1822

[106] 1702.*


1822, 8. Mai.


Mit Friedrich von Müller

Von 8 bis 9 1/2 bei Goethe. Politica. Schubarth. Eschwege. Sylla, die den drei Einheiten. Im Ganzen sei es einerlei, wo und wie man Unwahrscheinlichkeiten zugebe; zugegeben müsse einmal werden, wenn man ein Trauerspiel überhaupt wolle.[106]


1703.*


1822, 15. Mai


Mit Friedrich von Müller

Von 8-10 Uhr war ich bei Goethe. Das Gespräch drehte sich um religiöse Gegenstände und war durch Thiemens Geschichte veranlaßt. »Den Beweis der Unsterblichkeit« – sagte Goethe – »muß jeder in sich selbst tragen, an andere kann er nicht gegeben werden. Wol ist alles in der Natur Wechsel, aber hinter dem Wechselnden ruht ein Ewiges.« Auch sprach er von der Ungewißheit der Geschichte und kam auf die vielen Hypothesen über das bekannte Taufbecken, von denen eine verwirrender als die andere sei. Um die Menschen aufzuregen, muß man ihnen nur einen kühnen Irrthum dreist hinwerfen. Ohne Poesie läßt sich nichts in der Welt wirken; Poesie aber ist Märchen.[106]


788.*


1822, 22. Mai.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Ich ging Nachmittags zu ihm [Goethe] und traf ihn beschäftigt mit Riemer, die Holzdrücke des Triumphzugs des Mantegna zu ordnen, über welchen er einen Aufsatz drucken lassen will. Er erzählte mir von[152] Coudray's Mittheilungen über die Pläne zu den neuen Schulgebäuden hier und zu Eisenach, lebhaft theilnehmend, als an einem höchst würdigen, sinnvollen Unternehmen.

»Habt nur Glauben daran, so wird das Geld dazu nicht fehlen. Wie wäre Francke in Halle zu seinem Maisenhause, wie Falk hier an seinem jetzigen Gebäude gekommen ohne Glauben? Haben sie nicht aus allen Ecken dazu zusammen geklaubt?«

Bald entspann sich großer Meinungsstreit über die griechischen Angelegenheiten.

Er führte gegen mich die Sätze durch, daß der Krieg nur den Untergang der einzelnen Christen in der Türkei beschleunigen werde, daß Konstantinopel doch nicht zerstört, keinem unserer Potentaten aber ohne Gefahr, dessen Weltherrschaft dadurch zu begründen, überlassen werden könne.

Wollte man aber einen minder mächtigen Staat oder eine Republik dort gründen, so würden die größeren Mächte dort fortwährend um Steigerung ihres Einflusses sich bemühen, und eine ebenso unselige Gewaltenzersplitterung hervortreten, als z.B. jetzt zu Mainz.

Dabei erzählte er die merkwürdige Expedition des Dogen Dandolo von Venedig zu Anfang des 13. Jahrhunderts nach Konstantinopel mit französischen Rittern, die es auch wirklich eroberten.

v. Henning, der ehemalige Referendar zu Erfurt,[153] hatte Goethen von Berlin gemeldet, daß er so eben im großen akademischen Hörsale über seine Farbenlehre zu lesen anfange, was Goethen große Freude macht, und wozu er selbst einigen Apparat mitgetheilt hat.

Auf mein Verwundern, daß Henning als Jurist sich dieser Wissenschaft jetzt widme, sagte er ganz lakonisch: »Er hat eben aus dem Studium der Gesetze nichts weiter als die Einsicht in den üblen Zustand der Menschen gewinnen können, und sich darum zur Natur gewendet.«

Des Großherzogs freundlichen Besuch diesen Morgen rühmte Goethe dankbarlichst; der Fürst habe vieles schon Geschehene hinsichtlich auf die Jenaischen Museen belobt, anderes noch erst zu Unternehmende gebilligt, manches Neue angeregt, sich durchgehends gnädig, förderlich, innerlich zufrieden erwiesen.

Wegen des gewünschten Portraits von Kolbe für die Jenaische Bibliothek sei es jetzt klüger zu pausiren; gegen ein Vorurtheil müsse man nie auf der Stelle ankämpfen; mit der Zeit werde sich Alles leichter machen. Er bat mich mit Kolben im Nebenzimmer wegen Ankaufs seines jetzt in der Arbeit begriffenen Portraits zu sprechen, was denn auch gleich geschah.

Mit Freude vernahm ich, daß er mir den neuen Band aus seinem Leben, den Feldzug von 1792 und 1793 betreffend, schenken wolle; »der Großherzog ist recht zufrieden damit«; sagte er; »es handelt sich zwar nicht geradezu um ihn, aber so oft er vorkommt, so fällt[154] immer, wie aus einem Spiegel, ein interessantes Bild von ihm zurück.«

So hatten wir etwa bis 7 Uhr geschwatzt; Riemer war eben geschieden, als Gräfin Julie v. Egloffstein sich anmelden ließ.

»Ja, wenn sie es auf Gefahr der bösen Gesellschaft, in der sie mich findet, wagen will; doch kann ich es ihr freilich nicht zumuthen,« ließ er ironisch antworten, und empfing sie mit tausend Scherzen und Neckereien. »Es geht mir schlecht« sagte Goethe, »denn ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt.«[155]


1704.*


1822, 22. Mai.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzung zu Nr. 788. Im Anschluß an »... zur Natur gewendet.«:]


Sehr geistreich war Goethe's Bemerkung bei Gelegenheit der fatalen Angelegenheit des Diaconus Thieme in Ilmenau, daß ein Fürst, der lange regiere, so vieles sich von selbst wiederherstellen sehe, daß nothwendig dadurch eine mindere Regsamkeit bei Anwendung drohender Übel entstehe.[107]


789.*


1822, 11. Juni.


Mit Friedrich von Müller

und August von Goethe

Gegen 7 Uhr Abends ging ich zu ihm, und zwar zuerst in den Garten. Ich traf zuerst den Sohn, der sich in einer Laube mit seinem kleinen Walther behaglich niedergelassen hatte. Bald erschien auf dem grünumrankten Balkon der alte Herr, und ließ es sich gefallen herabzusteigen, da er wohl merkte, daß es mir im Garten besser gefallen möchte. Wir wandelten erst auf und nieder, von meinem Reiseprojecte an den Rhein sprechend, dann von dem wunderschönen Sommer, den Goethe nur in Rom noch anhaltender erlebt zu haben sich erinnerte. Als wir uns auf die freundliche Bank, nah am Gartenhause, niederließen, wo wir einst[155] vor zwei Jahren, am Vorabend einer Abreise Goethes nach Böhmen mit Line Egloffstein so traulich gesessen hatten, kam das Gespräch gar bald auf Howard den Quäker und auf seine neueste Schrift über die Londoner Witterung, die Goethe ungemein lobte. »Sein von ihm selbst aufgesetztes Leben habe ich für die Morphologie übersetzt; er spricht darin lange nicht so duckmäuserig als ein Herrnhuter, sondern heiter und froh. Christ, wie er einmal ist, lebt und webt er ganz in dieser Lehre, knüpft alle seine Hoffnungen für die Zukunft und für diese Welt hieran, und das Alles so folgerecht, so friedlich, so verständig, daß man, während man ihn liest, wohl gleichen Glauben haben zu können wünschen möchte; wiewohl auch in der That viel Wahres in dem liegt, was er sagt. Er will, die Nationen sollen sich wie die Glieder einer Gemeinde betrachten, sich wechselseits anerkennen.«

»Ich habe,« fügte Goethe hinzu, »kürzlich einem Freunde geschrieben: Die Nationen sind an sich wohl einig über und unter einander, aber uneins in ihrem eignen Körper. Andere mögen das anders ausdrücken; ich habe mir den Spaß gemacht, es so zu geben.« Wir wandelten nun wieder umher, ärgerlich über den dichten Rauch, den uns ein plötzlicher Westwind von den Brauhäusern her zusandte. – Bezüglich auf Walter Scott sagte Goethe: »Ein Buch, das große Wirkung gehabt, kann eigentlich gar nicht mehr beurtheilt werden. Die Kritik ist überhaupt eine bloße[156] Angewohnheit der Modernen. Was will das heißen? Man lese ein Buch und lasse es auf sich einwirken, gebe sich dieser Einwirkung hin, so wird man zum richtigen Urtheil darüber kommen.«

Die von mir aus Wettin mitgebrachten Mineralien gaben zu geognostischen Gesprächen Anlaß. »Ich habe,« sagte er, »gar keine Meinung mehr, seit die meisten Meinungen der Gelehrten so absurd in dieser Materie sind: ewige Opposition, ewiges nicht Anerkennen dessen, was mühsam erforscht ist; jede Anschauung will man sogleich tödten und in bloße Begriffe auflösen. Ach, die Menschen sind gar zu albern, niederträchtig und methodisch absurd; man muß so lange leben als ich, um sie ganz verachten zu lernen.« Roscoe hat sein neues Werk »Illustrations«1 Goethen überschickt. Lady Morgan ist ihm verhaßt. – »Die Constitutionen sind wie die Kuhpocken, sie führen über einmal grassirende Krankheiten leichter hinweg, wenn man sie zeitig einimpft.« Ich erzählte aus Aristophanes' Fröschen und tadelte seinen übertriebenen Cynismus. Goethe meinte, man müsse ihn wie den Casperle betrachten und läßlich nehmen. Meyers Abreise nach Wiesbaden gab Goethen Anlaß, großen Schmerz über wankende Gesundheit dieses alten Freundes kund zu geben. »Es ist entsetzlich für solche tüchtige, treffliche Männer besorgt sein zu müssen, und die Esperanza setzt sich nur auf den Rand der Urne.«

[157] In der letzten halben Stunde ward Goethe immer in sich gekehrter, abbrechender, er schien körperlich zu leiden, der besorgte Sohn mahnte mit Recht an den Rückzug und so schied ich um 8 1/2 Uhr ganz bedenklich und betrübt.


1 Mrs. Roscoe, Floral Illustrations.[158]


790.*


1822, 18. Juni.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Der [in Dölitz bei Eger gefundene] Mammuthszahn machte auf Goethe einen besonderen Eindruck. Der Schmelz des Zahnes war so frisch, als ob er soeben aus der Kinnlade des lebenden Thieres gerissen worden wäre. Ich erwähnte, daß, weil ich zum sammelnden Mitgliede des böhmischen Museums ernannt sei, ich diesem den Zahn übermitteln werde.

»Seien Sie mit der Absendung nicht eilig,« sagte Goethe; »wir müssen dem Zahne noch etwas abgewinnen; verwahren Sie ihn bis zu meiner Rückkunft von Marienbad,« – was ich zusagte.

Er blätterte wohlgefällig in meinem Manuscripte über die Sitten der Egerländer, und bezeigte Freude über die colorirten Zeichnungen. Auch ersuchte er mich, für ihn Wein in Karlsbad zu besorgen, und reiste nach Marienbad ab.[158]


791.*


1822, 30. Juni.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Goethe zeigte Freude über meine Ankunft [in Marienbad] und nahm mein Manuscript mit den Worten: »Jetzt habe ich Zeit, es so durchzulesen, daß ich mit Ihnen hierüber in Eger gründlicher sprechen und meine Ansicht mittheilen kann. Ihre Arbeit interessirt mich sehr. Sie verweilen doch bei uns?«

Ich erwiederte, daß meine Geschäfte mir dieses große Vergnügen rauben, indem ich heute wieder in Eger eintreffen müsse.

»Seien Sie mein Gast« sagte Goethe, »ich habe den Professor Zauper aus Pilsen kennen gelernt. Der Mann hat Kenntnisse, er gefällt mir sehr wohl, ich habe ihm auch Aufmunterndes gesagt.«

Ich drückte meine Bewunderung der aus der Umgegend von Marienbad gesammelten Mineralien aus.

Darauf Goethe: »Nicht wahr, mein Stadelmann hat schon viel Gutes zusammengeschleppt, die Gegend ist sehr interessant, auch ist er am Fundorte der Augiten gewesen, und wie Sie sehen, habe ich eine schöne Suite ihres Vorkommens am Wolfsberge beisammen. Es gibt viel zu ordnen und zu schreiben, das wollen wir für Eger vorbehalten, und Sie, Freund, dabei in Anspruch nehmen.«

Sowohl beim Spaziergange als bei der Tafel war Goethe sehr heiter und wir mit ihm.[159]


792.*


1822, 24. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Goethe kam Nachmittags um 4 Uhr in Eger an. Der Bediente Stadelmann suchte mich auf und fand mich am Egerfluße mit der aus demselben zu Tage geförderten Heideneiche beschäftigt.

– – – – – – – – – – – – – – –

Ich traf Anordnung wegen Bewachung des Eichenstammes, konnte aber der Einladung Goethes, ihn zu besuchen, erst um acht Uhr entsprechen. Der Empfang war wie gewöhnlich sehr freundlich.

»Mein Stadelmann,« sagte Goethe »hat mir Ihre heroische Unternehmung erzählt, was hat Sie dazu verleitet? was halten Sie von dieser Eiche?«

Ich erzählte Veranlassung und Hergang, und fügte bei, daß mir diese Eiche sehr problematisch bleibe; denn ich wisse nicht zu erklären, auf welche Art die muschelförmige Aushöhlung auf der Oberfläche des so harten Stammes, dann die in den feinsten Zwischenräumen befindlichen sehr dünnen eisenartigen Blättchen entstanden seien.

Goethe erwiederte: »Morgen, wenn Sie Zeit haben, wollen wir sehen, was wir dieser Heideneiche abgewinnen können.«[160]


793.*


1822, 25. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Goethe fuhr allein zur Eiche, weil ich nach Oberlohma verreisen mußte, und erst gegen Abend zurückkommen konnte.

Bei meinem Eintritte sagte Goethe: »Ich habe die wundersame Eiche besichtigt, und ich wünschte, daß sie bis zur Ankunft des Grafen Sternberg unberührt liegen bliebe; denn ich bin mit mir selbst noch nicht einig. Hier haben Sie einen an Sie gerichteten Brief vom Grafen; er will den 30. kommen.«

Graf Sternberg avisirte mich, daß auch Dr. Pohl der Brasilianer und der berühmte Chemiker Berzelius bei Goethe ihre Aufwartung machen würden. Goethe sah sehr gut aus, war heiter, weßwegen ich sagte, Marienbad habe ihm vortrefflich angeschlagen. Er aber erwiederte:

»Ich befinde mich sehr wohl; es mag sein, daß, obschon man 2000 Fuß1 über der Meeresfläche reinere Luft einathmet, doch die fortdauernde Bewegung und die Reise mich in diesen Zustand versetzt haben. So gut ich dort die Anstalt getroffen habe, so dürfte den noch die Verordnung, welche fremden Ärzten in Badeörtern die Praxis untersagt, einen nachtheiligen Einfluß auf die böhmischen Bäder nehmen; denn der Kranke[161] schließt sich so gern an seinen Arzt an. Dr ..... [Struve?] in... [Dresden?] hatte alle Jahre gegen 1000 Stück Dukaten von Karlsbad weggeführt, und nun kurirt er mit künstlich erzeugten Mineralwässern. Die Natur hat uns Winke gegeben, diese müsse man befolgen, und die noch abgängigen Bestandtheile bei den Mineralwässern durch Kunst ergänzen. Es wird sich auch diese Ansicht wieder ändern, eben so wie man davon zurückkommen wird, daß man die Aufschriften bei den neuen Häusern mit lateinischen oder gothischen Buchstaben schreiben läßt, z.B. ›Zum weißen Schwan‹, ›Zum goldenen Lamm‹ u.s.w.: Denn es wird bald ein Hauseigenthümer von einem Künstler sich einen schönen Schwan, wie er aus gutgemachtem Schilf hervorkommt, als Aushängeschild malen lassen, und dies wird wieder Nachahmung finden; schlecht gemalte läßt man ohnedies nicht aushängen, und gut gemalte geben den Kutschern und Fremden schon von weitem einen Anhaltepunkt. Um mein Gedächtniß zu prüfen, bin ich ganz Karlsbad auf- und abgegangen, und es freut mich alle Aushängeschilder der Reihe nach recitiren zu können.«


1 Selbstverständlich nicht Klafter.[162]


794.*


1822, 26. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner u.a.

Um 2 Uhr des Nachmittags fuhren wir nach Pograth zu den Eisengruben, eine Stunde südlich von[162] Eger. Von da wurde ein seltener vorzüglicher Eisenstein mit weißem Überzuge, innen bläulich, dann in großen schweren Klumpen vereisendes Holz mitgenommen .....

Vom Ölberge ging Goethe zu Fuße nach den Thongruben hinab, weil ich ihn aufmerksam gemacht hatte, daß bloß der hier gefundene Thon zur Verfertigung der Flaschen tauge, in denen das Mineralwasser von Marienbad und Franzensbad versendet wird. Er erkundigte sich in den Thongruben über die Art der Flaschenfabrikation, und nahm von den verschiedenen Sorten Thon Stücke mit. Über die Entstehung des Thons äußerte er sich, daß derselbe wahrscheinlich von dem von den Gebirgen herabgeschwemmten verwitterten Thonschiefer herrühren dürfte, weil sich die Mächtigkeit dieses Thons nach der Lage der Berge richte, indem er am Fuße eine, aufwärts aber nur eine halbe Klafter tief liege.

Hierauf bestieg Goethe die Anhöhe, um den alten Thurm zu besichtigen, der von Weitem die Aufmerksamkeit auf sich zieht. »Die Bauart ist lobenswürdig«, sagte Goethe, »sie scheint in die Zeit der Römer oder Markomannen zu fallen; die Steine sind so gut untereinander verbunden, daß man auch auf der Nordwestseite keine Spur einer Zerstörung, oder Aushöhlung des Mergels wahrnehmen kann.«[163]


795.*


1822, 27. Juli.


Mit Karl Huß und Joseph Sebastion Grüner

Der Scharfrichter Huß... brachte vor Tisch einen sehr schönen Bleispath von Bleistadtl mit starken deutlichen Krystallen; es kommen dort besonders schöne krystallisirte Braunbleierze vor.

»Sie sollen hierüber gelobt werden, Herr Huß,« sagte Goethe, »wir wollen sehen, was für Sie wieder zu thun sei.«

Darauf Goethe zu mir: »Den Fundort des Mammuthszahns wünschte ich in Augenschein zu nehmen, könnten Sie mich nach Tische nach Dölitz begleiten?«

Ich bejahte die Frage mit Vergnügen, und gleich nach Tische wurde dahin gefahren. Von Dölitz aus erblickte man östlich Maria Kulm, nördlich Franzensbad, westlich den Kammerbühl, und südlich den Fundort der Heideneiche und die Stadt Eger, dann den Kranz der Gebirge, welche das Egerthal einschließen. Goethe betrachtete aufmerksam die ganze Gegend, dann fragte er mich, ob die durch das Thal getrennten Dörfer jenseits auch Kalkgruben besitzen, und ob dort ein ähnlicher Kalkstein und Mergel wie hier zu Tage gefördert werde? Ich konnte diese Frage mit dem Beisatze bejahen, daß ich auch von jenen Dörfern Kalkstein und Mergel zu Hause hätte.

[164] »Das ist klug von Ihnen, Sie ersparen mir den Hinweg.«

Es wurden nun von Mergel und Kalkstein Exemplare eingepackt, und da die Luft rauh geworden war, auch Goethe sagte, daß sein linkes Auge sich entzünde, so wurde das Zeichen zum Abfahren gegeben. Bevor er in die Kutsche stieg, ging er zu den Schnittern, betrachtete ihre Schleifsteine, und wollte wissen, woher dieselben stammen. Die Schnitter konnten aber keine andere Antwort geben, als daß Sie die Schleifsteine auf dem Egerer Markt gekauft hätten.

Nach der Ankunft in Eger wurden die Exemplare auf die mehrerwähnte große Tafel gelegt. Zur Vergleichung brachte ich auch die von mir bei den Dörfern Dirschnitz, Oberndorf, Trebendorf gesammelten Exemplare, die ihm sehr willkommen waren.

»Ich empfehle Ihnen«, sagte Goethe, »diese Kalkbrüche öfter zu untersuchen, und dabei die Arbeiter aufmerksam zu machen, daß sie jene Kalksteine, oder den Mergel, in welchen Pflanzen- oder andere Abdrücke, Muscheln, Schnecken vorkommen sollten, für Sie auf die Seite legen möchten; denn das ist von großer Bedeutung. Wenn Sie mir nicht so kräftig versicherten, daß der Mammuthzahn hier gefunden worden sei, so würde ich diesen Fundort bezweifeln.«

Ich antwortete: Die Familie Kriegelstein, welche dieses Gut besaß, hat die Kalkgruben betrieben, und den Zahn als eine dort aufgefundene Merkwürdigkeit[165] bewahrt. Ich würde Nachgrabungen eingeleitet haben, aber der vorige Eigenthümer war verstorben, und weder der jetzige Besitzer noch sonst jemand konnte mir Aufklärung geben; denn wie Eure Excellenz sahen, ist die Oberfläche durchaus zu Feldern zugerichtet, daher konnte ich nichts veranlassen.

»Es wäre freilich gut gewesen,« sagte Goethe, »denn Sie waren wahrscheinlich der Meinung, wo der Zahn war, könnten sich auch andere Gliedmassen finden.«

Ich übergab Goethe, wie ich schon manchmal gethan, einige in früheren Zeiten von mir verfaßte kleine Gedichte, die sich nicht alle für die Öffentlichkeit eignen, die ihn aber zum Lachen und zu dem Ausrufe brachten: »Wo haben Sie die Sachen her, das ist etwas für unseren Serenissimum.«[166]


796.*


1822, 28. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Nach der Rückkehr von meiner Geschäftsreise nach Franzensbad brachte ich Goethe Abends aus den Rossenreuther Steinbrüchen ein Stück Gneuß, worauf Granit gelagert und mit diesem zu einem Gestein verbunden war. Sehen Eure Excellenz, sagte ich, hier haben sich Vulkan und Neptun innigst verbunden. Ich kann mich daher nicht überzeugen, daß der Granit ein vulkanisches Produkt sei. Wenn es mir als Neuling zustände, so würde ich meine Ansicht hierüber aussprechen.

[166] »Ihr Juristen«, erwiederte Goethe, »habt ein eigenes Feld, ihr hört und prüft beide Theile, ehe die Entscheidung folgt; auch in der Naturwissenschaft muß man die verschiedenen Ansichten, meist Hypothesen, gelassen anhören, prüfen, und seine Meinung bescheiden äußern. Lassen Sie hören, auf welche Art Sie den Vulkan von Ihrem Gestein wegbringen.«

Ich halte, sagte ich, diesen Granit für einen Abkömmling vom Gebirge, daher für einen jüngern. Jener auf den Bergen zerbröckelt sich, das Wasser hat ihn herabgeschwemmt, zu einer Zeit, als der feinkörnige Granit sich wagerecht lagerte, jedoch nicht zur festen Gneußmasse gebildet war. Der am Gipfel der Berge zerbröckelte hat eine braune, ochergelbe Farbe und scheint von eisenhaltigem Wasser bedeckt und geschwängert worden zu sein. Das eisenhaltige Wasser war nun bei jenem Granit, den ich den jüngeren nenne, das Verbindungsmittel, als er auf dem Gneuß erstarrte. Zum Beweise könnte ich anführen, daß man große Blöcke Granit findet, welche ochergelbe, das ganze Gestein durchziehende Ringe haben, die doch von keinem Vulkan oder feuerflüssigem Zustande herrühren können.

Darauf Goethe: »Mich freut es, daß Sie in diese Wissenschaft so kräftig eindringen und daran Vergnügen finden. Wir wollen an Ort und Stelle Ihre Ansicht näher prüfen. Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen doch ein Späßchen erzählen, welches unser Großherzog[167] mit unserem Lenz1 sich gemacht hat. Professor Lenz in Jena feierte sein Dienstjubiläum. Der Großherzog, der wußte, daß Lenz, wie sein Lehrer Werner, ein eifriger Neptunist war, ließ eine Torte in Form eines ausgebrannten Vulkans machen und die goldene Ehrenverdienst-Medaille hineinlegen. ›Nun, lieber Lenz, werden Sie doch dem Vulkane einen günstigen Blick zuwerfen?‹ Nicht wahr, das war artig?« schloß Goethe.


1 Director des Jenaer Mineralienkabinets und Professor.[168]


797.*


1822, 29. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Ich besuchte Goethe um halb ein Uhr. Er lenkte das Gespräch auf die Heideneiche, auf die Kosten, welche ihr Herausschaffen aus dem Flusse verursachte, und stellte Betrachtungen an, wie viele Jahrhunderte nothwendig waren, um sie in ihren gegenwärtigen Zustand zu versetzen. »Ich bin begierig«, sagte er, »was Graf Sternberg dazu sagen wird.«

Goethe war auf dem Kammerbühl gewesen, und hatte von da neue Suiten Schlacken mitgebracht, die auf die große Tafel gelegt wurden. Sie war ganz mit Steinen belegt, diese waren jedoch noch nicht geordnet. Ich begann, sie nach der Himmelsgegend und nach dem Fundorte zu ordnen, und weil die Zeit nahte, zu welcher Goethe zu Mittag zu speisen pflegte, wollte[168] ich mich empfehlen. Allein er wünschte, daß ich mit dem begonnenen Geschäfte fortfahren möchte. Auch lud er mich für den nächsten Tag zu Tisch, weil er, wie erwähnt, den Grafen Sternberg erwartete.[169]


798.*


1822, 30. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner,

Kaspar von Sternberg,

Johann Jakob Berzelius

und Emanuel Pohl

Um 12 Uhr Mittags kam Graf Sternberg im Gasthofe zur Sonne an. Goethe ging ihm bis zur Hälfte der Treppe entgegen, sie umarmten sich wie alte Bekannte und Freunde. Bald darauf brachte eine zweite Kutsche den berühmten Chemiker Berzelius aus Stockholm und den Dr. Pohl, der durch fünf Jahre in Brasilien auf kaiserliche Kosten naturwissenschaftliche Gegenstände gesammelt hatte. Goethe benützte das zweite Zimmer zum Empfange. Nie hatte ich ihn in solcher Haltung und mit einem solchen Benehmen gesehen. Es war eine eigene Art, mit der er die beiden ihm fremden Gelehrten empfing. Es war eine Freundlichkeit, die zwar nicht mit Stolz gepaart, aber so beschaffen war, daß sie Ehrfurcht gebot; man mußte das sehen, beschreiben kann man es nicht. Nach der etwas ceremoniösen Bewillkommnung öffnete Goethe die Thüre zu dem Zimmer, in welchem die große Tafel mit den[169] geordneten Mineralien sich befand. Nun wurde das Gespräch allgemein bis zum Mittagsmahle.

Bei Tische machte Goethe die Herren auf meine Manuscripte aufmerksam und sagte manches zu meinem Lobe, theils vielleicht um mich noch mehr aufzumuntern, theils um den Gästen begreiflich zu machen, warum er mir seine Gunst zuwende und ein Plätzchen unter so ausgezeichneten Männern gönne. Auch erzählte er ihnen von der Heideneiche und mit welchen Anstrengungen ich sie aus dem Flusse habe heben lassen. Graf Sternberg theilte darauf mit, daß man in seinem Kohlenbergwerke auf einen aufrecht stehenden verkohlten Stamm gestoßen sei, den er erst vorsichtig rings umgraben und zu Tage fördern lassen müsse, um seine Betrachtungen über ihn anstellen zu können.

– – – – – – – – – – – – – – –

Hierauf wurde auf den Kammerbühl gefahren, über welchen Goethe bei jeder Gelegenheit die Meinung anderer Naturforscher hören wollte, weil er über ihn mit sich nicht einig werden konnte. Nachdem Berzelius die große Öffnung auf dem Kammerbühl besichtigt hatte, äußerte er: Dieser Vulkan gleicht ganz genau jenem in der Auvergne. Als er nun auf die Regelmäßigkeit der Straten aufmerksam gemacht wurde, sprach er seine Meinung dahin aus, daß der herrschende Westwind auf sie Einfluß genommen haben möge, weil sie von Westen nach Osten gelagert wären.

[170] Ich blickte Goethe bedenklich an, weil ich mich schon früher ausgesprochen hatte, daß nach physikalischen Gesetzen sich diese Lagerung nicht deutlich erklären lasse, weil Klumpen vom vorgeblichen Krater gegen hundert Schritte entfernt waren, die nicht so leicht durch den Westwind hatten herabgetrieben werden können. Gesetzt, es wäre geschehen, so hätten die herabgetriebenen Schlacken einen Eindruck auf die tiefer liegenden Schlacken machen, und deren feine Spitzen, die Nadeln vergleichbar sind, abstumpfen müssen. Waren sie noch in ganz oder halb flüssigem Zustande, so hatte das Lagern dieser oft über vierzig Pfund schweren Basaltklumpen eine Vertiefung auf den unteren Straten hervorgebracht, was doch bei der genausten oft wiederholten Besichtigung nicht wahrgenommen werden konnte.

Goethe hörte bloß zu ohne eine Meinung abzugeben. Später äußerte er sich gegen den Grafen Sternberg, daß, so lange der Hügel nicht von der Sohle bis zu dem vorgeblichen Krater durchfahren sei, er problematisch bleiben werde.[171]


799.*


1822, 31. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner

und dessen Söhnen

Nach der Abfahrt der... Herren sagte Goethe: »Sie verweilen doch noch einige Zeit bei mir und erzählen das Vorgefallene.«

[171] Ich setzte nun meine Hypothese über die Einwanderung der Boyer in Böhmen so auseinander, wie ich sie dem Grafen Sternberg und dem Dr. Pohl vorgetragen hatte, um auch seine Meinung zu vernehmen.

Goethe sagte: »Man will aber diesen ganzen Zug der Boyer, als von Livius erdichtet, behaupten.«

Ich kenne diese Behauptung, entgegnete ich. Es wird nämlich eingewendet, daß die Zeitrechnung nicht genau übereinstimme, und daß kein anderer Schriftsteller davon Erwähnung mache, folglich müsse Livius die Einwanderung erdichtet haben. Die Einwanderung nach Italien soll unter Belloves geschehen sein. Wie viele geschichtliche Begebenheiten beruhen nicht in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit auf dem Zeugnisse eines einzigen Schriftstellers? Ich sehe keinen Grund ein, warum Livius gerade diese Einwanderung erdichtet haben soll. Wenn daher Eure Excellenz nichts dawider haben, so lasse ich meinen Sigoves mit seinem Boyern hier in Eger einige Zeit verweilen und dann ungestört weiter nach Böhmen ziehen.

Darauf Goethe: »Bleiben Sie bei Ihrer Ansicht; denn sie macht Ihnen Vergnügen. Was haben wir davon, wenn Schriftsteller und Geschichtsforscher den Heldenmuth eines Scävola oder Regulus in Zweifel ziehen und für eine Fabel erklären wollen? Erzählen Sie mir doch auch, was diese Herren über die sonderbare Eiche sagten.«

Nachdem ich dem Geheiße Goethes nachgekommen[172] war, äußerte er: »Darüber sind wir nun abermals nicht belehrt, wir müssen Zuflucht zu der von Ihnen aufgegriffenen Sage nehmen, bis wir eines Besseren belehrt werden.«

Goethe hatte eine besondere Vorliebe für meinen Sohn Ignaz, weil, wie er sagte, der Knabe ihn mit seinen großen Augen so freundlich anblicke, und weil er herzhaft auf alle Fragen Antwort gebe. Manchmal forderte Goethe ihn auf, etwas zu erzählen, z.B. sagte er einst: »Erzähle mir etwas von einer Katze.« Der Knabe war nicht verlegen, und fragte: Von was für einer Katze, von einer weißen oder schwarzen? – »Erzähle mir von einer weißen.« – Der Knabe ließ nun die Katze durch einen Teich nach einer Insel schwimmen, dort Mäuse fangen, und wieder zurückschwimmen, aber am Ufer von einem Jäger erschossen werden.

»Sehen Sie, Freund« sagte Goethe, »der hilft sich wie mancher, der seinen Gegenstand nicht mehr gehörig entwickeln kann, seinen Helden umkommen läßt.«

Ich führe dies darum an, um darzuthun, daß Goethe mit Kindern kindlich sein konnte. Es war von dem mit dem Grafen Sternberg und dem Dr. Pohl eingenommenen Mittagsmahle eine Torte übrig geblieben, die schickte Goethe seinem »Natzl«1, wie er sich ausdrückte.


1 Abkürzung für Ignaz.[173]


800.*


1822, 1. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Das Gespräch zwischen Goethe und mir fiel auf »Werther's Leiden« und auf die erstaunliche Sensation, welche dieses Werk, kaum daß es erschienen war, in ganz Deutschland hervorbrachte. Goethe sagte: »Man kann den Leuten doch nicht Alles recht machen; man wollte mir zur Last legen, daß sich einige Studenten erschossen hätten. In Wien wurde über Werther ein Feuerwerk gegeben, es war eine allgemeine Stille, und nach einer langen Pause fiel ein Pistolenschuß. Das Neue reizt.«

Als dann die Rede auf die Volksdichter kam, zählte Goethe Bäuerle unter die besseren.

Auf meinen Vorschlag wurde die Reise über Falkenau nach Hartenberg für den 3. August festgesetzt.[174]


801.*


1822, 2. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner u.a.

Goethe besah meine Bibliothek, hielt sich einige Zeit bei meinen französischen und englischen Werken auf, nahm manchen Band heraus, um die Auflage zu besehen; endlich nahm er auch einen Band von seinen Werken. Es war der erste Theil, betitelt: »Theater[174] von Goethe«, enthaltend: Faust, die Laune des Verliebten und die natürliche Tochter. Wien, gedruckt bei Anton Strauß, 1810, in Commission bei Geistiger. Da es ein Nachdruck war, befürchtete ich, Goethe werde sich etwas bitter äußern. Er aber betrachtete die Umrisse, die statt der Kupferstiche beigegeben waren, und sagte, nachdem er noch einige Bände angesehen hatte, daß diese Auflage unter die guten zu zählen sei, – ohne eine Miene zu machen, daß der Nachdruck ihm unangenehm wäre. Dann verweilte er längere Zeit bei meiner schon erwähnten Mosaik.

Nachmittags besuchten wir den Prior im Dominikanerkloster, um die Bibliothek und das Mineralien- und Conchylienkabinet zu besehen. Goethe fand beide unbedeutend. Die Bibliothek enthielt meist Werke theologischen Inhaltes. Ich machte ihn bloß auf ein Manuscript des Priors Wilhelm aufmerksam, der zur Zeit, als Stadt und Gebiet Eger im Jahre 1565 zum protestantischen Bekenntnisse übertrat, allein im Kloster sich erhielt, den Predigten der Prädicanten beiwohnte, und Alles aufzeichnete, was sie wider den Papst und die katholische Religion predigten, dieses dem Bischofe von Regensburg anzeigte, und sich dadurch manche Verfolgung zuzog, bis endlich auf Andringen des Bischofs den Lutheranern zu Eger durch ein kaiserliches Rescript Einhalt gethan wurde.

Goethe sagte: »Gegenseitige Schimpfereien waren damals im Schwange, und entzweiten die Gemüther[175] noch mehr, und der kräftige Luther, wie Sie wissen, hatte doch bedeutende Anhaltspunkte.«

Ich sprach meine Ansicht dahin aus, daß, wenn die katholischen Regenten gleich zu Anfang kräftig eingeschritten wären und einige Mißbräuche abgestellt hätten, die Umwälzung nicht in so großem Umfange stattgefunden, der dreißigjährige Krieg Deutschland nicht so tiefe Wunden geschlagen haben würde.

»Sie können recht haben,« entgegnete Goethe, »allein ich sage Ihnen, daß die Lehre bei Ihnen besser ausgedacht ist, und mehr zum Ganzen zusammengreift als bei uns. Wir haben gute Prediger, sie werden aber wenig besucht; in jeder bedeutenden Stadt fängt man an, neue Grundsätze aufstellen zu wollen. Wenn wir nur ein Original hätten!«[176]


802.*


1822, 3. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

und Ignaz Lößl

Goethe sehnte sich sehr, den Grafen Auersperg, mit welchem er Briefe gewechselt hatte, wieder zu sehen und sich seines Umganges zu erfreuen.

Meinen Vorschlag, in Falkenau zu verweilen und die Mineraliensammlung des Bergmeisters und Justitiars Lößl zu besehen, der auch über die ganze Umgegend gründlichen Aufschluß geben könne, nahm Goethe an. Ich hatte Herrn Lößl zuvor von der Ankunft des[176] berühmten Mannes Nachricht gegeben und von ihm die Zusicherung erhalten, daß er Alles aufbieten werde, demselben den Aufenthalt angenehm zu machen.

Goethe wurde dann von diesem meinem Freunde, der wegen seiner Biederkeit und Kenntnisse in allgemeiner Achtung stand, liebe- und ehrfurchtsvoll aufgenommen, besah mit Vergnügen die reichhaltige schöne Sammlung, und erkundigte sich nach dem Vorkommen des einen oder anderen Minerals.

Es begann zu dunkeln, und damit der Abend so angenehm als möglich vergehe, veranlaßte ich Lößl, Seiner Excellenz auserlesene Früchte des Dichtervereins, dessen Mitglied er war, besonders Gedichte Firnsteins vorzulegen. Diese Gedichte hatten auf mich einen um so tieferen Eindruck gemacht, als ich wußte, daß Firnstein nicht studirt hatte, Alles aus sich selbst schöpfte, und was seinen Körperbau betrifft, von der Natur leider nur allzustiefmütterlich behandelt worden war.

Goethe blätterte mehrere Hefte durch, bezeigte sein Wohlgefallen, und ersuchte, ihm Abschrift von einigen der Gedichte Firnsteins, die er bezeichnet habe, zu übermitteln.

– – – – – – – – – – – – – – – – –

Goethe ersuchte Lößl, Firnstein zu rathen, daß er hauptsächlich seine Begrenzung, die ihn umgebenden Gegenstände, zur Dichtung wählen möge, weil diese dadurch an Interesse gewinne.[177]


803.*


1822, 4. und 5. August


In Falkenau und Hartenberg

Da Goethe Firnstein zu sehen wünschte, wurde die Veranstaltung getroffen, daß dieser den anderen Tag, wo wir den Steg über die Eger zu Fuße passiren mußten, am Ende des Weges in seinem kleinen Wägelchen sitzend von Goethe gesehen werden mochte. Wehmüthig betrachtete Goethe die zusammengeschrumpfte Figur Firnsteins mit den verdrehten Gliedern, und munterte ihn auf; worauf wir wieder in die Kutsche stiegen. Der Anblick des armen Krüppels hatte Goethe sichtlich verstimmt, endlich sagte er zu mir: »Haben Sie seinen Kopf betrachtet, nicht wahr, die Natur hat ersetzt, was ihm am übrigen Körper abgeht?«

Auf der Fahrt nach Hartenberg stieg Goethe einige Male auf den Anhöhen aus, und besah die freundliche Gegend; auch wurden manchen Quarzklumpen die Köpfe abgeschlagen.

Sonntags den 4. August trafen wir gegen Mittag in Hartenberg ein, wo Goethe sehnsuchtsvoll erwartet und liebevollst aufgenommen wurde. Als nach Tische das Mineralienkabinet des Grafen wegen des ansehnlichen Zuwachses, den dasselbe seit der letzten Anwesenheit Goethes erhalten hatte, in Augenschein genommen wurde, beschenkte jener ihn mit einem mächtigen Bleispath, krystallisirtes Braunbleierz, für dessen Aufbewahrung[178] ein eigenes Kästchen verfertigt worden war. Goethe war den ganzen Abend überaus heiter, und sicherte am 5. August nach dem Frühstücke dem Grafen auf dessen freundschaftliches Andringen vor der Abfahrt zu, im Sommer des nächsten Jahres wieder nach Hartenberg zu kommen. Auf der Rückfahrt von da nach Eger zeigte er sich beständig wegen Conservirung seines Bleispaths besorgt, und rühmte die vorzüglichen scientifischen Eigenschaften des Grafen.[179]


804.*


1822, 6. August.


Mit Wenzel Johann Tomaschek

Um 8 Uhr Morgens machte ich mich auf den Weg zur goldnen Sonne, wo Goethe während seines Aufenthaltes (in Eger) gewöhnlich wohnte. Mit Beklommenheit näherte ich mich der Thüre seines Wohnzimmers und horchte, ob nicht vielleicht jemand schon bei ihm sei. Kein Laut, kein Tritt ließ sich vernehmen, die tiefste Stille herrschte im Zimmer und doch hatte ich den Muth nicht, an die Thüre zu klopfen; denn es kreuzten sich unzählige Anekdoten über Goethes Stolz und Unfreundlichkeit in meinem Kopfe, die mich für einen Augenblick eingeschüchtert hatten. Endlich dachte ich bei mir: Was kann Dir geschehen? Nur Muth gefaßt! Und ich klopfte ganz manierlich, worauf eine starke Stimme sich mit »Draußen bleiben!« hören ließ.[179] Ich blieb an der Thür stehen, den Erfolg abwartend, auf den ich nun um so begieriger wurde. Es dauerte aber gar nicht lange, als sich die Thüre öffnete und ein junger Mann mit den Worten heraustrat: »Der Herr Geheime Rath erwartet Sie.«

Goethe stand in der Mitte des Zimmers, von dichterischer Majestät umstrahlt; er entschuldigte sich und setzte schmunzelnd hinzu, daß er sich in einer lebensgefährlichen Lage, in den Händen des Bartscheerers befunden. Er war, ohne noch zu wissen, wer ich sei, überaus freundlich und widerlegte so alle Lügen, die über ihn so häufig verlauteten. Als ich mich ihm später nannte, wurde er sogar herzlich, äußerte sich über meine Auffassung seiner Gedichte in Ausdrücken, die ich hier zu wiederholen nicht wage .... Ich sah, daß Goethe nicht angezogen sei und vielleicht den Vormittag noch etwas zu thun habe, worauf ich mich mit dem Versprechen von ihm empfahl, ihn, seinem Wunsche gemäß, des Nachmittags1 auf längere Zeit zu besuchen.

Kaum konnte ich den Augenblick erwarten, der mich zu Goethe führte. Ich traf dort den Magistratsrath Grüner .... Goethe, sehr aufgeweckt und munter, bot uns Sitze an, die Worte an mich im Scherz richtend: »Lieber Tomaschek! Sie müssen sich auf das Kanapee setzen; denn Sie sind heute unser Erzbischof.« Ich protestirte gegen eine solche Würde; doch es half nichts,[180] ich mußte folgen. Als wir eine Weile schon saßen, brachte der Kellner eine stattliche Flasche mit süßem ungarischen Wein gefüllt und einen Teller mit Preßburger Zwieback. Es entspann sich ein für mich interessantes Gespräch über die schöne Kunst, wobei Goethe über ihre Formen die herrlichsten Ansichten entwickelte, deren ich mich oft noch mit Entzücken erinnere. Im Verfolge des Gespräches kamen wir auch auf »Wilhelm Meister's Lehrjahre« zu sprechen, wobei ich mir zu bemerken erlaubte, daß ich bei der seligsten Wonne, in die mich dieser Roman, so oft ich ihn las, stets versetzte, dennoch nicht in's Reine damit gekommen sei, ob die Capitel darin dem Romane ihr Dasein verdanken, oder ob der Roman aus dessen Fragmenten entstand. Goethe schmunzelte und stellte die Frage an mich, wie ich auf die Idee gekommen? Ich rechtfertigte sie durch die lockere Haltung der Capitel untereinander, vorzüglich wies ich auf das sechste Buch hin mit der Ueberschrift »Bekenntnisse einer schönen Seele«, das mit dem übrigen in gar keiner Verbindung zu stehen scheint, worauf Goethe mir entgegnete: »Da ich Sie mit Ihrer Idee am rechten Wege finde, will ich Sie vollends zum Ziele führen. Ich hatte die Capitel oder Fragmente, wie Sie es nennen, allerdings einzeln geschrieben und sie auch einzeln nach und nach durch Zeitschriften veröffentlicht2; doch wer kennt nicht das Loos der Zeitschriften![181] Und so glaube ich nicht, daß sich jemand darüber aufhalten könnte, das früher Zerstreute nun beisammen, aneinandergereiht, als einen Roman vor sich zu sehen; ich wenigstens bedaure nicht, die Mühe darauf verwendet zu haben.«

Es kam manches noch zur Sprache, ehe der Abend verging, ja es wurde sogar mineralogisirt, wobei der Magistratsrath Grüner herhalten mußte; ich aber hörte zu und pausirte. Goethe, mein Stillleben gewahrend, machte wieder einen schnellen Übergang zur Kunst, indem er mich fragte, ob es mir nicht möglich wäre, ihm einige seiner, von mir componirten Lieder vorzutragen, hinzusetzend, daß selbst der geübteste Sänger ein Lied doch nicht so zu beleben wisse, als dessen Tondichter; auch meinte er, daß es nicht so sehr auf die Schönheit des Singorgans dabei ankomme, als vielmehr auf die jedesmalige, an gehöriger Stelle angebrachte Betonung, wodurch erst das Lied seine volle Wirkung thue. Ich schlug ihm vor, die Wohnung des Advocaten Frank, der ein gutes Fortepiano hatte, zu besuchen, und versprach, ihn selbst... dahin abzuholen.3 Goethe[182] wurde durch meine Bereitwilligkeit so herzlich, daß ich kein Bedenken trug, ihn zu bitten, mein kleines Stammbuch, das ich deshalb mithatte, nur mit ein paar Worten zu verherrlichen, wozu er gleich zwei Blättchen sich wählte .....

Ich säumte nicht, mich... zur bestimmten Zeit bei ihm einzufinden, um ihn nach dem verabredeten Orte zu begleiten. Nach wechselseitigen Begrüßungen nahm jeder von dem kleinen Publikum seinen Platz ein; es bestand aus Frank und seinem Sohn, dann dem Rath Grüner und dem Apotheker v. Helly aus Prag .... Goethe setzte sich nächst dem Fortepiano mir gerade gegenüber; wahrscheinlich wollte er sehen, ob meine Geberdensprache mit Wort und Ton stets im Einklange stehe.

Durch die Gegenwart des Dichters begeistert, begann ich mit dem »Haidenröslein«, das ihn sehr anzusprechen schien, worauf dann die übrigen Lieder folgten, als: »Wer kauft Liebesgötter?« – »Nachgefühl«, – »Mailied«, – »An die Entfernte«, – »Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg«, – »Rastlose Liebe«, – »Frühzeitiger Frühling«, – »Trost in Thränen«, wobei er tiefe Rührung nicht bergen konnte; vielleicht gab ein trauriges, dem Dichter einst begegnetes Ereigniß zu diesem letztern Liede die Veranlassung, daß er jetzt noch so sehr sich dabei aufgeregt fühlte. Dem folgten noch: »Am Flusse«, – »Wanderers Nachtlied«, – »Schäfers Klagelied«, – »An dem See«, – »Jägers Abendlied«, – »Mignons Sehnsucht«. Die wenigen Worte[183] – »Sie haben das Gedicht verstanden«, – die Goethe nach Anhören des letztgenannten Liedes zu mir sprach, sagten mir deutlich, daß er mit meiner Auffassung des Liedes ganz zufrieden war, indem er noch weiter bemerkte: »Ich kann nicht begreifen, wie Beethoven und Spohr das Lied gänzlich mißverstehen konnten, als sie es durchcomponirten; die in jeder Strophe auf derselben Stelle vorkommenden gleichen Unterscheidungszeichen wären, sollte ich glauben, für den Tondichter hinreichend, ihm an zuzeigen, daß ich von ihm bloß ein Lied erwarte. Mignon kann wohl ihrem Wesen nach ein Lied, aber keine Arie singen.« – Nun trat eine Pause ein, während Goethe einige Ölgemälde von Frank's zweitem Sohn betrachtete und sich über das Talent des jungen Malers lobend äußerte.

Nachdem Goethe sich wieder gesetzt, nahm ich zum Schlusse noch die drei ihm gewidmeten Balladen vor, nämlich: den »Erlkönig«, – »König von Thule« – und »den Fischer«. – Goethe empfahl sich allen Anwesenden und wandte sich zu mir mit den Worten: »Ihnen, lieber Tomaschek, werde ich heute erst des Nachmittags (?) danken, bis Sie sich ihr Stammbuchblättchen abholen werden.« Die Neugierde, wie der große Mann mein Blättchen bedacht, ließen mich nicht säumen, gleich nach Tisch dahin zu gehen. Ich traf ihn herumklaubend unter seinen Mineralien, die er mit Rath Grüner in der Umgegend von Eger gesammelt hatte. Goethe war diesmal noch viel freundlicher, als[184] gewöhnlich; er nahm mich bei der Hand und dankte mir für die musikalische Ausstattung seiner Gedichte mit sehr wenigen, aber um so innigeren Worten, die ich zeitlebens im Gedächtnisse aufbewahren werde. Er nahm die zwei von ihm beschriebenen Blättchen und gab sie mir, indem er lächelnd bemerkte: »Da habe ich Ihnen etwas Diplomatisches4 zur Erinnerung an unser Zusammentreffen gemacht; es soll mich freuen, wenn Sie beim Anblicke dieser Zeilen sich dessen erinnern. Übrigens hoffe ich, daß wir uns noch im Leben wiedersehen werden.« Ich dankte für das herrliche Andenken, empfahl mich und verließ innig gerührt seine Wohnung. Nicht übergehen darf ich das Gedicht hier, das Goethe auf den zwei Blättchen für mein Stammbuch schrieb.

Das Diplomatische daran, wie er sich im Scherz ausdrückte, bestehet darin, daß, wenn man die Überschrift der Rückseite vom Gedicht im Zusammenhange lesen will, man beide Blättchen scharf nebeneinander legen muß. Dasselbe muß geschehen, ehe man zum Lesen der inneren Überschrift vom Gedicht schreitet. Die äußere Überschrift lautet:


Für innige Teilnahme

an meinen Gesängen

dankbar

zu freundlichem Erinnern

genußreicher Stunden

Eger, d. 6. August 1822[185]


Die innere Überschrift lautet:


Liebeschmerzlicher Zwie-Gesang

unmittelbar nach dem Scheiden.


[Nun folgen die zwei ersten Strophen des Gedichts »Äolsharfen«.]


1 Wohl später an demselben Morgen; s. unten.


2 Demnach war auch von den »Wanderjahren« die Rede gewesen.


3 Tomaschek schreibt: »am folgenden Tage nach 10 Uhr Vormittags dahin abzuholen.« Diese Zeitangabe steht jedoch mit Goethes Tagebuchaufzeichnung, sowie mit Grüner's Erzählung über den Verkehr mit Goethe in Widerspruch. Einklang ist nur dadurch herzustellen, daß man den Verkehr mit Tomaschek als an Einem Tage, den 6. August, erfolgt annimmt, und nicht am folgenden Tag, sondern am Nachmittag des 6. August die musikalische Production stattfinden läßt.


4 Problematisches?[186]


1705.*


1822, 6. August.


Mit Josef Pleyer

In Mariaschein bei Teplitz starb am 25. vor. Mon. [November 1876] der dortige pensionirte Lehrer Josef Pleyer im Alter von einundachtzig Jahren. Derselbe erinnerte sich, wenn das Gespräch auf Goethe kam, stets der Worte, die letzterer bei seinem Aufenthalt in Eger während eines Concertes zu Pleyer, einem Mitwirkenden, gesagt hatte: »Wer Musik nicht liebt, verdient nicht, ein Mensch genannt zu werden; wer sie liebt, ist erst ein halber Mensch; wer sie aber treibt, ist ein ganzer Mensch.«[107]


805.*


1822, 6. August Abends.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Compositeur Tomaschek befand sich auf Besuch bei dem Advocaten Frank in Eger. Nach vorgängiger Rücksprache mit mir, beehrte Goethe ihn mit einem Besuche. Tomaschek sang einige Lieder Goethes, die er in Musik gesetzt hatte, namentlich den Erlkönig, die Müllerin, und andere, und begleitete sich dazu auf dem Pianoforte. Goethe empfahl sich unter Beifallsbezeigung.

Zu Hause sprach dann Goethe viel von musikalischen Compositionen, besonders von jenen Zelters, seines ältesten Freundes, wie er ihn nannte. Diesen sollten Sie kennen, sagte er, ich wünschte mir eine solche Laune. Ich muß Ihnen doch etwas von ihm vorlesen.

Nun las Goethe einen Brief Zelters vor, worin erzählt war, wie er einen tüchtigen Compositeur in Sachsen... [Peter Mortimer] besuchte, den er in den armseligsten Umständen traf; dann folgte eine Schilderung des Besuches Zelters in Herrnhut. Wenn[186] auch der Brief weniger witzig, weniger mit drolligen Ein fällen versehen gewesen wäre, so hätte schon das bloße Vorlesen Goethes dafür einnehmen und einen angenehmen Eindruck hervorbringen müssen; denn er konnte sich dabei so ganz in die Stimmung seines Freundes versetzen und demgemäß die Stimme moduliren; kurz er hatte einen vortrefflichen, mir noch niemals vorgekommenen Vortrag.

Lächelnd fragte er: »Nun, was sagen Sie dazu?«

Ich antwortete, daß der Brief verdiente, in Druck zu erscheinen.

»Wir wollen sehen,« sagte Goethe, »es müßte natürlich vieles cassirt werden.« Dann sprach er über Tomaschek's Verdienste und lobte dessen kunstreiche Compositionen, »doch,« fügte er hinzu, »wünschte ich ihm mehr Gemüthliches; der Eingang zum ›Erlkönig‹ will mich nicht ansprechen.«[187]


806.*


1822, 7. August.


Mit Anton Martius u.a.


a.

Herr Pastor Martius in Schönberg bei Franzensbad wird häufig von Kurgästen wegen seines ansehnlichen Mineralienkabinets besucht. Er ist ein sehr kenntnißreicher, äußerst gefälliger Mann. Die Aussicht von Schönberg über das Egerland erfreute Goethe[187] sehr und gab zur Recapitulation der Touren Anlaß, die er in diesem Ländchen gemacht hatte. Wir trafen unter andern Personen den Präsidenten von Stettin, mit welchem Goethe sich unterhielt. Herr Pastor Martius, der sich durch den Besuch höchst geehrt fühlte, überreichte Goethe einige Rauchtopase, Amethyste und Egrane aus der Nachbarschaft, die er dankend freundlichst annahm.


b.

Goethe.. fand 1822 bei ihm mancherlei, was seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, sowohl an physikalischen Instrumenten, wie an naturwissenschaftlichen Gegenständen, unter letzteren namentlich eine Folge von Mineralien vom Kammerbühl, über welche er äußerte, daß diese sehr wissenschaftliche Zusammenstellung mehr sage, als alles, was über den Kammerbühl geschrieben worden sei; ferner eine Sammlung englischer Steinkohlen, die er noch nicht so schön gesehen zu haben versicherte; endlich einen gewaltigen Meteorstein von beinahe fünf Centnern Gewicht. Auch eine zahme Ringelnatter zog Goethe sehr an: sie war so an Martius gewöhnt, daß sie auf seinen Ruf herbeikam, sich um seinen Hals legte, sein Gesicht streichelte und dem Zuge seiner Feder mit dem Kopfe folgte, wenn er schrieb. Goethe konnte ihr keine Vertraulichkeit abgewinnen und bewunderte daher umsomehr das Geschick des Pfarrers, sich mit Thieren zu verständigen ....

[188] Goethe trug Martius, was er von der, damals von einigen Naturkundigen aufgestellten Behauptung halte, daß der Granit im Vogtlande geschichtet vorkomme, worauf der genannte Geistliche eine, bei Gelegenheit eines Straßenbaues in Schönberg entblößte merkwürdige Stelle nachweisen konnte, an welcher deutlich zu erkennen war, wie ein streckenweise parallel mit Gneisschichten streichender Granitgang den Gneis durchbrochen hatte, so daß zugleich einleuchtete einerseits, wie die Annahme eines geschichteten Vorkommens entstehen konnte, und andererseits, wie irrig sie war. Goethe ersuchte Martius, ihm eine genaue Beschreibung dieses lehrreichen Lagerverhältnisses nach Weimar zu schicken ....

Goethe wurde während seines Verweilens in Schönberg noch durch Ausbruch eines heftigen Gewitters entzückt. »Wie freue ich mich,« rief er aus, »den Donner über dem vogtländischen Granit zu hören!«[189]


807.*


1822, 8. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Als ich Goethe Abends besuchte, kam er wieder auf seinen Lieblingsgegenstand, die Farbenlehre. Er erörterte die Mühe, den Kostenaufwand, welche er beharrlich auf diesen Gegenstand verwendete, und sagte ganz gelassen: Er sei allein auf der Erde, der sagen könne er habe Wahrheit. Nachdem Goethe noch Einiges[189] hinzugefügt, sagte er: »Ich muß Ihnen doch die vortreffliche Ode Manzoni's auf den Tod Napoleon's vorlesen; ich habe versucht, so gut ich konnte, sie deutsch wieder zu geben.«

Welch' ein Lesen! Er war wie in einem verklärten Zustande, dabei ganz ergriffen, das Feuer blitzte aus seinen Augen, die richtigste Betonung eines jeden Wortes und Ausdruckes ergriffen auch mich, und wie er zu Ende war, folgte eine Pause. Wir sahen einander an, ich konnte in seinem Antlitze, und er mochte in dem meinigen Begeisterung lesen. »Sie sollen sie morgen haben,« sagte er endlich; »nicht wahr, Manzoni ist ein großer Dichter?«

Ich wünschte, versetzte ich, daß er beim Vortrage dieser Ode zugegen gewesen wäre; wenn er auch nicht deutsch verstehen möchte, würde er doch durch den begeisterten Vortrag Eurer Excellenz sich gewiß ausgezeichnet belohnt gefühlt haben.[190]


808.*


1822, 10. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Ich erzählte Goethe von der berühmten chemischen Fabrik meines Freundes Fikentscher zu Redtwitz, und sagte, daß dieser es sich zur größten Freude machen würde, mit einem Besuche beehrt zu werden. Goethe ließ sich um so mehr geneigt finden, diese Reise zu[190] unternehmen, als er Hoffnung hatte, Gläser für das Naturalienkabinet zu Jena in Fikentscher's Glasfabrik bestellen zu können.

Da ich die mehrerwähnte Eiche auf starke Bretter zerscheiden ließ, welche noch auf der Sägemühle beim Mühlthore lagen, wünschte Goethe zu sehen, wie die Eiche innerlich durchaus beschaffen sei, und so wurde der im Tagebuch bemerkte Spaziergang unternommen. Goethe fand die Bretter durchaus gesund und von der bereits beschriebenen Farbe; es wurde wieder ein Stückchen mitgenommen.[191]


809.*


1822, 11. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Mit Goethe um 12 1/2 Uhr nach Waldsassen gefahren, dort gespeist, die Kirche, dann die Stellagen der ehemaligen Bibliothek besehen. Es befinden sich über den Fächern dieser ehemaligen Bibliothek allegorisch sein sollende Schnitzwerke, z.B. über dem Fache der philosophischen Schriftsteller ein Kopf mit einem Kropf und mit Warzen im Gesichte, die scriptores profani hatten gebundene Hände u.s.w. Während wir unsere Betrachtungen darüber anstellten, kamen Fremde von ansehnlichem Äußern. »Geben Sie Acht, Freund«, sagte Goethe, »es sind Preußen, die wollen immer Alles besser wissen als andere Leute.«

[191] Goethe zog sich mit mir zurück, um aufmerksam zuzuhören. Als sie nun zu expliciren und debattiren anfingen, sah mich Goethe, der die Arme übereinander geschlagen hatte, warnend an, als ob ich aufmerken und mich durch sie belehren lassen sollte, und ging dann. »Als wir allein waren, fragte er lächelnd: Nicht wahr, jetzt haben Sie alles weg?«

Auf der Heimfahrt nach Eger sprach er abermals von den Widersachern, welche gegen seine Farbenlehre aufgetreten waren. »Die Leute,« sagte er, »wollen sich über Licht und Auge in Zergliederungen a priori einlassen, allein unser Verstand ist beschränkt, wir kennen nichts als die Wirkungen, daher habe ich Licht und Auge vorausgesetzt.«[192]


810.*


1822, 12. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Wie ich schon erwähnte, hatte ich für Goethe Mineralien aus der Umgegend gesammelt, und es hatte mir stets besonderes Vergnügen gewährt, wenn er, mich aufmunternd, sie annahm. Als ich heute von meinen Berufsgeschäften nach Hause kam, fand ich Goethe in meinem Bilderzimmer. Nach kurzem Gespräche wurde mein Arbeitszimmer geöffnet, und Goethe zeigte auf einen mit vierzehn Schubkästen versehenen Schrank, den er zu meiner Überraschung verfertigen und während[192] meiner Abwesenheit, weil er meine Amtsstunden kannte, hatte aufstellen lassen.

»Nun weihe ich Sie in die Mineralogie ein,« sagte er lächelnd, »und von nun an werden Sie mir nicht mehr so viel zutragen.«

Er hatte mehrere Schubkästen mit Mineralien gefüllt, die ich schon kannte. Aber wie hätte ich je denken sollen, daß auch seine Voraussagung in Erfüllung gehen werde, da ich so ausgezeichnet behandelt worden und zur Dankbarkeit so sehr verpflichtet war.[193]


811.*


1822, 13. August.


Bei Wolfgang Kaspar Fikentscher

Die Fabrik des Herrn Fikentscher [in Redtwitz] ist wegen ihrer Ausdehnung, inneren Einrichtung, wegen ihrer ausgezeichneten chemischen Produkte und wegen des großen Absatzes berühmt. Goethe ließ sich von allem unterrichten, besuchte auch die Glashütte, und bestellte Gläser für das Naturalienkabinet zu Jena. Die Glasfabrik wird bloß für die gläsernen Retorten betrieben. Goethe ließ sich Gläser fertigen, welche, wenn auf einen dunklen Gegenstand gelegt, blau, über einen weißen aber gelb aussahen, und das gab ihm abermals Anlaß zur Erörterung seiner Farbenlehre. Er war heiter, unterhielt sich sehr gut.[193]


812.*


1822, 18. August.


Bei Wolfgang Kaspar Fikentscher

Goethe zeigte sich über unsere [Grüner's und Frau] Ankunft [in Redtwitz] sehr erfreut, lobte das Großartige der Fabrik, die freundliche Aufnahme, welche er, wie er sagte, meinem freundlichen Vorschlage zu verdanken habe. »Die Felsengruppen zu Alexanderbad«, fuhr er fort, »empfehle ich Ihrer aufmerksamen Betrachtung, denn sie sind auch ein problematischer Gegenstand. Ich habe versucht, ihnen etwas abzugewinnen,« – und hierauf setzte er mir seine Ansicht auseinander.[194]


813.*


1822, 19. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Ich kam Vormittags zu Goethe, der mir... [einen für den Kurfürsten Maximilian von Bayern bestimmt gewesenen] alterthümlichen Becher zeigte und mich ersuchte, ihm Schiller's dreißigjährigen Krieg zum Lesen zu leihen. Firnstein's Leben und Gedichte interessiren Goethe sehr. Die jammervolle Gestalt Firnstein's scheint auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht zu haben; er lobte ihn und sagte: »Diesem Manne muß man trachten, auf die Beine zu helfen.« – Ich brachte dann Schiller's dreißigjährigen Krieg und empfahl mich wieder.

[194] Als ich Abends zu Goethe kam, bemerkte ich, daß ihm Zähren über die Wangen herabrollten. Ich fragte erstaunt: Excellenz, was ist Ihnen geschehen?

»Nichts, Freundchen,« erwiederte er, »ich bedaure nur, daß ich mit einem solchen Manne, der so etwas schreiben konnte, einige Zeit im Mißverständnisse leben konnte. Schiller wohnte drei Häuser von mir, und wir besuchten uns nicht, weil ich, von Italien zurückkommend, vorwärts gedrungen war, und die durch Schiller veranlaßten Räubergeschichten nicht ertragen konnte. Vom Jahre 1797 bis 1805 besuchten wir uns wöchentlich zwei- bis dreimal, schrieben uns auch gegenseitig. Schiller hatte die Gabe, daß er über seine Sachen, die er in Arbeit hatte, über Plan, Eintheilung sprechen konnte, was aber mir nicht eigen war. Da er manches nicht gehörig motivirte, so gab es Dispute. Als er mir sein vortreffliches Werk, Wilhelm Tell, brachte, machte ich ihn aufmerksam, wie es komme, daß der Landvogt Geßler auf den Einfall geräth, Tell solle den Apfel von des Knaben Kopf schießen, und bemerkte, daß das nicht gehörig motivirt sei. Schiller war hierüber etwas unwillig; allein ungefähr den dritten Tag brachte er die Scene mit dem Knaben des Tell, der behauptete, sein Vater könne mit dem Pfeile jeden Apfel vom Baume schießen. Sehen Sie, Freund, jetzt ist eine Veranlassung dazu, so macht es sich herrlich.«

»Schiller,« fuhr Goethe fort, »war in Stuttgart geboren, in der Mititär-Akademie erzogen, schrieb dort[195] die Räuber, entsprang, wurde in Mannheim gut aufgenommen, von Württemberg requirirt, suchte Asyl im Thüringer Walde auf einem Landgute, wie Luther auf der Wartburg, heirathete, kam nach Dresden, Jena, dann nach Weimar. Er hatte ein Leiden im Unterleibe, und ich glaubte, daß er kaum noch ein Jahr leben würde. In jenem leidenden Zustande hatte er eine Apprehension gegen die Menschen. Als ich ihn während desselben besuchte, wurde angeklopft. Schiller sprang haftig auf, öffnete die Thüre und als ein junger, nicht unansehnlicher Chirurg aus Berlin fragte, ob er die große Ehre und das Vergnügen hätte, den berühmten Schiller zu sprechen, sagte dieser hastig: Ich bin Schiller, heute können Sie ihn nicht sprechen, – schob den Fremden zur Thüre hinaus und machte sie zu.«

»Es ist oft lästig«, setzte Goethe bei, »sich durch so viele Besuche die Zeit rauben zu sehen.« Darauf ging er auf Firnstein über und sagte: »Wenn Firnstein noch einige Gedichte nach meinem Rathe gemacht haben wird, so will ich ihn gerne einführen und die Einleitung zum Drucke treffen, denn er ist in körperlicher Hinsicht ein äußerst bedauerungswürdiger Mensch.«[196]


814.*


1822, 21. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

»Sie kommen mir eben willkommen,« rief mir Goethe beim Eintreten zu, »wir müssen doch auch von unserer Sammlung dem Prager Museum etwas zuschicken, daher wollen wir die Sachen nach den Fundörtern verzeichnen und numeriren.«

Ich zeigte mich dazu höchst bereitwillig. Während der Beschäftigung kam das Gespräch auf die richtige Benutzung der Zeit, worüber Goethe sich so ausließ:

»Man sagt immer, die Lebenszeit ist kurz, allein der Mensch kann viel leisten, wenn er sie recht zu benützen weiß. Ich habe keinen Tabak geraucht, nicht Schach gespielt, kurz nichts betrieben, was die Zeit rauben könnte. Ich habe immer die Menschen bedauert, welche nicht wissen, wie sie die Zeit zubringen oder benützen können. Für mich war es freilich gut; denn mein Sohn führte die ganze Hausordnung, er ist sehr ökonomisch. Ich muß selbst Versendungen rücklings machen, kann aber meinen Geschäften obliegen.«[197]


815.*


1822, 22. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

und dessen Gattin

»Heute komme ich,« sagte Goethe, meine Frau begrüßend, »Sie zu belästigen. Ich möchte gerne noch ein Stück Kattun mit nach Hause bringen, und weil die Frauen ihren eigenen Gusto haben, und auch wissen, was für sie modern, schicklich ist, so nehme ich Ihre Güte in Anspruch.« – Es wurde nach gemeinsamer Wahl ein Stück gekauft.

Goethe besah meine Mineralien und freute sich des Anwuchses. Meine Ölgemälde und Kupferstiche prüfte er sorgfältig und sagte: »Sie haben einige gute Stücke aus der altdeutschen und italienischen Schule, diese halten Sie werth, besonders aber, wie ich Ihnen schon bemerkte, Ihren florentiner Mosaikschrank,« – bei dem er wieder einige Zeit verweilte.

»Bei Betrachtung der Bilder,« fuhr Goethe dann fort, »muß man vorerst fragen, was wollte der Künstler mit diesem Bilde sagen? Man muß die Idee des Künstlers sich eigen zu machen streben, und nicht kleine in Eile hingeworfene Verzeichnisse aussuchen und hierauf sein Urtheil gründen.«

Als ich Goethe des Abends besuchte, kam das Gespräch auf Wieland. Goethe sagte: »Der Unersetzliche war in Rom und Griechenland zu Hause. Er hat sich seinen Tod selbst zugezogen. Er war bei Hof in[198] Weimar. Da es Winter war, auch viel Schnee fiel, so ersuchte ich ihn warnend, er möchte die Nacht in Weimar zubringen, allein es half nichts, er ging in Schuhen und seidenen Strümpfen durch den Schnee nach seinem Osmannstädt, verkühlte sich und starb.«[199]


816.*


1822, 23. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Da ich voraussah, daß meine Amtsgeschäfte in Hartenberg Sonnabend beendigt sein würden, antwortete ich auf Goethes Frage: »Am Sonnabende besehen wir doch wieder das Vincenzi-Fest?« bejahend und setzte hinzu: Und für den Nachmittag würde ich die Fahrt nach der Veste Seeberg vorschlagen, wo die Drahtmühlen und die romantische Gegend Eure Excellenz interessiren dürften.

Goethe stimmte bei.[199]


817.*


1822, 24. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Der Blitz schlug in den Dachstuhl des Bachmeyerschen Hauses ein, und fuhr durch das Gebälke in die Stube im zweiten Stockwerke. In der Oberdecke der Stube erblickte man die Öffnung, konnte aber keine[199] Spur entdecken, wohin sich dann der Blitz gewendet habe. Die Hausbewohner wollten behaupten, daß, weil das Bett gerade unter der Öffnung, durch welche der Blitz gefahren, stand, die Bettfedern die Materie des Blitzes aufgelöst haben müßten. Sie fügten noch bei, daß sie kein Beispiel wüßten, daß Jemand im Bette vom Blitze getroffen worden wäre.

Ich bemerkte zu Goethe: Sollte es Grund haben, daß, wie Seneca sagt, die vom Blitze Getödteten niemals auf dem Gesichte liegend, sondern gegen das Firmament sehend angetroffen werden? Goethe erwiederte, daß er die Erfahrung noch nicht gemacht habe.[200]


818.*


1822, 25. August.


Mit Joseph Sebastian Grüner

Wir stiegen zu Seeberg in der alten Veste ab .....

Goethe besichtigte die Drahtmühlen, und weil sie wegen des Sonntags nicht im Gange waren, ließ er sich die Manipulation erklären, erkundigte sich auch nach der Menge der Erzeugung und nach der Größe des Absatzes.

... Die sogenannte Schwedenschanze leitete das Gespräch auf den dreißigjährigen Krieg und auf Wallenstein.


[Grüner schloß eine Darlegung seiner geschichtlichen Forschungen mit den Worten:]


[200] Doch... ich komme wieder auf meine Lieblingsgegenstände, ohne zu bedenken, daß ich Eurer Excellenz lästig fallen könne.

Darauf Goethe: »Ihr Bestreben ist löblich, sollte aber die Lust zur Mineralogie diesem Eifer nicht einigen Abbruch thun?«

Allerdings, antwortete ich, aber bei meinen mineralogischen Excursionen genieße ich ein doppeltes Vergnügen, weil ich weiß, was an diesem oder jenem Orte sich einst Merkwürdiges zugetragen hat.[201]


819.*


1822, 26. August.


Mittag bei Joseph Sebastian Grüner

Zu diesem Mittagsmahle lud ich auch den hoffnungsvollen Sohn des Physikatsarztes Dr. Köstler ein, und machte Goethe auf die Fortschritte desselben in den Studien aufmerksam. Die Aufmunterung, welche Goethe dem jungen Manne zu Theil werden ließ, machte aus diesen einen bleibenden Eindruck.

Das Gespräch drehte sich meist um die Studien, und kam dann auch auf die jetzige deutsche Orthographie. »Laßt ihr mich mit eueren Schreibfehlern gehen,« sagte Goethe, »ich mache in jedem Brief Schreibfehler und keine Comma. Ich dictire meistens und sehe nicht nach. Sollte ich aber alle Briefe beantworten, so müßte ich ein eigenes Comptoir noch haben.«[201]


820.*


1822, 21. September.


Mit Friedrich Soret und Heinrich Meyer

Diesen Abend bei Goethe mit Hofrath Meyer. Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um Mineralogie, Chemie und Physik. Die Phänomene der Polarisation des Lichts schienen ihn besonders zu interessiren. Er zeigte mir verschiedene Vorrichtungen, größtentheils nach seinen eigenen Angaben construirt, und äußerte den Wunsch, mit mir einige Experimente zu machen.

Goethe ward im Laufe des Gesprächs immer freier und mittheilender. Ich blieb länger als eine Stunde, und er sagte mir beim Abschiede viel Gutes.

Seine Gestalt ist noch schön zu nennen, seine Stirn und Augen sind besonders majestätisch. Er ist groß und wohlgebaut und von so rüstigem Ansehen, daß man nicht wohl begreift, wie er sich schon seit Jahren hat für zu alt erklären können, um noch in Gesellschaft und an Hof zu gehen.[202]


821.*


1822, 24. September.


Abend bei Goethe

Den Abend bei Goethe zugebracht mit Meyer, Goethes Sohn, Frau von Goethe und seinem Arzt Rehbein. Goethe war heute besonders lebhaft. Er zeigte[202] mir [Soret] prächtige Lithographien (von Strixner nach Gemälden der Boisserée'schen Sammlung) aus Stuttgart, etwas so Vollkommenes in dieser Art, wie ich noch nicht gesehen. Darauf sprachen wir über wissenschaftliche Dinge, besonders über die Fortschritte der Chemie. Das Jod und das Chlor beschäftigten Goethe vorzugsweise; er sprach über diese Substanzen mit einem Erstaunen, als ob ihn die neuen Entdeckungen der Chemie ganz unvermuthet überrascht hätten. Er ließ sich etwas Jod hereinbringen und verflüchtete es vor unsern Augen an der Flamme einer Wachskerze, wobei er nicht verfehlte, uns den violetten Dunst bewundern zu lassen, als freudige Bestätigung eines Gesetzes seiner Theorie der Farben.[203]


822.*


1822, Herbst.


Mit der Familie Mendelssohn-Bartholdy


a.

Goethe, der Vornehme, Hohe, Ministerielle, um den Würde, Ruhm, Dichterglanz, Genie und Superiorität jeder Gattung eine blendende Strahlenkrone bilden, vor dem gemeine Sterbliche erbangen, ist so gütig, mild, freundlich, ja, väterlich gegen den Knaben, daß ich (Lea Mendelssohn geb. Salomon) nur mit dem innigsten Dank und freudiger Rührung mir diese beglückenden Bilder zurückrufen kann. Stundenlang sprach er mit[203] meinem Mann über Felix, herzlich lud er ihn ein, wieder längere Zeit bei ihm zu wohnen, mit sichtlichem Wohlgefallen ruhten seine Blicke auf ihm, und sein Ernst verwandelte sich in Heiterkeit, wenn er nach seinem Sinn phantasirt hatte. Da er gewöhnliche Musik nicht liebt, war sein Piano seit Felix' Abwesenheit unberührt geblieben, und er öffnete es ihm mit den Worten: »Komm und wecke mir all die geflügelten Geister, die lange darin geschlummert.« Und ein ander Mal: »Du bist mein David! Sollte ich krank und traurig werden, so banne die bösen Träume durch Dein Spiel; ich werde auch nie wie Saul den Speer nach Dir werfen .....« Auch gegen Fanny war er sehr gütig und herablassend; sie mußte ihm viel Bach spielen und seine von ihr componirten Lieder gefielen ihm außerordentlich, so wie ihn überhaupt erfreut, sich in Musik gesetzt zu sehen.


b.

Eines Abends erbat er [Goethe] sich von Felix eine Fuge von Bach, welche die junge Frau v. Goethe ihm bezeichnete. Felix wußte sie nicht auswendig, nur das Thema war ihm bekannt, und dies führte er nun in einem langen fugirten Satz durch. Goethe war entzückt, ging zu der Mutter, drückte ihr mit vieler Wärme die Hände und rief aus: »Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, daß ich mich an ihm erquicke.«[204]


1706.*


1822, Anfang October.


Mit Hans Christian Oersted

Goethe... hat in den späteren Jahren seines Lebens mit verdoppeltem Eifer dem Studium der Naturwissenschaften obgelegen und empfing mich wie ein Physiker den andern. Da ich ihm sagte, wie sehr es mich erfreue, daß meine Wissenschaft mich einem Manne näher geführt hätte, der schon seit meiner frühesten Jugend Gegenstand meiner Bewunderung gewesen sei, antwortete er mir: »Was kann wohl ein Mann in meinem Alter besser thun, als sich in die Arme der Natur zu werfen?« Ich verbrachte einen der schönsten Abende in seinem Familienkreise.[108]


823.*


1822, 3. December.


Abend bei Goethe

Bei Goethe in einer Abendgesellschaft. Die Herren Riemer, Coudray Meyer, Goethes Sohn und Frau von Goethe waren unter den Anwesenden.

Die Studenten in Jena sind in Aufstand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeschickt, um sie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle diese Lieder erhielten beim Vorlesen entschiedenen Beifall, besonders wegen des Talents, das darin sichtbar; Goethe selbst fand sie gut und versprach sie mir [Soret] zur ruhigen Durchsicht.

Nachdem wir daraus eine Zeit lang Kupferstiche und kostbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht »Charon« zu lesen. Die klare, deutliche und energische Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine so schöne Deklamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme, abwechselnd donnernd und dann wieder sanft und milde! Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum, in dem wir uns befangen; aber doch war in seinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünschen mögen.

[205] Goethe sprach darauf über Litteratur und seine Werke, sowie über Frau von Staël und Verwandtes. Er beschäftigt sich gegenwärtig mit der Übersetzung und Zusammenstellung der Fragmente vom »Phaëthon« des Euripides. Er hat diese Arbeit bereits vor einem Jahre angefangen und in diesen Tagen wieder vorgenommen.[206]


1707.*


1822, 16. December.


Mit Friedrich von Müller

Besuch... bei Goethe, den ich zum ersten Male wieder im Hinterstübchen traf. Ich erzählte ihm von Görres' Congreß von Verona, der mir großen Eindruck gemacht, er mir von Oerstedt's aus Kopenhagen Besuch. Es sei ein kleiner, gedrungener, ruhiger Mann,[108] in sich beschlossen, mittheilend, offen. Nur durch Reisen können neue Entdeckungen und Ansichten lebendig und rasch verbreitet werden. Er zeigte mir den Abdruck von Manzoni's Ode auf Napoleon's Tod und sein neues Trauerspiel Adelchi mit der handschriftlichen Dedication an Goethe.[109]


824.*


1822, 17. December.


Mit Friedrich Soret

Abends bei Goethe. Er war sehr heiter und behandelte das Thema, daß die Thorheiten der Väter für ihre Kinder verloren seien, mit vielem Geist. Die Nachforschungen, die man jetzt zur Entdeckung von Salzquellen anstellt, interessirten ihn sichtbar. Er schalt auf die Dummheit gewisser Unternehmer, welche die äußern Spuren und die Lage und Folge der Schichten, unter denen Steinsalz liegt und durch die der Bohrer gehen muß, ganz außer Acht lassen, und die, ohne den rechten Fleck zu wissen und zu finden, immer ein einziges Bohrloch an einer und derselben Stelle auf's Gerathewohl hartnäckig verfolgen.[206]


1708.*


1822, December.


Mit Friedrich von Müller

Nachmittags von 4-6 Uhr war ich bei Goethe, wo ich zwei Gebrüder Hasenclever aus der Gegend von Elberfeld traf, Verwandte von Nicolovius, die als Deputirte der Rheinlande in landständischen Angelegenheiten zu Berlin gewesen waren und ganz vergnügt heimkehrten. Unterrichte wackere Männer. Unbegreiflich war mir Goethe's Kälte gegen seinen früheren, genauen Freund Lavater, den er bei seiner Anwesenheit in Zürich [1797] nicht besuchte, ja sogar ihm auf der Straße, als er ihn mit seinem »Kranichsschritt« gewahrte, sofort auswich. »Denn« – sagte er – »in der Jugend glaubt man noch an die Möglichkeit einer Ausgleichung und Vereinbarung, in alten Jahren aber sieht man diesen großen Irrthum ein und hält das Ungleichartige und Unzusagende geradezu von sich ab.«[109]


825.*


1822 ungefähr.


Mit Ida Melos u.a.

Als Jugendgespielen der Enkel des Dichters, Wolfgang und Walther, waren die drei Töchter des Melosschen[206] Hauses gar vielfach in Goethes Hause, wie die beiden Knaben fast täglich zu ihnen herüber kamen. Goethe selbst, bis an sein Lebensende ein Kinderfreund, war allezeit gar liebevoll gegen seine Enkel und deren Gespielinnen; wenn ihm das kleine Volk über seinem Haupte zu viel Lärm machte, so schickte er ihnen als einzige Mahnung zur Ruhe eine Schachtel voll köstlicher Frankfurter Süßigkeiten, um welche sie Lotto spielen möchten; öfter auch warf er die Süßigkeiten aus den Fenstern seines Arbeitszimmers in den Garten hinab, wobei Ida die bevorzugte war. Oder er stand, in seinen langen grauen Hausrock gekleidet, die Arme auf dem Rücken, im Garten und sah den spielenden Kindern zu, wobei, schreibt Frau Freiligrath, die Enkel gar manchmal, wenn unsere Bälle höher flogen, oder unsere Reisen einen schöneren Bogen beschrieben, einen kleinen Tadel erhielten, wie: »Ei, die Mädchen beschämen Euch. Die Mädchen machen's besser.« Wolfgang lief sehr viel ungenirt beim Apapa ein und aus, und ich, als damals unzertrennliche Gefährtin, mit ihm, doch nie schien dieser über die Störung ungehalten oder ungeduldig, und immer hatte er ein paar freundliche Worte für uns. Einmal – es ist mir unvergeßlich und auch unerklärlich – gab er uns Geld und den Auftrag, von den längsten Zwiebelrespen, die wir finden könnten, einzukaufen und ihm zu bringen. Es war Zwiebelmarkt und eine ungeheure Menge dieser beliebten Südfrucht vor Goethes Hause ausgeboten. Wir durchliefen[207] die Reihen der ländlichen Verkäufer und Verkäuferinnen und wählten die schönsten und längsten der Zwiebelrespen, beluden uns damit und schleppten sie zu Goethe, der uns nun befahl, sie an einer Schnur über seinem Schreibtisch zu befestigen ..... Ein andermal, als Goethe in unserer Gegenwart seinen Rock wechselte und ich mich bemühte, ihm dabei behülflich zu sein, erhielt ich das Compliment: »Von so schönen Händen bin ich lange nicht bedient worden.«[208]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 4, S. 206-209.
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