt über die Zeit und den Ort der Handlung Aufschluß.«
Indem er nun unter freundlicher Begrüßung nach dem Gasthofe zur Sonne zum Mittagsmahle ging, wo er auf seinem Zimmer Nr. 1 speiste, lud er mich für den Nachmittag zu einem Spaziergang in das Egerthal ein, was ich natürlich mit Vergnügen annahm.
Das Egerthal hatte für Goethe einen besonderen Reiz, er lobte die rein gehaltenen Wege, die Baumpflanzung, die angelegten Alleen. Gleich bei der sogenannten Wenzelsburg gegenüber den alten Schloßruinen verweilte er einige Zeit, die Felsengruppen betrachtend. Ich machte ihn aufmerksam, daß ehemals ein Kastell den Berg krönte, welches durch eine lederne Brücke mit der Burg in Verbindung stand, und daß ich ein Ölgemälde vom Jahre 1495 besitze, auf welchem dieses Kastell und die Stadt in ihrem damaligen Aussehen dargestellt ist.
»Man wird wohl den Standpunkt ausmitteln können, von welchem es aufgenommen ist,« sagte Goethe.
Ich antwortete: Ich besitze zwei derlei Bilder, worauf angemerkt ist, wie Eger von der Westseite und von der Ostseite ausgesehen hat. Die Bilder sollen nach[112] einem Holzschnitte ausgeführt worden sein, der sich an einem Altare in der St. Niklaskirche befunden haben soll. Der Maler ist Stadler angemerkt. Diese Malerfamilie existirt noch und ich besitze von Stadler und seinen Nachkommen einige Ölgemälde.
»Von welchem Genre?« fragte Goethe.
Der alte Stadler, antwortete ich, hat einiges Architektonische geliefert, auch war ihm die Lehre der Perspective nicht fremd. Der Sohn hat sich auf Landschaftmalerei gelegt, und würde Gutes zu leisten im Stande gewesen sein, wenn er nicht um das tägliche Brot hätte malen müssen. Überhaupt wurde die Malerei in Eger zunftmäßig betrieben; es gab Lehrjungen, Gesellen, Meister, welche ihre Heiligenbilder nach den entferntesten Gegenden Deutschlands, besonders in Klöstern und an Wallfahrtsörtern absetzten. Dieser Erwerbszweig ist beinahe gänzlich erloschen. Die Wallfahrtsbilder wurden in Packeten zu 100 auch 1000 Stücken versendet. Darunter befinden sich die sogenannten Winterheiligen; es waren Brustbilder; warum sie aber diesen Namen erhalten haben, vermag ich nicht zu sagen. Die sogenannten gestochenen Bilder gaben einen besonderen Handelszweig. Eure Excellenz werden sich überzeugen, wie mühsam und wie für die Augen angreifend die Arbeit bei diesen gestochenen Bildern ist, die meist von Frauenzimmern verrichtet wurde. Je mühsamer sie aber gestochen waren, desto fleißiger war auch das in der Mitte befindliche Bildchen gemalt.[113] Dieser sonst bedeutende Erwerbs- und Handelszweig ist gänzlich eingegangen, weil derselbe die Coucurrenz mit den durch Maschinen gepreßten Bildern nicht aushalten konnte. Einer meiner Mitschüler bekam häufig von seinem Vater, einem Bilderhändler, den Auftrag, auf mehrere Tausend solcher Bilder die Namen der Heiligen mit goldenen Buchstaben zu schreiben. Um rascher fertig zu werden, bat er mich, ihm zu helfen. Da wir einen so großen Vorrath von Heiligen haben, so gerieth ich nicht in Verlegenheit, welchen Namen ich den Bildchen geben sollte. Wenn der Heilige etwas jünger aussah, schrieb ich gewöhnlich Johannes darunter.
»Sie toller Christ,« sagte Goethe lächelnd, »wie haben Sie sich das Recht Ihrer Geistlichkeit anmaßen können?«
Ich dachte, war meine Antwort, daß es auf die Namen nicht ankomme, und daß die Heiligen bei Gott einen gleichen Wirkungskreis haben; nur Schade, daß Deutschland so wenig im Himmel vertreten ist, denn die Italiener sollen dort die meisten Plätze eingenommen haben.
»Es sind auch in Italien die meisten Geistlichen,« sagte Goethe, »und diese Herren glauben auf einer Stufe zum Himmel höher zu stehen. Sie haben keinen Begriff, mein Lieber, wie die Kinder dort schon für den Priesterstand erzogen werden; denn dort können Sie Kinder auf der Gasse als Dominikaner, Franziskaner, Jesuiten, Nonnen angekleidet sehen.«
[114] Es mögen aber, sagte ich, dennoch nicht die besten Sitten in Rom herrschen; denn wenn ich dem Boccaccio trauen darf, so soll sich ein Jude deßhalb haben taufen lassen, weil, wie er behauptete, die christliche Religion göttlichen Ursprungs sein müsse, sonst hätte sie wegen der schlechten Sitten in Rom längst gänzlich verdrängt und ausgetilgt worden sein müssen. Doch Eure Excellenz können auch hierüber den besten Aufschluß geben.
Goethe erwiederte: »Ich kann freilich nicht billigen, daß die Geistlichkeit in Rom sich so sehr mit weltlichen Dingen befaßt, aber um dergleichen habe ich mich nicht gekümmert, sondern bin mehr meiner Leidenschaft, Kunstgegenstände dort genauer zu betrachten und mich auszubilden, nachgegangen, wobei ich auch einen tüchtigen Künstler und Kenner an der Seite hatte. Bei jedem Tritte in Rom stößt man auf Gegenstände, die zu ernsten und angenehmen Betrachtungen Anlaß geben. Wir haben daher von der Geistlichkeit und den Cardinälen nur diejenigen besucht, in deren Palästen Kunstgegenstände zu sehen waren. Was nun Ihre Malerzunft betrifft, so würde zwar die Kunst herabgewürdigt, auf der andern Seite hatte es doch wieder das Gute, daß die Malerei so viele Theilnehmer fand, und unter diesen mancher Geniale sich aus dem gewöhnlich Schlechten erhob und Gutes lieferte.«
1 Als Königin von Würtemberg von der Erde geschieden.[115]
775.*
1821, 31. August.
Das Gespräch fiel auf Blücher. Goethe lobte seine Geistesgegenwart, seine persönlich Bravour, seine Art das Zutranen und die Liebe seiner Soldaten zu gewinnen, dann seine Reden. Baron Stein aus Breslau gab über die aufzustellende Statue des Helden und über die Hemmungsursachen Aufschluß.
Goethe war der ägyptischen Form [des von Rauch für das Denkmal vorgeschlagenen Fußgestells] nicht geneigt und hätte lieber ein würfelförmiges, als ein Fußgestell konischer Form gesehen; wenn aber letztere gewählt sei, so stünde das von Langhans vorgeschlagene Gesims in größerer Harmonie mit dem Untersatz, als das Schinkel'sche griechische.[116]
776.*
1821, 1. September.
Ich stellte diese Herren [Professoren des Gymnasiums] Goethe vor. Er unterhielt sich einige Zeit mit ihnen über das Schulwesen, und nahm ihre Einladung, die Gymnasialprüfung mit seiner Gegenwart zu beehren, an.
[116] Nach ihrem Weggange erkundigte er sich über ihre Conduite, und ich konnte mit dem besten Gewissen das beste Zeugniß geben. Eure Excellenz, sagte ich dann, dürfen sich keinen Begriff von einem ansehnlichen Gebäude machen, es ist so alt und winkelig, daß es eines Um- oder vielmehr Neubaues bedarf, welcher auch beantragt ist.
Darauf Goethe: »Das macht nichts zur Sache! ich habe verschiedene alte Gebäude kennen gelernt, in welchen gut unterrichtet wurde; es kömmt nur hauptsächlich auf die Lehrer an.«
Nachmittags fuhren wir zu dem alten Schulgebäude. Die in das erste Stockwerk führende Treppe war sehr schmal und unbequem, der Gang nach dem Prüfungszimmer sehr dunkel. Nach Goethes Empfang wurde von dem Humanitätsprofessor die Prüfung über die griechischen Autoren vorgenommen. Goethe, dem die griechische Chrestomathie überreicht worden war, schien sehr aufmerksam bis zu Ende zuzuhören. Als ich ihn darauf in seine Wohnung begleitete, sagte er: »Dieser Professor ist seinem Fache sehr gewachsen; ich wünschte aber, daß er die Schüler mehr Sprechen ließe.«
Ich erwiederte: Wahrscheinlich hat er es wegen der Anwesenheit Eurer Excellenz gethan, er ist aber sonst ein sehr geachteter, von seinen Schülern sehr geliebter Mann, der, wie man zu sagen pflegt, Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat, und von dem sie immer mit Achtung sprechen.
[117] Goethe: »Da wollen wir ihn loben.«
Abends wurde über den Zusammenhang der österreichischen Provinzen, über die Verwaltung derselben, besonders über Ungarn gesprochen.
Goethe sagte: »Es gehört eine geistreiche, kluge und energische Regierung dazu, um so verschiedenartige Völkerstämme in Frieden zusammen zu halten; hiezu mag auch die heilige Allianz beitragen. Nur Schade, daß es in Ungarn, in diesem so großen und gesegneten Königreiche mit der Geistes- und Bodenkultur nicht vorwärts gehen will.«
Darauf ich: Man sagt, daß die Städte in Ungarn viele Verbesserungen ihres Commerzes wegen wünschten und mit den königlichen Propositionen einverstanden wären; auch der hohe Adel zeige sich geneigt dazu, um bei Hofe, wie man zu sagen pflegt, ein Bild sich einzulegen, und dadurch hohe Ehrenstellen und Orden zu erhalten; da aber eine Unzahl Edelleute unter dem Bauernstande und auf dem Landtag sich befindet, solle es dem hohen Adel leicht fallen, diese Bauernedelleute insgeheim aufzustacheln, daß sie sich jeder Neuerung widersetzen, wäre dieselbe auch noch so gut und nützlich, damit ja nichts an der längst schon verrotteten Constitution geändert werde.
Goethe: »Da jeder König von Ungarn die Aufrechthaltung der Constitution beschwört, so läßt sich auch das Gute und Nützliche leider mit Gewalt ihnen nicht aufdringen. Es dürften aber doch einmal Zeiten[118] kommen, wo, wie unter Kaiser Joseph, das für das Land Nützliche mit Gewalt aufgedrungen werden wird.«
In Folge der Fragen Goethes setzte ich ihm den Geschäftsgang beim Magistrate und Criminalamte, sowie den Instanzenzug auseinander, worauf er sagte: »Wie ich mich überzeuge, so greift es bei Ihnen gut zusammen.«[119]
777.*
1821, 2. September.
Auf dem Wege dahin [- nach Franzensbad -] betrachtete Goethe den Wolkenlauf. »Sehen Sie« sagte er, »wie sich jene gegen Osten wieder auflösen«; er gab der Wolke auch einen Namen, den ich wieder vergessen habe. Kann man, fragte ich, schon bestimmte Resultate aus dem Wolkenlaufe ziehen?
Goethe antwortete: »Bisher hat sich bloß der Engländer Howard darauf gelegt; ich glaube, daß, wenn die Beobachtungen durch viele Jahre ernstlich fortgesetzt werden, auch dieser Sache etwas abzugewinnen sei.«
Wir kamen zur Louisenquelle, an deren nordöstlichen Seite die Sprudelquelle in einen kleinen Ständer gefaßt ist. Sprudelquelle wurde sie wegen des gewaltigen Aufwallens des Gases genannt.
Sehen Eure Excellenz, sagte ich, wie geistreich der kleine Mann neben Marie Luise sieht.
[119] »Geistreich,« erwiederte Goethe, »war er wohl in hohem Grade, wenn er nur auch in Grenzen wie hier geblieben wäre.«
Ein bayrischer Gelehrter, erzählte ich, hat nach Anblick der Louisen- und Sprudelquelle ein hübsches lateinisches Gedicht auf Marie Louise und Napoleon verfaßt, welches ich, wenn Eure Excellenz erlauben, nach unserer Zurückkunft zur Einsicht vorlegen werde. Mit dieser Louisenquelle hat es übrigens eine besondere Bewandtniß. Zum Baue der Fassung derselben wurden Sachverständige ans Prag und Bilin herbeigezogen, welche längere Zeit damit sich beschäftigten, und den Stadtrenten einen Kostenaufwand von 18000 Gulden zufügten. Allein diese Herren waren noch auf dem Rückwege, so stürzte das Gebäude zusammen, dennoch mußten die Renten 300 Gulden Diäten an sie bezahlen. Der hiesige Zimmermeister hat unter Leitung des ärarischen Straßencommissars die Fassung schnell und mit wenigen Kosten bewerkstelligt, und den Sprudel oder die Napoleonsquelle von der Louisenquelle getrennt. Diese Vorbedeutung ist in Wirklichkeit übergegangen.
Darauf Goethe: »Nach der Schlacht von Leipzig fiel ohne bekannte Veranlassung sein Bild vom Nagel in meinem Zimmer herab; was sagen Sie dazu?«
Wenn wir noch, antwortete ich, in den finsteren abergläubischen Zeiten leben möchten, so würden wir es für ein Zeichen des Himmels halten müssen, da sonst[120] der Geburt und dem Tode großer Männer solche Zeichen vorangingen, und wer möchte Napoleon nicht unter die größten Männer zählen, die je die Erbe getragen hat. Wenn ich hier die Sprudelquelle neben der Louisenquelle ansehe, denke ich mir Napoleon getrennt von seinem Sohne auf der Insel Helena, wie er hier eingeengt innerlich lebt, ohne die Grenzen überschreiten zu können. Nur ein großer Geist vermag in solcher Lage standhaft zu bleiben. Indeß seine Haft sollte ihn unschädlich machen, Millionen Menschen sind durch ihn geopfert worden.
Goethe: »Lassen wir gute Wirkungen von dieser Sprudel- oder wie Sie meinen Napoleonsquelle für die Menschheit hervorbringen.«
Hierauf fuhren wir nach Eger zurück.[121]
778.*
1821, 4. September.
Auf Goethes Befragen [über den bevorstehenden Jahrmarkt zu Eger] sagte ich ihm, daß nur Kaufleute aus den benachbarten Städtchen und Marktflecken mit hier immer zu kaufenden Waaren, meist für das Landvolk bestimmt, hierher kommen, und daß der Jahrmarkt sehr lebhaft werden werde. Von der schlesischen Grenze kommen Leinwandhändler, welche Garn und Leinwand zum Bleichen mitnehmen. Auch Eisenwaren aus Steyermark treffen ein.
[121] »Wenn man mir,« sagte Goethe, »einen Stoß von Waaren zum Kaufe vorlegt, so pflege ich jene Stücke, welche mir bei dem ersten Anblicke die für mich passendsten scheinen, auf die Seite zu legen, die anderen sehe ich nicht mehr an. Ich habe dann nur unter wenigen Stücken zu wählen, und komme früher zum Entschlusse, während bei der Ansicht so vieler Stücke dieser oft schwankend wird.«
Das, erwiederte ich, habe ich bei sehr vielen Menschen schon bemerkt, sie wissen vor beständigem Wählen am Ende nicht mehr, was sie wählen sollen, und verlassen, ohne etwas zu kaufen, den Kaufladen.
Goethe stand am Fenster und betrachtete ein neugebautes Haus. »Der Mann,« sagte er, »hat das Haus niedlich hergestellt, es verräth, daß er schon manches Gute gesehen haben mag; doch die zwei geschnitzten angestrichenen Heiligen passen nicht zum Ganzen.«
Er ist selbst Baumeister, erläuterte ich, und mußte im Innern mit dem Raume äußerst geizen, um eine bequeme Treppe zu erzielen. Um den Hausfrieden zu erhalten, mußte er seiner Ehehälfte nachgeben und beide Heilige anmachen.
»Nun, da wollen wir dem guten Manne sie lassen« sagte Goethe.[122]
779.*
1821, 5. September.
Bevor wir uns zu der sogenannten Klassenverlesung begaben, sagte Goethe: »Ich sollte den Leopoldsorden zu dieser Feierlichkeit mitnehmen, allein ich ließ ihn zu Hause, weil ich, wie Sie wahrgenommen haben, keinen Orden trage; nur den Stern des Falkenordens hat man mir an einen Frack angenäht, welchen ich nur bei besonderen Anlässen trage.«
Nachdem wir im Saale des Schulgebäudes den von einem Rhetor1 vorgetragenen Prolog gehört hatten, stellte der Vicedirector des Gymnasiums an Goethe die Bitte, das erste Prämium einem der Abiturienten zu verleihen, weil dies auf diesen vorzüglichen Schüler einen bleibenden, ihn im Guten festhaltenden Eindruck machen werde. Goethe nahm das übertragene Amt mit Vergnügen an, sagte dem Schüler bei Überreichung des Prämiums aufmunternde Worte, hieß ihn näher zu sich treten, ermahnte ihn zur Beharrlichkeit im Fleiße und in den guten Sitten, schrieb seinen Namen in das Prämienbuch ein, gab ihm zur Erinnerung ein Goldstück, und entließ ihn mit den freundlichsten Worten, sagend, daß es ihm angenehm[123] sein würde, wenn er ihm sonst in seiner Laufbahn förderlich werden könnte, und daß er sich nur an ihn wenden möchte.2
1 Soviel wie auf den gelehrten Schulen in Deutschland Primaner.
2 Dieser Abiturient hieß Georg Schmied, war der Sohn eines armen Taglöhners, erhielt sich durch Ertheilung von Privatunterricht und durch Kosttage, und ist jetzt [1853] Dr. der Medicin in Wien.[124]
780.*
1821, 5. September.
Goethe forderte mich dann auf, ihn in das Egerthal zu begleiten. Meinem Vorschlage zufolge gingen wir zum Mühlthore hinaus. Ich stieg beim ersten Thore links den Felsen hinauf, um einige an der Ecke der Schloßruinen eingemauerte schwarze Steine zu betrachten, und berichtete, daß es die nämliche Steinart sei, woraus der sogenannte schwarze Römerthurm erbaut ist.
»Diese Burg ist jedenfalls viel später gebaut,1« sagte Goethe; »es werden noch einige vorräthige Steine davon umhergelegen sein, die man zum Thurmbau benutzen wollte, allein nicht mehr hiezu brauchen konnte.«
Der Weg führte in Windungen zwischen den Gärten, in welchen die Tuchmacher ihre Tuchrahmen aufgestellt haben. Davon nahm Goethe Veranlassung[124] zu Fragen über die Anzahl der Tuchmacher zu Eger, über die Tucherzeugung und über den Absatz der Tuche. Ich befriedigte seine Wißbegierde und fügte hinzu, daß ehemals die hiesige Tuchmacherzunft sehr bedeutend gewesen sein müsse; denn aus den Chroniken gehe hervor, daß die Egerer Tuchmacher das Raubschloß Graslitz mit gestürmt, und vom Thurme den goldenen Stern erbeutet hatten, welcher dann dem ehemaligen alten Rathhausthurm aufgesetzt wurde. Für diese That wurde den Tuchmachern die damals große Auszeichnung zu Theil, bei ihren öffentlichen Aufzügen sich der Trompeter bedienen zu dürfen. Die Tuchknappen hielten auch zu gewissen Zeiten den Laternentanz; worin dieser bestand, konnte ich nirgends auffinden. Sie mußten, wenn sie diesen Tanz halten wollten, um Bewilligung ansuchen, welche ihnen nicht immer vom Rathe ertheilt wurde. Es muß ein ganz besonderer Tanz gewesen sein, da sie sich bei Anwesenheit höchster Herrschaften damit produciren mußten. Jedenfalls dürfte er interessanter gewesen sein als unsere Walzer und Galopps, denn es wird mir immer unwohl, wenn ich dieses wüthend schnelle Drehen, dieses zwecklose, der Gesundheit schädliche Toben und Rasen ohne alle Kunst und Grazie ansehen muß.
Darauf Goethe: »Lassen wir sie austoben, sie werden bald zur Kunst zurückkehren und eine Menuette zierlich wieder aufführen. In höheren Cirkeln wird die Tanzkunst ohnedies fortwährend cultivirt.«
[125] Als ich ihn Abends in Folge seiner Einladung besuchte, erkundigte er sich näher über die Lage des Schülers, dem er das erste Prämium überreicht hatte. Ich sagte ihm, daß derselbe der Sohn eines armen Taglöhners sei, und seinen Lebensunterhalt hier durch Kosttage und Ertheilung von Privatunterricht gefunden habe. So würden von den hiesigen Bürgern und Klöstern viele arme Schüler unterhalten. Gar mancher derselben sei nachher zu hohen Ehrenstellen gelangt.
»Die Egerer sollen dieserwegen gelobt werden,« sagte Goethe, nahm ein für die Ertheilung des Unterrichtes in den Gymnasien vorgeschriebenes Lehrbuch der Geschichte zur Hand, blätterte es durch und äußerte: »Nun sehen Sie, wie geschickt das Geschichtsbuch für die Jugend eingerichtet ist. Die Marginalanmerkungen sind gut, und die Application der aus der Geschichte herausgehobenen Facta zur Belehrung der Jugend ist zweckmäßig; es ist nichts dagegen zu sagen.«
Dann ging er die deutsche Chrestomathie durch. Da sein Name so selten darin vorkömmt, so war ich begierig, ob nicht in seinen Mienen einiger Unmuth zu lesen sein werde. Er aber legte das Buch ganz unbefangen weg, und sagte nach einer Pause:
»Als Muster für die Jugend bin ich weniger als Gellert, Lichtwer, Hagedorn zu gebrauchen.«
1 Sc. als der schwarze Thurm.[126]
781.*
1821, 6. September.
Goethe war mit meinem Vorschlage einverstanden, jenseits des Flußes im Egerthale bis zum Jägerhaus, Siechenhaus genannt, zu gehen, um dort eine angenehme Aussicht zu gewinnen. Ich hatte die Vorkehrung getroffen, daß ein mit bequemen Sitzen versehenes Schiff uns am Fluße dort erwarte. Goethe war von der äußerst schönen Aussicht angenehm überrascht. Um sich in der ganzen Umgegend zu orientiren, mußte ich ihm über die entferntesten Ortschaften, die sein Blick erreichen konnte, Aufschluß geben.
Er war äußerst vergnügt und aufgeheitert. Im Herabsteigen vom Berge zum Fluße sagte ich, daß diese Gegend für mich um so mehr Reiz habe, als sie mich an meine Kinder- und Schuljahre erinnere. Im Sommer wurde hier an Recreationstagen gewöhnlich gebadet. Am jenseitigen Ufer hatten wir Stufen angebracht, um von da in das Wasser zu springen. Dort, bei dem vierten Strauch habe ich einen untersinkenden Schüler glücklich noch bei den Haaren erwischt und herausgezogen. Bloß ein schmaler Streif ist tief, herwärts ist das Wasser seicht und der Boden sandig; hätte der Fluß eine gleich breite Tiefe gehabt, so hätte er mich mit hinabgezogen.
Beim Einsteigen in das Schiff sagte Goethe; »Das[127] haben Sie gut gemacht, Sie sollen gelobt werden; man ruht dabei aus und kann die Gegend bei der langsamen Fahrt von beiden Seiten beobachten.«
Der Abend war unvergleichlich schön. Ich überließ den großen Dichter seinen Betrachtungen. Beim Aussteigen bei der Stadt, als ich ihn so heiter fand, sagte ich: Horaz hat wohl unrecht gehabt, als er über den Erfinder der Schifffahrt loszog.
Goethe antwortete: »Er hat nur das Meer gemeint, dem er sich anvertraut hat; mit uns wäre er schon ruhig gefahren.«
Als dann die Rede auf den wunderthätigen Fürsten Hohenlohe und auf die Erklärung des Stadtmagistrates von Bamberg gegen denselben kam, äußerte Goethe:
»Bei einem nervenschwachen Menschen kann ein derlei fester Glaube zu einer frommen und moralisch guten Person allerdings eine erwünschte Wirkung hervorbringen, wenn diese über ihn fromme Worte ausspricht und den Segen ertheilt; allein es drängen sich Menschen mit chronischen Übeln hinzu, und machen ein schlimmes Spiel«
Ich bemerkte: Selbst von hier sind einige Podagristen dahin gewandert, die natürlich bei wieder eingetretenen Schmerzen verlacht wurden.[128]
782.*
1821, 12. September.
Goethe kam zu mir, sich zu beurlauben. Was die Leiche des Knaben, von welcher er in seinem Tagebuche spricht, betrifft, hatte es folgende Bewandtniß. Dieser Knabe war das Kind des Sonnenwirthes, in dessen Gasthof Goethe wohnte. Die Magd stellte den Knaben in eine im Hofe stehende Kutsche, und glaubte denselben in voller Sicherheit. Aber der Kutschenschlag war nicht fest geschlossen, der Knabe stürzte heraus und zwar auf den Kopf, so daß er gleich nach dem Sturze starb. Ich erzählte Goethe, daß zwei junge, aber schon erwachsene Mädchen vermißt würden. Die eine derselben war eine Waise, gut erzogen; wegen Mangel an Arbeit wurde sie tiefsinnig, falsche Scham hielt sie ab, um Unterstützung zu bitten. Sie irrte in den Wäldern umher, und wurde endlich im Egerflusse, bis an die Brust im Wasser wahrgenommen. Sie wurde zur Aussicht und Heilung ihres Gemüthes übergeben, auch wurde für sie eine Sammlung zur Deckung ihrer nächsten Bedürfnisse eingeleitet. In Betreff der zweiten der beiden Vermißten, wurde ermittelt, daß Sie sich wegen der Untreue ihres Geliebten im Egerflusse ertränkt habe.
Goethe unterhielt sich mit meinen Söhnen auf eine äußerst liebreiche Art. Der älteste Sohn Joseph, sowie[129] der zweite Ignaz hatten ihre Prüfungen mit Auszeichnung bestanden, und weil der erstere eine Rede im Prüfungssaale vorgetragen hatte, ließ er sie sich von ihm recitiren. Er bezeigte seinen Beifall und beschenkte beide.
Wie gewöhnlich verweilte er dann bei meinem Mosaikkasten. »Freundchen,« sagte er, »Sie wissen nicht, welchen großen Schatz Sie hier besitzen. Dieser Kasten ist in Florenz zur Zeit der Medicis verfertigt. Man wollte dort eine Kapelle mit Mosaik verzieren, die Steine waren hierzu bereits größtentheils vorhanden, allein der Tod vereitelte die Ausführung. Wer nun einen aus diesen Steinen verfertigten Mosaik-Tisch oder Kasten besitzt, kann sich glücklich schätzen. Die Italiener nennen diese mühsame Tischlermosaik und künstliche Arbeit Intarsia. Wenn Sie mir die Mittelstücke dieser Mosaikarbeit überlassen, so würde ich Ihnen nicht allein dreihundert Thaler geben, sondern auch die Theile, an denen die Mosaik angebracht ist, herstellen und den ganzen Kasten Ihnen lassen.«
Ich aber, weil ich mich hierzu nicht gleich entschließen, auch seinen Antrag nicht platterdings abschlagen wollte, leitete das Gespräch auf meine Ölgemälde.
»Sie haben mitunter gute Sachen,« sagte er, »besonders der Kopf über der Thüre ist aus einer sehr guten italienischen Schule.«
Mit diesem Kopfe, sagte ich, hat es eine besondere[130] Bewandtniß. Ich war Bevollmächtigter des Herrn Appellationspräsidenten Grafen Joseph Auersperg, Besitzers der Herrschaft Hartenstein. So oft ich in das Zimmer des Grafen trat, zog dieser Kopf meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Als ich einmal nach Hause fahren wollte, fand ich in der Kutsche ein Kistchen. Ich eilte mit der Anfrage zurück zu dem Grafen, was damit zu geschehen habe. Mir ward die Antwort: »Es ist der Kopf, welchen Sie zu Hause mit Muße betrachten mögen, hier lasse ich Ihnen keine Zeit dazu, weil wir stets wichtigere Geschäfte zu besprechen haben.« Nach eingeholter Erkundigung hatte die Frau Gräfin Mutter den Kopf nebst einigen anderen Gemälden sehr theuer in Italien erkauft.[131]
783.*
1821, Ende October bis Jahresschluß (?).
Durch meinen Brief von Zelter war ich in näheren Zusammenhang mit ihm [Goethe] gekommen, war oft bei seiner Schwiegertochter aufgenommen. Ich hatte ihn bei Überreichung des Schreibens gesprochen, allein er war mehr in seiner vornehmen Absonderung geblieben, wiewohl er sich ganz freundlich mit mir unterhalten hatte. Er fragte manches über Berlin, über Zelter, auch über andere Zustände, behandelte aber doch die Gegenstände der Unterredung mehr wie ein[131] Fürst, der von seiner einsamen Höhe auch von dem, was in der Welt vorgeht, Notiz nimmt. Es wurde kein ruhig dahinfließendes Gespräch mit ihm, sondern nur ein Fragen, dem man die geistige Überlegenheit wohl anmerkte, aus welchem jedoch nichts hervorging, das einem einsamen Gedankenresultat angehörte. Ich war mithin nicht so befriedigt, wie ich hoffte, mußte jedoch nach Verhältniß seiner Stellung immer dankbar für die Zeit bleiben, die er mir widmete.
Indessen war ein junger Poet, der einige Kraft in sich fühlte, doch so leicht nicht von seinem Vorsatze abzubringen. Ich ließ... eine saubere Abschrift einiger meiner Gedichte anfertigen und übersandte sie ihm mit einem Briefe. Dieser Schritt mißlang indessen ganz; ich bekam nach einiger Zeit die Gedichte durch Frau v. Goethe zurückgesandt mit einem Briefe, worin sie bedauerte, daß sie dasjenige, was ich mir als höchste Hoffnung des Lebens hingestellt habe, für eine gescheiterte halten müsse, indem ihr Schwiegervater sich grundsätzlich nicht mehr in diese Art von Verbindungen einlasse, deren gewissenhafte Erfüllung ihm sein hohes Alter verbiete. Natürlich war ich sehr traurig darüber, doch im Grunde war die Art der Zurückweisung eine wohlverdiente; denn ich hatte in meinem Schreiben gesagt: sein Wort würde ich als eine unbedingte Entscheidung hinnehmen, daß mein dichterischer Beruf ein verfehlter sei, falls er nicht seine (Goethes) Zustimmung erwerben könne. Allein dies war eigentlich eine Unwahrheit:[132] ich fühlte mich in meinem dichterischen Leben und Treiben schon so fest, daß mich nichts hätte davon zurückhalten können. Mochte nun die Zurückweisung eine begründete sein oder nicht, fortarbeiten wollte, mußte ich; meine Zusendung wäre eine Überschätzung meiner Kräfte gewesen, es geschah mir Recht, daß keine Folge sich daran knüpfte.
Nichtsdestoweniger blieb ich im Hause der Frau v. Goethe ein ungehinderter Besucher und empfing die mehrfältigen Einladungen von Goethe selbst zu Soireen sehr freudig, weil er sich in diesen ganz als sei nichts vorgefallen unterhaltend und wohlwollend äußerte. Hier hatte ich denn nun Gelegenheit, ihn vielfältig zu beobachten. Seine edle Persönlichkeit, das Haupt voller Ausdruck und wahrer Würde, das reiche, schneeweiße Haar, die Freundlichkeit seiner Physiognomie, wenn er eine heitere Mittheilung machte, griff jeden an das Herz. Mit mir sprach er häufig von Musik, selten über etwas anderes. Er begann damit, eine freundliche Anerkennung meiner Wirksamkeit seiner Schwiegertochter gegenüber anzudeuten und dankte mir für die Art und Weise, wie ich mein Talent, ihr zum Gesang zu begleiten, in Thätigkeit gesetzt hatte. Dann sprachen wir öfters von Beethoven, den er persönlich kannte, und stolz darauf war, Manuscripte von ihm zu besitzen. Er zog bei diesem Anlaß den... Geheimrath Schmidt heran, der uns eine Beethoven'sche Sonate vorspielen mußte. Von seiner Liebhaberei an Bach'schen Fugen[133] sprach er ebenfalls mehrmals; es ist auch der Name des Mannes genannt worden – es war ein Organist des benachbarten Städtchens Berka [Schütz] – der ihm nach Zelter's Empfehlung viele von den Fugen Bach's vorspielte. Es mag sein, daß diese Zustände der Musik ihn besonders reizten, allein er hätte doch einer ganz andern Musikausbildung bedurft, um ein wahres Verständniß der ächten, großen Fugen Bach's zu haben, welches nur die Sache des mit allen Studien Vertrauten ist, die zu diesem schwierigsten Gipfel in der Kunst führen. Zwischen diese Gespräche mischten sich mehr mit der Gesellschaft im Ganzen an andere, über Malerei z.B., ein, worin oft viel Seltsames, aber auch viel Gutes gehört wurde.
Unterschied sich auf diese Weise Goethes Unterhaltung sehr von der eingehenden Tieck's und Jean Paul's, und konnte ich nicht sagen, daß ich, wie bei diesen Männern, eine durchgreifende, in's Innerste der Literatur eingreifende Bekanntschaft gemacht, so blieb mir doch von jedem Abend, den ich auf solche Weise mit zehn bis zwölf Gästen in seinem Hause zubrachte, irgend etwas sehr Merkwürdiges zurück. Beachtenswerth ist mir besonders eins gewesen: die Art und Weise, wie er Frau v. Arnim (Bettina), welche eines Abends von Frankfurt a. M. auf der Durchreise in Weimar eintraf und gerade an einem Gesellschaftsabend Goethe sprechen wollte, aufnahm. Es entstand eine kleine Unruhe: ein Diener trat herein, Goethe wurde[134] hinausgerufen. Er ging offenbar ungern; nach einiger Zeit kehrte er in Begleitung zweier Damen zurück, die den Abend in der Gesellschaft verweilten, und von denen eine als Frau v. Arnim vorgestellt wurde. Allein es geschah sehr obenhin, und Goethe unterhielt sich auch wenig mit ihr. Irre ich nicht, so war es der nämliche Abend, wo Zelter zugegen war; indessen mag es auch ein anderer gewesen sein. Was ich nachmals durch dritte Hand von den geheimen Unterhandlungen hörte, die beim Hinausrufen Goethes gepflogen wurden, war seltsamster Art. Frau v. Arnim war in der ernstesten Spannung mit Goethe; sie hatte ihn durch diesen Besuch nur versöhnen wollen. Er dagegen mochte sie gar nicht in seinem Hause sehen, und die Zulassung war nur in einem Augenblick erwirkt worden, wo sie ihn überrascht hatte.1
1 Kellstab's weitere Erzählung von einem Besuch der Mara war, als voraussetzlich völlig auf Irrthum beruhend, auszulassen.[135]
784.*
1821, 4. November.
Jetzt hört alle auf! Heute ist Dienstag. Sonntag kam die Sonne von Weimar, Goethe, an. Am Sonntag gingen wir [Felix und Zelter] in die Kirche .... Nachher ging ich nach dem »Elefanten«, wo ich Lukas Cranach's Haus zeichnete. Nach zwei Stunden[135] kam Professor Zelter: Goethe ist da! Der alte Herr ist da! Gleich waren wir die Treppe hinunter in Goethes Haus. Er war im Garten und er kam eben um eine Ecke herum; ist dies nicht sonderbar, lieber Vater! ebenso ging es auch Dir. Er ist sehr freundlich, doch alle Bildnisse von ihm finde ich nicht ähnlich. – Er sah sich seine Sammlung von Versteinerungen an, welche der Sohn geordnet, und sagte immer: »Hm! Hm! Ich bin recht zufrieden.« Nachher ging ich noch eine halbe Stunde im Garten mit ihm und Professor Zelter. Dann zu Tisch. Man hält ihn nicht für einen Dreiundsiebziger, sondern für einen Funfziger. Nach Tisch bat sich Fräulein Ulrike, die Schwester der Frau v. Goethe, einen Kuß aus, und ich machte es ebenso. Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des »Faust« und des »Werther« einen Kuß und jeden Nachmittag vom Vater und Freund Goethe zwei Küsse. Bedenkt! .... Nachmittags spielte ich Goethe über zwei Stunden vor, theils Fugen von Bach, theils phantasirte ich. Den Abend spielte man Whist, und Zelter, der zuerst mitspielte, sagte: »Whist heißt: Du sollst das Maul halten!« Ein Kraftausdruck! Den Abend aßen wir alle zusammen, auch sogar Goethe, der sonst niemals zu Abend ißt. Nun, meine liebe hustende Fanny! Gestern früh brachte ich Deine Lieder der Frau v. Goethe, die eine hübsche Stimme hat; sie wird sie dem alten Herrn vorsingen. Ich sagte es auch schon, daß Du sie gemacht hättest und fragte, ob er sie wohl[136] hören wollte. Er sagte: »Ja, ja! Sehr gerne!« Der Frau v. Goethe gefallen sie besonders. Ein gutes Omen. Heute oder morgen soll er sie hören.[137]
785.*
1821, kurz nach dem 4. November.
In den Gesellschaftszimmern Goethes befand sich ein vortrefflicher Streicher'scher Flügel, den ihm Kochlitz besorgt hatte. Dort fanden wir uns am Abend des Tages alle wieder zusammen; denn Goethe hatte eine größere Gesellschaft geladen, um seine Weimarischen Freunde, insbesondere die musikalischen, mit dem staunenswürdigen Talente des Kindes, von dem ihm Zelter den Tag über viel erzählt, auch früher schon manches geschrieben, bekannt zu machen. Unter den Geladenen befand sich auch der Weimarische Regierungsrath Schmidt, der, ein leidenschaftlicher Verehrer Beethoven's, dessen Sonaten sämmtlich mit Feuer und Fertigkeit spielte und sie zum größten Theil auswendig wußte; außerdem, wenn ich mich richtig erinnere, der Musikdirector Eberwein mit seiner Gattin, einer ausgezeichneten Sängerin, Herr v. Knebel, Froriep u. a.
Zelter war, als wir andern schon versammelt waren, noch nicht zugegen, wohl aber Felix Mendelssohn, der sich scherzend wie am Morgen mit den Damen des Hauses unterhielt. Zelter wohnte in einem der, an[137] den Gesellschaftssaal stoßenden Zimmer; von dorther trat er ein ..... Jetzt erst erschien Goethe selbst; er kam aus seinem Arbeitszimmer. Gewöhnlich pflegte er, wenigstens habe ich es so bemerkt, erst abzuwarten, daß die Gesellschaft versammelt sei, bevor er sich zeigte; so lange verwalteten sein Sohn und dessen Gattin die Pflichten der Wirthe auf die einnehmendste Art. – Eine gewisse Feierlichkeit war von dem Eintreten des Dichters in den Kreis seiner Gäste kaum zu trennen; denn fast immer befanden sich in demselben einige, die ihn zum ersten Mal sahen, oder ihm doch nur selten nahe getreten waren, und selbst für die, welche nähern oder nächsten Umgang mit ihm pflogen, blieb das Gefühl der Verehrung ihm gegenüber das vorherrschende. Sein ganzes Wesen prägte sich auch in der äußern Erscheinung so aus, daß diese Empfindung die erste, die überwiegende, die bleibende sein mußte. Sein ernster langsamer Gang, die kraftvollen Züge, welche vielmehr die Stärke, als die Schwäche des Alters ausdrückten, die hohe Stirn, das weiße, reiche Haar, endlich die tiefe Stimme und die langsame Redeweise – alles vereinigte sich gerade zu diesem Eindruck. Er stellte sich denn auch an diesem Abend her: eine plötzliche Stille trat ein, als der Dichtergreis die Thür öffnete; jedes Auge wandte sich zu ihm; er wurde mit stummer Verbeugung begrüßt. Sein »Guten Abend!« richtete sich an alle, doch vorzugsweise ging er auf Zelter zu und schüttelte ihm vertraulich die Hand. Es ist allbekannt,[138] daß beide auf dem brüderlichen Fuß des Du in der Unterredung standen. Felix Mendelssohn schaute mit blitzenden Augen zu dem schneeigen Haupt des hohen Dichters hinauf; dieser aber nahm ihn mit beiden Händen freundlich beim Kopf und sagte: »Jetzt sollst Du uns auch etwas vorspielen!« Zelter nickte sein Ja dazu.
Goethe trat nun zu uns andern. Eine kurze Unterredung bei der ersten Vorstellung abgerechnet, hatte ich [Kellstab] ihn – obgleich ich mich schon über zwei Monate in Weimar befand – noch nicht weiter gesehen ..... Nach einigen freundlichen Äußerungen gegen mich über die Beziehungen, in die ich zu seinem Sohne und seiner Schwiegertochter getreten, in deren Hause ich seither mehrfach aus- und eingegangen war, und wo namentlich Musik – Frau v. Goethe sang sehr angenehm – uns öfters beschäftigt hatte, lenkte der Dichter das Wort auf Felix Mendelssohn: »Mein Freund Zelter hat mir da seinen kleinen Schüler mitgebracht, den Sie gewiß schon kennen.« Ich bejahte es; Goethe fuhr fort: »Von seinen musikalischen Anlagen soll er uns erst eine Probe geben, aber auch nach jeder andern Seite ist er außerordentlich begabt. Man hat die Lehre von den Temperamenten: jeder Mensch trägt alle vier in sich, nur in verschiedenen Mischungsverhältnissen; bei diesem Knaben würde ich annehmen, daß er vom Phlegma das irgend möglichste Minimum, von dem Gegensatz das Maximum besitze.«
[139] Es gehört nicht hierher, wäre mir auch kaum möglich, das fernere Gespräch, welches sich hieran knüpfte, genauer zu entwickeln. Der Flügel war geöffnet worden, die Lichte auf das Pult gestellt. Felix Mendelssohn sollte spielen. Er fragte Zelter, gegen den er durchaus kindliche Hingebung und Vertrauen zeigte: »Was soll ich spielen?« »Nun, was Du kannst!« antwortete dieser in dem obenhin streifenden Tone, dessen sich alle erinnern werden, die ihn näher gekannt; »was Dir nicht zu schwer ist.« .... Es wurde endlich festgesetzt, daß er frei phantasiren solle und er bat Zelter um ein Thema. »Kennst Du das Lied: Ich träumte einst von Hannchen etc. ?« fragte ihn dieser. (Diese Worte sind nicht die richtigen; ich habe das Lied musikalisch, wie seinen Wortlaut vergessen; doch war dies ungefähr der Sinn der ersten Zeile...) Felix verneinte. »So will ich es Dir einmal vorspielen.«
Zelter setzte sich an den Flügel und spielte mit seinen steifen Händen (er hatte mehre gelähmte Finger) ein sehr einfaches Lied in G-Dur in Triolenbewegung .... Felix spielte es einmal ganz nach und brachte dann, indem er die Triolenfigur in beiden Händen unisono einigemal übte, gewissermaßen seine Finger in das Geleise der Hauptfigur, damit sie sich ganz unwillkürlich darin bewegen möchten. Jetzt begann er, aber sogleich im wildesten Allegro. Aus der sanften Melodie wurde eine aufbrausende Figur, die er bald im Baß, bald in der Oberstimme nahm, sie mit schönen Gegensätzen[140] durchführte, genug: eine im feurigsten Fluß fortströmende Phantasie gab ..... Mit einem ihm schon damals eigenen richtigen Takt dehnte der junge Künstler sein Spiel nicht so lange aus; desto größer war der Eindruck gewesen. Ein überraschtes gefesseltes Schweigen herrschte, als er die Hände nach einem energisch aufschnellenden Schlußaccord von der Claviatur nahm und sie nunmehr ruhen ließ.
Zelter war der erste, der die Stille in seiner schon oben erwähnten fahrlässig humoristischen Weise unterbrach, indem er laut sagte: »Na, Du hast wohl vom Kobold oder Drachen geträumt! Das ging ja über Stock und Block!« ..... Das Spiel hatte, wie es nicht anders sein konnte, die höchste Bewunderung aller erregt, und namentlich war Goethe selbst von wärmster Freude erfüllt. Er herzte den kleinen Künstler, in dessen kindlichen Zügen sich Glück, Stolz und Verlegenheit zugleich malten, indem er ihm den Kopf zwischen die Hände nahm, ihn freundlich derb streichelte und scherzend sprach: »Aber damit kommst Du nicht durch! Du mußt noch mehr spielen, bevor wir Dich ganz anerkennen.« – »Was soll ich denn spielen« – fragte Felix – »Herr Professor?« – er pflegte Zelter bei diesem Titel zu nennen – »was soll ich noch spielen?«
.... Goethe war ein großer Freund der Bachschen Fugen;... es wurde also auch Felix Mendelssohn die Aufforderung gestellt, eine Fuge des hohen[141] Altmeisters zu spielen. Zelter wählte sie aus dem Notenheft der Bach'schen Fugen, welches herbeigebracht wurde, und der Knabe spielte dieselbe völlig unvorbereitet mit vollendeter Sicherheit ..... Goethes Freude wuchs bei dem erstaunungswürdigen Spiel des Knaben. Unter anderm forderte er Felix auf, ihm eine Menuett zu spielen. »Soll ich Ihnen die schönste, die es in der ganzen Welt giebt, spielen?« – »Nun, und welche wäre das?« – Er spielte die Menuett aus »Don Juan«. Goethe blieb fortdauernd lauschend am Instrument stehen; die Freude glänzte in seinen Zügen. Er wünschte nach der Menuett auch die Ouverture der Oper; doch diese schlug der Spieler rund ab mit der Behauptung, sie lasse sich nicht spielen, wie sie geschrieben stehe, und abändern dürfe man nichts daran. Dagegen erbot er sich die Ouverture zum »Figaro« zu spielen. Er begann sie mit einer Leichtigkeit der Hand, mit einer Sicherheit, Rundung und Klarheit in den Passagen, wie ich sie nie wieder gehört ..... Goethe wurde immer heiterer, immer freundlicher, ja, er trieb Scherz und Neckerei mit dem geist- und lebensvollen Knaben. »Bis jetzt« – sprach er – »hast Du mir nur Stücke gespielt, die Du kanntest, jetzt wollen wir einmal sehen, ob Du auch etwas spielen kannst, was Du noch nicht kennst. Ich werde Dich einmal auf die Probe stellen.«
Er ging hinaus, ..... kam nach einigen Minuten wieder in's Zimmer und hatte mehrere Blätter geschriebener[142] Noten mitgebracht. »Da habe ich einiges aus meiner Manuscriptensammlung geholt; nun wollen wir Dich prüfen. Wirst Du das hier spielen können?« Er legte ein Blatt mit klar, aber klein geschriebenen Noten auf das Pult; es war Mozart's Handschrift .... Der junge Künstler spielte mit vollster Sicherheit, ohne nur den kleinsten Fehler zu machen, das nicht leicht zu lesende Manuscript vom Blatt; .... das Stück klang, als wisse es der Spieler seit Jahr und Tag auswendig, so sicher, so klar, so abgewogen im Vortrag.
Goethe blieb, da alles Beifall spendete, bei seinem heiteren Ton. »Das ist noch nichts!« rief er; »das könnten auch andere lesen. Jetzt will ich Dir aber etwas geben, dabei wirst Du stecken bleiben. Nun gieb acht!« Mit diesem scherzenden Ton langte er ein anderes Blatt hervor und legte es auf's Pult. Das sah in der That sehr seltsam aus: man wußte kaum, ob es Noten waren, oder nur ein liniirtes, mit Dinte bespritztes, an unzähligen Stellen verwischtes Blatt. Felix Mendelssohn lachte verwundert laut auf. »›Wie ist das geschrieben! Wie Soll man das lesen?‹« rief er aus. Doch plötzlich wurde er ernsthaft; denn indem Goethe die Frage aussprach: »Nun rathe einmal, wer das geschrieben?« rief Zelter schon:... »Das hat ja Beethoven geschrieben! Der schreibt immer wie mit einem Besenstiel und mit dem Ärmel über die frischen Noten gewischt. Ich habe viele Manuscripte von ihm: die sind leicht zu kennen.« .... Bei diesem Namen[143] aber war... Felix Mendelssohn plötzlich ernsthaft geworden, mehr als ernsthaft; ein heiliges Staunen verrieth sich in seinen Zügen. Goethe betrachtete ihn mit forschenden, freudestrahlenden Blicken. Der Knabe hielt das Auge unverwandt auf das Manuscript gespannt und leuchtende Überraschung überflog seine Züge, wie sich aus dem Chaos ausgestrichener, frisch verwischter, über- und zwischengeschriebener Noten und Worte ein hoher Gedanke der Schönheit, der tiefen, edeln Erfindung hervorrang. Das alles währte aber nur Secunden; denn Goethe wollte die Prüfung scharf stellen, dem Spieler keine Zeit zur Vorbereitung lassen. »Siehst Du!« rief er; »sagt' ich's Dir nicht, Du würdest stecken bleiben? Jetzt Versuche! Zeige, was Du kannst!«
Felix begann sofort zu spielen. Es war ein einfaches Lied; deutlich geschrieben, eine kinderleichte, gar keine Aufgabe, selbst für einen mittlern Spieler, so aber gehörte doch dazu, um aus den zehn und zwanzig ausgestrichenen, halb und ganz verwischten Noten und Stellen die gültigen herauszufinden, eine Schnelligkeit und Sicherheit des Überblicks, wie sie wenige erringen werden .... Einmal spielte er es so durch, im Allgemeinen richtig, aber doch einzeln innehaltend, manchen Fehlgriff unter einem raschen »Nein, so!« verbessernd; dann rief er: »Jetzt will ich es Ihnen vorspielen!« Und dieses zweite Mal fehlte auch nicht eine Note; die Singstimme sang er theils, theils spielte er sie[144] mit ..... Mit diesem Probestück ließ es Goethe genug sein. Daß der junge Spieler wiederum das reichste Lob erntete, welches sich bei Goethe in den neckenden Scherz versteckte: hier habe er doch gestockt und sei nicht ganz sicher gewesen – darf ich kaum hinzufügen.
.... Der Dichtergreis weissagte dem musikalischen Wunderknaben die größte Zukunft; er sprach mit vollem, warmem Glauben davon zu mir, an den er sich in dieser Beziehung öfters wandte. Seine ächte künstlerische Freude über die vielverheißende Erscheinung loderte immer wieder in frischen Flammen auf. Entschieden war der Knabe sein Liebling geworden.[145]
786.*
1821, nach 6. November.
Es war Anfangs November im Jahre 1821, als drei Mitglieder der Weimarischen Capelle, darunter auch der Schreiber dieser Zeilen [Lobe], zu dem Herrn Geheimen Rath v. Goethe bestellt, von dem Diener in das bekannte Zimmer, vorn heraus nach dem sogenannten Plan liegend, eingeführt wurden. Drei Pulte standen an der Seite des geöffneten Flügels für uns bereit. Auf demselben lag ein Convolut geschriebener Notenhefte. Neugierig, wie ich in Sachen der Musik immer war und noch bin, blätterte ich darin[145] und las: Studien im doppelten Contrapunkt; ein anderes Heft war überschrieben: Fugen; ein drittes: Kanons. Dann kam: Quartett für Clavier mit Begleitung von Violine, Viola und Cello. Auf allen Heften stand der Name Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die Noten waren mit fester zierlicher Hand geschrieben, und, soviel ich bei schnellem Überblick bemerken konnte, zeigte die Mache einen tüchtig ausgebildeten Künstler. Der Name Mendelssohn als Musiker war uns unbekannt.
Während wir unsere Instrumente in die Hand nahmen und vorläufig in Stimmung mit dem Clavier setzten, trat ein langer Mann herein: .... es war der Professor Zelter, der bekannte Director der Berliner Singakademie. Er begrüßte uns freundlich und mich als »alten Bekannten«. – »Ich bin Vorausgegangen, meine Herren,« begann er dann, »um vorläufig eine Bitte an Sie zu richten. Sie werden einen zwölfjährigen Knaben kennen lernen, meinen Schüler, Felix Mendelssohn-Bartholdy. Seine Fertigkeit als Clavierspieler, mehr wohl noch sein Compositionstalent werden Sie wahrscheinlich in einigen Enthusiasmus versetzen. Nun ist aber der Junge eine eigene Natur: alles Dilettantengejauchze um ihn herum berührt ihn nicht, auf das Urtheil der Musiker aber lauscht er begierig, nimmt jedes für blanke ächte Münze; denn der junge Kiekindiewelt ist natürlich noch zu unerfahren, um wohlwollende Aufmunterung von verdienter Anerkennung immer gehörig[146] unterscheiden zu können. Darum, meine Herren, wenn Sie zu einem Lobgesang angeregt werden sollten, was ich immer zugleich wünsche und fürchte, so führen Sie ihn in mäßigem Tempo, nicht zu geräuschvoll instrumentirt und in C-dur, der ungefärbtesten Tonart, auf. Bisher habe ich ihn vor Eitelkeit und Selbstüberschätzung bewahrt, diesen vermaledeiten Feinden alles künstlerischen Fortschreitens.«
Ehe wir noch etwas auf diese einigermaßen sonderbare Anrede erwidern konnten, kam er hereingesprungen, der Felix ..... Mit Felix war auch Goethe eingetreten, der unsre ehrfurchtsvolle Verbeugung freundlich grüßend erwiederte. »Mein Freund« – sagte er auf Zelter deutend – »hat da einen kleinen Berliner mitgebracht, der uns dieser Tage große Überraschung als Virtuose bereitete; nun sollen wir ihn auch noch als Componisten kennen lernen, wozu ich Ihre Beihülfe erbitte. So laß uns denn hören, mein Kind, was Dein junger Kopf producirt hat.« Bei diesen Worten strich Goethe dem Knaben über die langen Locken. – Alsobald lief dieser zu den Noten, legte die Stimmen für uns auf die Pulte, die Principalstimme auf den Flügel und nahm eilig Platz auf dem Sessel. Zelter stellte sich hinter Felix zum Umwenden, Goethe einige Schritte seitwärts, die Hand auf den Rücken. Der kleine Componist warf einen feurigen Blick auf uns, wir legten die Bogen an, eine Bewegung von ihm und das Spiel begann.
[147] .... Goethe hörte alle Sätze mit der gespanntesten Aufmerksamkeit an, ohne besondere Bemerkungen zu machen, als etwa nach dem einen Satz ein »Gut!«, nach dem andern ein »Brav!«, welches er mit einem freundlich beifälligen Nicken begleitete. Zelter's Ermahnung eingedenk, zeigten auch wir dem Knaben, dessen Antlitz im Verfolg des Vortrags sich immer höher röthete, unsern Beifall nur durch erfreute Mienen. Als der letzte Satz zu Ende, sprang Felix von seinem Sitz auf und blickte alle der Reihe nach mit fragendem Blick an; er mochte nun etwas über sein Werk hören wollen. Goethe aber nahm, wahrscheinlich von Zelter gestimmt, das Wort und sagte zu Felix: »Recht brav, mein Sohn! Die Mienen dieser Herren« – auf uns deutend – »sprechen deutlich genug aus, daß ihnen Dein Product recht gut gefallen hat. Nun geh' hinunter in den Garten – man erwartet Dich – und erhole und kühle Dich ab; denn Du brennst ja lichterloh.« Ohne Weiteres sprang der Knabe zur Thüre hinaus.
Als wir unsere Blicke fragend auf Goethe richteten, ob wir entlassen seien, sagte er: »Verweilen Sie noch ein wenig, meine Herren! Mein Freund und ich wünschen Ihre Ansicht über des Knaben Composition zu vernehmen.« Es entspann sich nun eine längere Unterhaltung ..... Goethe bedauerte, daß wir den Kleinen heute nur im Quartettspiel kennen gelernt hätten. »Die musikalischen Wunderkinder« – sagte[148] er – »sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine Seltenheit mehr, was aber dieser kleine Mann im Phantasiren und Primavistaspielen vermag, grenzt an's Wunderbare, und ich habe es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten.« – »Und Du hast doch den Mozart in seinem siebenten Jahre in Frankfurt mit angehört,« sagte Zelter. »Ja!« erwiderte Goethe, »da mals zählte ich selbst erst zwölf Jahre und war allerdings wie alle Welt höchlich erstaunt über die außerordentliche Fertigkeit desselben; was aber Dein Schüler jetzt schon leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten, wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes.« – »Allerdings,« sagte Zelter lächelnd, »was das Fingergeschick betrifft, so spielt der Felix die Concerte, mit denen Mozart die Welt seiner Zeit in Erstaunen setzte, als leichte Spielerei frisch vom Blatte weg, ohne eine einzige Note sitzen zu lassen. Aber das können jetzt viele andere noch. Bei mir handelt sich's um das schaffende Talent des Knaben, und« – sich an uns wendend – »was meinen die Herren zu seiner Quartettcomposition ?«
»Es wurde von unserer Seite mit voller Überzeugung ausgesprochen, daß Felix viel selbstständigere Gedanken producire, als Mozart in denselben Jahren, der damals noch nichts anderes, als gewandte Nachahmungen des Vorhandenen geliefert habe. Hiernach sollte man schließen dürfen, daß die Welt mit diesem[149] Knaben einen zweiten Mozart in verbesserter Auflage erhalten werde und um so sicherer, als er von blühender Gesundheit strotze und alle äußeren Umstände ihm so günstig wären. – ›Möchte es so sein!‹ sagte Goethe. ›Wer aber kann sagen, wie ein Geist sich in der Folge entwickeln mag? Wir haben schon so man ches vielversprechende Talent falsche Wege einschlagen und unsere großen Erwartungen täuschen sehen. Indeß davor wird diesen jungen Geist der Lehrer bewahren, den ihm das gute Glück in Zelter zugefügt hat.‹ – ›Ich nehme es wohl ernst mit dem Jungen und halte ihn neben seinen eigenen freien Arbeiten immer bei der Stange der strengen contrapunctischen Studien; allein wie lange kann das noch dauern, so entläuft er meiner Zucht, – ich kann ihn ja eigentlich jetzt schon nichts Wesentliches mehr lehren – und einmal frei, wird sich's erst zeigen, wohin seine eigentliche Richtung geht.‹ – ›Ja, und überhaupt‹ – sagte Goethe-›ist es mit dem Einfluß des Lehrers eine problematische Sache. Das, was den Künstler groß und eigenthümlich macht, kann er nur aus sich selbst schaffen. Welchen Lehrern danken denn Raphael, Michel Angelo, Haydn, Mozart und alle ausgezeichneten Meister ihre unsterblichen Schöpfungen?‹ ›Freilich!‹ bemerkte Zelter; ›es haben viele angefangen wie Mozart, aber noch ist ihm keiner nachgekommen.‹«[150]
787.*
1821, 10. November.
Alle Nachmittage macht Goethe das Streicherische Instrument mit den Worten auf: »Ich habe Dich [Felix] heute noch gar nicht gehört: mache mir ein wenig Lärm vor!« Und dann pflegt er sich neben mich zu setzen, und wenn ich fertig bin (ich phantasire gewöhnlich), so bitte ich mir einen Kuß aus oder nehme mir einen. Von seiner Güte und Freundlichkeit macht Ihr Euch gar keinen Begriff, ebenso von dem Reichthum, den der Polarstern der Poeten an Mineralien, Büsten, Kupferstichen, kleinen Statuen, großen Handzeichnungen hat. Daß seine Figur imposant ist, kann ich nicht finden; er ist eben nicht viel größer, als der Vater; doch seine Haltung, seine Sprache, sein Name, die sind imposant. Einen ungeheuren Klang der Stimme hat er, und schreien kann er wie 10000 Streiter. Sein Haar ist noch nicht weiß, sein Gang ist fest, seine Rede sanft. Dienstag wollte Zelter nach Jena und von da nach Leipzig abreisen. Sonnabend war Adele Schopenhauer, die Tochter, bei uns und wider Gewohnheit blieb Goethe den ganzen Abend. Die Rede kam auf unsere Abreise und Adele beschloß, daß wir alle hingehn und uns Professor Zelter zu Füßen werfen sollten und um ein paar Tage Aufschub flehen. Er wurde in die Stube geschleppt und nun brach Goethe mit[151] seiner Donnerstimme los, schalt Professor Zelter, daß er uns mit nach dem alten Nest nehmen wollte, befahl ihm still zu schweigen, ohne Widerrede zu gehorchen, uns hier zu lassen, allein nach Jena zu gehn und wiederzukommen, und schloß ihn so von allen Seiten ein, daß er alles nach Goethes Willen thun wird. Nun wurde Goethe von allen bestürmt, man küßte ihm Mund und Hand, und wer da nicht ankommen konnte, der streichelte ihn und küßte ihm die Schultern, und wäre er nicht zu Hause gewesen, ich glaube, wir hätten ihn zu Hause begleitet wie das römische Volk den Cicero nach der ersten Catilinarischen Rede.
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Nicht wahr: wenn Goethe zu mir sagt: »Mein Kleiner, morgen ist Gesellschaft, da mußt auch Du uns vorspielen!« da kann ich nicht sagen: Nein? »Ach, wer bringt die schönen Tage« [componirt von Fanny Mendelssohn] hat Goethe gehört und sagte zu mir: »Höre mal! das Lied ist sehr hübsch.«[152]
1700.*
1821, Ende.
Von einem Freunde höre ich soeben, daß Goethe mit der Arbeit des Herrn Döring recht wohl zufrieden sein soll, indem er manches darin gefunden hätte, was ihm selbst von seinem Freunde unbekannt gewesen wäre. Er meint: andere, die es besser wüßten, könnten es wieder besser schreiben, indeß sei es doch Verdienst, von einem Manne Data der Welt überliefert zu haben, die sonst unbeachtet möchten geblieben sein.[105]
1701.*
Vor 1822.
So geht es auch mit dem literarischen Ruhme, den Goethe nicht mit Unrecht höchstens auf fünfzig Jahre hinaus setzt.[105]
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