1141.*
1828, Januar oder Februar.
So begab es sich denn, daß er [Goethe] mich einmal nach dem Mittagsessen in eine Fensterbrüstung manoeuvrirte und in seiner eigenthümlichen unbeschreiblichen Manier also sprach: »Nun, Sie haben sich ja bisher [beim Vorlesen von Dramen] recht brav gehalten, wie ich hörte. Sie müssen sich nicht wundern, daß ich Sie noch nicht gebeten habe, mir Ihre Sachen vorzumachen; ich habe Gründe dazu. Ihnen wird nicht fremd sein, daß wir zu unserer[265] Zeit uns auch mit dergleichen beschäftigt und viel darüber gedacht haben; nun hat man sich denn seine Ansichten über Declamation, Recitation, theatralischen Vortrag und besonders über die scharfen Unterscheidungen, die den Vorleser von Darsteller trennen, festgestellt, und da kommen denn die jungen Leute und werfen das alles über den Haufen. Nun, das ist ja recht schön! aber von uns Alten könnt Ihr nicht verlangen, daß wir sogleich ohne weiteres nachgeben sollen. Also ich sehe nur zwei Auswege: entweder Sie gewinnen mich für Ihre Künste – dann zwingen Sie mich, auf's neue darüber zu denken, und das würde mich stören; denn wir haben noch viel zu thun; oder es gelingt Ihnen nicht, mich irre zu machen und Sie befriedigen mich nicht – dann hätten wir beide keine Freude davon. Also denk ich, es sei besser, es bleibt, wie es ist. – Nun, wie gefällt es Ihnen in Weimar? Nicht wahr, es stickt (sic!) viel Bildung in dem Orte? Wir haben denn auch wohl das unsere dazu gethan.«
»Ew. Excellenz!« sagte ich fest; denn jetzt wollte ich doch etwas Positives mitnehmen: »ich soll morgen, die zu ›Faust‹ gehörige ›Helena‹ vorlesen: ich habe mir zwar alle Mühe damit gegeben, aber alles verstehe ich doch nicht. Möchten Sie mir nicht z.B. erklären, was eigentlich damit gemeint sei, wenn Faust an Helena's Seite die Landgebiete an einzelne Heerführer vertheilt? Ob eine bestimmte Andeutung. –« Er[266] ließ mich nicht ausreden, sondern unterbrach mich sehr freundlich: »Ja, ja, ihr guten Kinder! wenn Ihr nur nicht so dumm wäret!« Hierauf ließ er mich stehen.
Seine [Goethes] Pietät für Schiller war eine so innerlich tiefe, daß man davon wahrhaft ergriffen werden mußte. Ich hatte, als über ›Egmont‹ gesprochen wurde, einst die Bearbeitung, die Schiller für's Theater unternommen, zu tadeln gewagt und mein Erstaunen geäußert, daß sie noch immer auf der Weimarischen Bühne gelte. Den Blick des Alten werd' ich nie vergessen, mit dem er mich anblitzte und fast grimmig sagte: »Was wißt Ihr, Kinder! Das hat unser großer Freund besser verstanden, als wir.«[267]
1142.*
1828, Anfang März (?).
Hier, caro amico [v. Holtei] das Opus der Voigt [Lebensgeschichte der Caroline Kummerfeld geb. Schulz]... Die darin vorkommenden Geschichten sind toll genug; »Stella« verbürgt sich für die Wahrheit derselben, und ich, die ich die kleine, alte, sehr rechtliche Heldin noch persönlich gekannt habe, möchte es ebenfalls thun. Goethe hat mir erzählt, daß sie damals wirklich Furore gemacht,[267] und wie er als Student zum Sterben in sie verliebt gewesen und sich im Leipziger Parterre die Hände fast wundgeklatscht habe, wenn sie in dem Weiße'schen Trauerspiel als Julia auftrat und in der Scene, ehe sie den Trank nimmt, die Ottern und Schlangen und Kröten von ihrem weißatlasnen Reifrock herunterschlenkerte, die sie in ihrer Phantasie daran heraufkriechen sah.[268]
1143.*
1828, 6. März.
Ich traf gegen 4 Uhr Hofrath Meyer bei Goethe an. Letzterer war sehr munter, ja aufgeregt; wie ein Gewitter bei heiterm Himmel suchte er sich seiner Kraftfülle durch geistige Blitze und Donnerschläge zu entledigen. Knebeln über Meteorologie consultiren, äußerte Goethe, heiße den Barometer über den Barometer befragen. Voltaire habe gesagt, die Erde sei eine alte Coquette, die sich jung zu machen strebe. Die Atmosphäre sei auch so eine Coquette, die eine zeitlang geregelten Gang affectire, aber bald sich dem ersten besten Wind preis gebe.
Daß man über Wellington's Omnipotenz als Premier-Minister jetzt schelte, sei absurd; man sollte froh sein, daß er endlich seinen rechten Platz eingenommen; wer Indien und Napoleon besiegt habe, möge[268] wohl mit Recht über eine lumpige Insel herrschen. Wer die höchste Gewalt besitze, habe Recht; ehrfurchtsvoll müsse man sich vor ihm beugen. »Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es giebt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht ist mir einerlei; ich wäre ein Thor, mich darum zu bekümmern.
Wenn Alexander Humboldt und die andern Plutonisten mir's zu toll machen, werde ich sie schändlich blamiren; schon zimmere ich Xenien genug im Stillen gegen sie; die Nachwelt soll wissen, daß doch wenigstens ein gescheidter Mann in unserm Zeitalter gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute. Ich finde immer mehr, daß man es mit der Minorität, die stets die gescheidtere ist, halten muß.«
Als Meyer fragte, was es denn eigentlich heißen wolle, Plutonist oder Neptunist, sagte Goethe: »O danket Gott, daß Ihr nichts davon wißt, ich kann es auch nicht sagen, man könnte schon wahnsinnig werden, es nur auseinander zu setzen. Ohnehin bedeutet solch' ein Parteiname späterhin nichts mehr, löst sich in Rauch auf; die Leute wissen schon jetzt nicht mehr, was sie damit bezeichnen wollen. Ihr müßt verzeihen, wenn ich grob bin, ich schreibe jetzt eben in den Wanderjahren an der Rolle des Jarno, da spiele ich eine Weile auch im Leben den Grobian fort.
Was soll es nur hier in Weimar mit dem WitDöring[269] werden? Man wird es schon bereuen, ihn hier zu haben; in seinen Memoiren ist kein Funke Geist. Er ist zum steten Gefängniß von der Natur bestimmt; darin spielt er seine Streiche. Wär' ich Fürst, ich ließ ihn gleich wieder verhaften, damit er in sein Element zurück käme. Gesehen und gesprochen hab' ich ihn wohl einmal, warum nicht? als Phänomen; aber ich wäre ein Lump, wenn ich ihn zum zweiten Male sähe.
Der Großherzog ergötzt sich an seinem Hiersein, um einmal wieder sich an einer Gefahr zu laben, um einmal wieder einen zahmen Wolf zu haben, der unter seinen Hunden und Schafen herum renommire.
Der Kerl hat meine Abschiedsformel an ihn: ›Sie haben selbst drucken lassen, daß Sie verführerisch seien und daß man sich nicht zu viel mit Ihnen einlassen müsse,‹ günstig für sich gedeutet; das macht mir Spaß. Nun er erregt doch; darauf kommt Alles an, sei es durch Haß oder Liebe. Man muß nur immer sorgen erregt zu werden, um gegen die Depression anzukämpfen. Das ist auch bei jetziger deprimirender Witterung der beste medicinische Rath. Wer mit mir umgehen will, muß zuweilen auch meine Grobianslaune zugeben, ertragen, wie eines andern Schwachheit oder Steckenpferd. Der alte Meyer ist klug, sehr klug; aber er geht nur nicht heraus, widerspricht mir nicht, das ist fatal. Ich bin sicher, im Innern ist er noch zehnmal zum[270] Schimpfen geneigter als ich und hält mich noch für ein schwaches Licht. Er sollte nur aufpoltern und donnern, das gäbe ein prächtiges Schauspiel.«[271]
1144.*
1828, 11. März.
Ich bin seit mehreren Wochen nicht ganz wohl. Ich schlafe schlecht, und zwar in den unruhigsten Träumen vom Abend bis zum Morgen, wo ich mich in sehr verschiedenartigen Zuständen sehe, allerlei Gespräche mit bekannten und unbekannten Personen führe, mich herumstreite und zanke, und zwar alles so lebendig, daß ich mir jeder Einzelheit am andern Morgen noch deutlich bewußt bin. Dieses Traumleben aber zehrt von den Kräften meines Gehirns, sodaß ich mich am Tage schlaff und abgespannt fühle, zu jeder geistigen Thätigkeit ohne Lust und Gedanken.
Ich hatte Goethen wiederholt meinen Zustand geklagt, und er hatte mich wiederholt getrieben, mich doch meinem Arzte zu vertrauen. »Was Euch fehlt,« sagte er, »ist gewiß nicht der Mühe werth, wahrscheinlich nichts als eine kleine Stockung, die durch einige Gläser Mineralwasser oder ein wenig Salz zu heben ist. Aber laßt es nicht länger so fortschlendern, sondern thut dazu!«
Goethe mochte ganz recht haben, und ich sagte mir[271] selber, daß er recht habe; allein jene Unentschlossenheit und Unlust wirkte auch in diesem Falle, und ich ließ wiederum unruhige Nächte und schlechte Tage verstreichen, ohne das mindeste zur Abstellung meines Übels zu thun.
Als ich nun heute nach Tische abermals nicht ganz frei und heiter vor Goethe erschien, riß ihm die Geduld, und er konnte nicht umhin mich ironisch anzulächeln und mich ein wenig zu verhöhnen.
»Ihr seid der zweite Shandy,« sagte er, »der Vater jenes berühmten Tristram, den ein halbes Leben eine knarrende Thür ärgerte und der nicht zu dem Entschluß kommen konnte, seinen täglichen Verdruß durch ein paar Tropfen Öl zu beseitigen.
Aber so ist's mit uns allen! Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal! Es thäte uns noth, daß der Dämon uns täglich am Gängelbande führte und uns sagte und triebe, was immer zu thun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln.
Da war Napoleon ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vortheilhaft und nothwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, daß er sich in dem Zustande einer fortwährenden Erleuchtung[272] befunden; weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird.
Ja, ja, mein Guter, das war ein Kerl, dem wir es freilich nicht nachmachen können!«
Goethe schritt im Zimmer auf und ab. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt, der zwar bereits abgeräumt war, aber auf dem sich noch einige Reste Wein befanden nebst einigem Biskuit und Früchten.
Goethe schenkte mir ein und nöthigte mich, von beiden etwas zu genießen. »Sie haben zwar verschmäht,« sagte er, »diesen Mittag unser Gast zu sein, doch dürfte ein Glas von diesem Geschenk lieber Freunde Ihnen ganz wohl thun!«
Ich ließ mir so gute Dinge gefallen, während Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen und aufgeregten Geistes vor sich hin zu brummen und von Zeit zu Zeit unverständliche Worte herauszustoßen.
Das, was er soeben über Napoleon gesagt, lag mir im Sinn, und ich suchte das Gespräch auf jenen Gegenstand zurückzuführen.
»Doch scheint es mir,« begann ich, »daß Napoleon sich besonders in dem Zustande jener fortwährenden Erleuchtung befunden, als er noch jung und in aufsteigender Kraft war, wo wir denn auch einen göttlichen Schutz und ein beständiges Glück ihm zur Seite sehen. In spätern Jahren dagegen scheint ihn jene[273] Erleuchtung verlassen zu haben sowie sein Glück und sein guter Stern.«
»Was wollt Ihr!« erwiederte Goethe. »Ich habe auch meine Liebeslieder und meinen ›Werther‹ nicht zum zweiten Mal gemacht. Jene göttliche Erleuchtung, wodurch das Außerordentliche entsteht, werden wir immer mit der Jugend und der Productivität im Bunde finden, wie denn Napoleon einer der productivsten Menschen war, die je gelebt haben.
Ja, ja, mein Guter, man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um productiv zu sein, es giebt auch eine Productivität der Thaten, und die in manchen Fällen noch um ein Bedeutendes höher steht. Selbst der Arzt muß productiv sein, wenn er wahrhaft heilen will; ist er es nicht, so wird ihm nur hin und wieder wie durch Zufall etwas gelingen, imganzen aber wird er nur Pfuscherei machen.«
»Sie scheinen,« versetzte ich, »in diesem Falle Productivität zu nennen, was man sonst Genie nannte.«
»Beides sind auch sehr nahe liegende Dinge,« erwiederte Goethe. »Denn was ist Genie anders als jene productive Kraft, wodurch Thaten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind? Alle Werke Mozarts sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht[274] fortwirkt und sobald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte. Von andern großen Componisten und Künstlern gilt dasselbe. Wie haben nicht Phidias und Raphael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst erfand, sodaß im Laufe der Zeit ein Straßburger Münster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie; denn seine Gedanken haben fortwährend productive Kraft behalten und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie sehr bedeutender Art! er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird productiv zu sein, ist nicht abzusehen. Lessing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen, allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als sie lebten, für große Genies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die also weniger waren, als sie und andere dachten; denn, wie gesagt, es giebt kein Genie ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner, es kommt dabei gar nicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das einer treibt, es ist alles dasselbige. Ob einer sich in der Wissenschaft genial erweist, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung wie Friedrich, Peter der Große und Napoleon, oder ob einer ein Lieb macht wie Béranger, es ist alles gleich[275] und kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aperçu, die That lebendig sei und fortzuleben vermöge.
Und dann muß ich noch sagen: nicht die Masse der Erzeugnisse und Thaten, die von jemand ausgehen, deutet auf einen productiven Menschen. Wir haben in der Literatur Poeten, die für sehr productiv gehalten werden, weil von ihnen ein Band Gedichte nach dem andern erschienen ist. Nach meinem Begriffe aber sind diese Leute durchaus unproductiv zu nennen, denn was sie machten, ist ohne Leben und Dauer. Goldsmith dagegen hat so wenige Gedichte gemacht, daß ihre Zahl nicht der Rede werth, allein dennoch muß ich ihn als Poeten für durchaus productiv erklären, und zwar eben deswegen, weil das wenige, was er machte, ein inwohnendes Leben hat, das sich zu erhalten weiß.«
Es entstand eine Pause, während welcher Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen. Ich war indes begierig, über diesen wichtigen Punkt noch etwas weiteres zu hören, und suchte daher Goethen wieder in Anregung zu bringen.
»Liegt denn,« sagte ich, »diese geniale Productivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen, oder liegt sie auch im Körper?«
»Wenigstens,« erwiederte Goethe, »hat der Körper darauf den größten Einfluß. Es gab zwar eine Zeit, wo man in Deutschtand sich ein Genie als klein,[276] schwach, wohl gar buckelig dachte, allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen Körper hat.
Wenn man von Napoleon gesagt, er sei ein Mensch aus Granit, so gilt dieses besonders auch von seinem Körper. Was hat sich der nicht alles zugemuthet und zumuthen können! Von dem brennenden Sande der Syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau, welche Unsumme von Märschen, Schlachten und nächtlichen Bivouacs liegt da nicht in der Mitte! Und welche Strapazen und körperliche Entbehrungen hat er dabei nicht aushalten müssen! Wenig Schlaf, wenig Nahrung, und dabei immer in der höchsten geistigen Thätigkeit! Bei der fürchterlichen Anstrengung und Aufregung des 18. Brumaire ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tag noch nichts genossen, und ohne nun an seine körperliche Stärkung zu denken, fühlte er sich Kraft genug, um noch tief in der Nacht die bekannte Proclamation an das französische Volk zu entwerfen! Wenn man erwägt, was der alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ihm gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines vollkommenen Helden.
Aber Sie haben ganz recht: der eigentliche Glanzpunkt seiner Thaten fällt in die Zeit seiner Jugend. Und es wollte etwas heißen, daß einer aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Capacitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem[277] siebenundzwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu sein! Ja, ja, mein Guter, man muß jung sein, um große Dinge zu thun. Und Napoleon ist nicht der einzige.«
»Sein Bruder Lucian,« bemerkte ich, »war auch schon früh sehr hohen Dingen gewachsen. Wir sehen ihn als Präsidenten der Fünfhundert und darauf als Minister des Innern im kaum vollendeten fünfundzwanzigsten Jahre.«
»Was wollen Sie mit Lucian?« fiel Goethe ein. »Die Geschichte bietet uns der tüchtigsten Leute zu Hunderten, die sowohl im Cabinet als im Felde in noch jugendlichem Alter den bedeutendsten Dingen mit großem Ruhme vorstanden.
Wäre ich ein Fürst,« fuhr er lebhaft fort, »so würde ich zu meinen ersten Stellen nie Leute nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennetät nach und nach heraufgekommen sind und nun in ihrem Alter in gewohntem Gleise langsam gemächlich fortgehen, wobei denn freilich nicht viel Gescheites zu Tage kommt. Junge Männer wollte ich haben – aber es müßten Capacitäten sein, mit Klarheit und Energie ausgerüstet, und dabei vom besten Wollen und edelsten Character. Da wäre es eine Lust zu herrschen und sein Volk vorwärts zu bringen! Aber wo ist ein Fürst, dem es so wohl würde und der so gut bedient wäre!
Große Hoffnung setze ich auf den jetzigen Kronprinzen von Preußen. Nach allem, was ich von ihm[278] kenne und höre, ist er ein sehr bedeutender Mensch, und das gehört dazu, um wieder tüchtige und talentvolle Leute zu erkennen und zu wählen; denn man sage was man will: das Gleiche kann nur vom Gleichen erkannt werden, und nur ein Fürst, der selber große Fähigkeiten besitzt, wird wiederum große Fähigkeiten in seinen Unterthanen und Dienern gehörig erkennen und schätzen. Dem Talente offene Bahn! war der bekannte Spruch Napoleons, der freilich in der Wahl seiner Leute einen ganz besondern Takt hatte, der jede bedeutende Kraft an die Stelle zu setzen wußte, wo sie in ihrer eigentlichen Sphäre erschien, und der daher auch in seinem Leben bei allen großen Unternehmungen bedient war wie kaum ein anderer.«
Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu sein; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht. Merkwürdig war es mir, daß er, der selbst in so hohen Jahren noch einem bedeutenden Posten vorstand, so ganz entschieden der Jugend das Wort redete und die ersten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jünglingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter besetzt haben wollte. Ich konnte nicht umhin einige hochstehende deutsche Männer zu erwähnen, denen im hohen Alter die nöthige Energie und jugendliche Beweglichkeit zum Betriebe der bedeutendsten[279] und mannigfaltigsten Geschäfte doch keineswegs zu fehlen scheine.
»Solche Männer und ihresgleichen,« erwiederte Goethe, »sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtniß hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.
Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch, bei ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen. Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen auch während ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Productivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.
Aber jung ist jung, und wie mächtig auch eine Entelechie sich erweise, sie wird doch über das Körperliche nie ganz Herr werden, und es ist ein gewaltiger[280] Unterschied, ob sie an ihm einen Alliirten oder einen Gegner findet.
Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es gelang mir mit Leichtigkeit. Meine ›Geschwister‹ habe ich in drei Tagen geschrieben, meinen ›Clavigo‹, wie Sie wissen, in acht. Jetzt soll ich dergleichen wohl bleiben lassen; und doch kann ich über Mangel an Productivität selbst in meinem hohen Alter mich keineswegs beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen Umständen gelang, gelingt mir jetzt nur periodenweise und unter gewissen günstigen Bedingungen. Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des ›Diwan‹ in ihrer Gewalt hatten, war ich productiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich. Jetzt, am zweiten Theil meines ›Faust‹ kann ich nur in den frühen Stunden des Tags arbeiten, wo ich mich vom Schlaf erquickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Falle eine geschriebene Seite, in der Regel aber nur soviel als man auf den Raum einer Handbreit schreiben könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch weniger.«
»Giebt es denn im allgemeinen,« sagte ich, »kein[281] Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen oder, wenn sie nicht mächtig genug wäre, sie zu steigern?«
»Um diesen Punkt,« erwiederte Goethe, »steht es gar wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und zu sagen.
Jede Productivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm thut wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höhern Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohlthätig fortwirkte.
Sodann aber giebt es eine Productivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist[282] und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Plans Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerks ausmacht.
So kam Shakespearen der erste Gedanke zu seinem ›Hamlet‹, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und er die einzelnen Situationen, Charactere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als ein reines Geschenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Aperçu zu haben, immer einen Geist wie den seinigen voraussetzte. Die spätere Ausführung der einzelnen Scenen aber und die Wechselreden der Personen hatte er vollkommen in seiner Gewalt, sodaß er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte, wie es ihm nur beliebte. Und zwar sehen wir an allem, was er ausführte, immer die gleiche Kraft der Production, und wir kommen in allen seinen Stücken nirgends auf eine Stelle, von der man sagen könnte, sie sei nicht in der rechten Stimmung und nicht mit dem vollkommensten Vermögen geschrieben. Indem wir ihn lesen, erhalten wir von ihm den Eindruck eines geistig[283] wie körperlich durchaus und stets gesunden kräftigen Menschen.
Gesetzt aber, eines dramatischen Dichters körperliche Konstitution wäre nicht so fest und vortrefflich, und er wäre vielmehr häufigen Kränklichkeiten und Schwächlichkeiten unterworfen, so würde die zur täglichen Ausführung seiner Scenen nöthige Productivität sicher sehr häufig stocken und oft wohl tagelang gänzlich mangeln. Wollte er nun, etwa durch geistige Getränke, die mangelnde Productivität herbeinöthigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde das allenfalls auch wohl angehen, allein man würde es allen Scenen, die er auf solche Weise gewissermassen forcirt hätte, zu ihrem großen Nachtheil anmerken.
Mein Rath ist daher, nichts zu forciren und alle unproductiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als in solchen Tagen etwas ma chen zu wollen, woran man später keine Freude hat.«
»Sie sprechen,« erwiederte ich, »etwas aus, was ich selber sehr oft erfahren und empfunden und was man sicher als durchaus wahr und richtig zu verehren hat. Aber doch will mir scheinen, als ob wohl jemand durch natürliche Mittel seine productive Stimmung steigern könnte, ohne sie gerade zu forciren. Ich war in meinem Leben sehr oft in dem Fall, bei gewissen complicirten Zuständen zu keinem rechten Entschluß kommen zu können. Trank ich aber in solchen Fällen einige Gläser Wein, so war es mir klar, was zu thun[284] sei, und ich war auf der Stelle entschieden. Das Fassen eines Entschlusses ist aber doch auch eine Art Productivität, und wenn nun einige Gläser Wein diese Tugend bewirkten, so dürfte ein solches Mittel doch nicht ganz zu verwerfen sein.«
»Ihrer Bemerkung,« erwiederte Goethe, »will ich nicht widersprechen; was ich aber vorhin sagte, hat auch seine Richtigkeit; woraus wir denn sehen, daß die Wahrheit wohl einem Diamant zu vergleichen wäre, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen. Da Sie übrigens meinen ›Diwan‹ so gut kennen, so wissen Sie, daß ich selber gesagt habe:
Wenn man getrunken hat,
Weiß man das Rechte,
und daß ich Ihnen also vollkommen beistimme. Es liegen im Wein allerdings productivmachende Kräfte sehr bedeutender Art, aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem andern. Es liegen ferner productivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es ist als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte. Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strande des Meeres reitend, bald im Boote[285] segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der productivsten Menschen, die je gelebt haben.«
Goethe hatte sich mir gegenübergesetzt, und wir sprachen noch über allerlei Dinge. Dann verweilten wir wieder bei Lord Byron, und es kamen die mancherlei Unfälle zur Erwähnung, die sein späteres Leben getrübt, bis zuletzt ein zwar edles Wollen, aber ein unseliges Geschick ihn nach Griechenland geführt und vollends zu Grunde gerichtet.
»Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »werden Sie finden, daß im mittlern Leben eines Menschen häufig eine Wendung eintritt, und daß, wie ihn in seiner Jugend alles begünstigte und alles ihm glückte, nun mit einem Mal alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein Mißgeschick sich auf das andere häuft.
Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? – Der Mensch muß wieder ruinirt werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter von nöthen, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderm. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen andern: Mozart starb in seinem sechsunddreißigsten Jahre, Raphael in gleichem Alter, Byron nur um weniges älter. Alle aber hatten[286] ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit daß sie gingen, damit auch andern Leuten in dieser, auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu thun übrigbliebe.«
Es war indeß tief Abend geworden, Goethe reichte mir seine liebe Hand, und ich ging.[287]
1145.*
1828, 12. März.
Nachdem ich Goethe gestern Abend verlassen hatte, lag mir das mit ihm geführte bedeutende Gespräch fortwährend im Sinne.
Auch von den Kräften des Meeres und der Seeluft war die Rede gewesen, wo denn Goethe die Meinung äußerte, daß er alle Insulaner und Meeranwohner des gemäßigten Klimas bei weitem für productiver und thatkräftiger halte als die Völker im Innern großer Continente.
War es nun daß ich mit diesen Gedanken und mit einer gewissen Sehnsucht nach den belebenden Kräften des Meeres einschlief, genug, ich hatte in der Nacht folgenden anmuthigen und mir sehr merkwürdigen Traum.
Ich sah mich nämlich in einer unbekannten Gegend unter fremden Menschen überaus heiter und glücklich. Der schönste Sommertag umgab mich in einer reizenden[287] Natur, wie es etwa an der Küste des Mittelländischen Meeres im südlichen Spanien oder Frankreich oder in der Nähe von Genua sein möchte. Wir hatten mittags an einer lustigen Tafel gezecht, und ich ging mit andern, etwas jüngern Leuten, um eine weitere Nachmittagspartie zu machen. Wir waren durch buschige angenehme Niederungen geschlendert, als wir uns mit einem Male im Meere auf der kleinsten Insel sahen, auf einem herausragenden Felsstück, wo kaum fünf bis sechs Menschen Platz hatten und wo man sich nicht rühren konnte ohne Furcht, ins Wasser zu gleiten. Rückwärts, wo wir hergekommen waren, erblickte man nichts als die See, vor uns aber lag die Küste in der Entfernung einer Viertelstunde auf das einladendste ausgebreitet. Das Ufer war an einigen Stellen flach, an andern felsig und mäßig erhöht, und man erblickte zwischen grünen Lauben und weißen Zelten ein Gewimmel lustiger Menschen in hellfarbigen Kleidern, die sich bei schöner Musik, die aus den Zelten herübertönte, einen guten Tag machten. »Da ist nun weiter nichts zu thun,« sagte einer zum andern, »wir müssen uns entkleiden und hinüberschwimmen.« – »Ihr habt gut reden,« sagte ich, »ihr seid jung und schön und überdies gute Schwimmer. Ich aber schwimme schlecht und es fehlt mir die ansehnliche Gestalt, um mit Lust und Behagen vor den fremden Leuten am Ufer zu erscheinen.« – »Du bist ein Thor,« sagte einer der schönsten; »entkleide dich nur und gieb mir deine[288] Gestalt, du sollst indeß die meinige haben.« Auf dieses Wort entkleidete ich mich schnell und war im Wasser und fühlte mich im Körper des andern sofort als einen kräftigen Schwimmer. Ich hatte bald die Küste erreicht und trat mit dem heitersten Vertrauen nackt und triefend unter die Menschen. Ich war glücklich im Gefühl dieser schönen Glieder, mein Benehmen war ohne Zwang, und ich war sogleich vertraut mit den Fremden vor einer Laube an einem Tische, wo es lustig herging. Meine Kameraden waren auch nach und nach ans Land gekommen und hatten sich zu uns gesellt, und es fehlte nur noch der Jüngling mit meiner Gestalt, in dessen Gliedern ich mich so wohl fühlte. Endlich kam auch er in die Nähe des Ufers, und man fragte mich, ob ich denn nicht Lust habe, mein früheres Ich zu sehen. Bei diesen Worten wandelte mich ein gewisses Unbehagen an, theils weil ich keine große Freude an mir selber zu haben glaubte, theils auch weil ich fürchtete, jener Freund möchte seinen eigenen Körper sogleich zurückverlangen. Dennoch wandte ich mich zum Wasser und sah mein zweites Selbst ganz nahe heranschwimmen und, indem er den Kopf etwas seitwärts wandte, lachend zu mir heraufblicken. »Es steckt keine Schwimmkraft in deinen Gliedern,« rief er mir zu; »ich habe gegen Wellen und Brandung gut zu kämpfen gehabt, und es ist nicht zu verwundern, daß ich so spät komme und von allen der letzte bin.« Ich erkannte sogleich das Gesicht, es war das meinige, aber verjüngt und etwas[289] voller und breiter und von der frischesten Farbe. Jetzt trat er ans Land, und indem er, sich aufrichtend, auf dem Sande die ersten Schritte that, hatte ich den Überblick seines Rückens und seiner Schenkel und freute mich über die Vollkommenheit dieser Gestalt. Er kam das Felsufer herauf zu uns andern, und als er neben mich trat, hatte er vollkommen meine neue Größe. Wie ist doch, dachte ich bei mir selbst, dein kleiner Körper so schön herangewachsen! Haben die Urkräfte des Meeres so wunderbar auf ihn gewirkt, oder ist es weil der jugendliche Geist des Freundes die Glieder durchdrungen hat? Indem wir darauf eine gute Weile vergnügt beisammen gewesen, wunderte ich mich imstillen, daß der Freund nicht that als ob er seinen eigenen Körper einzutauschen Neigung habe. Wirklich, dachte ich, sieht er auch so recht stattlich aus, und es könnte ihm im Grunde einerlei sein; mir aber ist es nicht einerlei, denn ich bin nicht sicher, ob ich in jenem Leibe nicht wieder zusammengehe und nicht wieder so klein werde wie zuvor. Um über diese Angelegenheit ins Gewisse zu kommen, nahm ich meinen Freund auf die Seite und fragte ihn, wie er sich in meinen Gliedern fühle. »Vollkommen gut,« sagte er; »ich habe dieselbe Empfindung meines Wesens und meiner Kraft wie sonst. Ich weiß nicht was du gegen deine Glieder hast, sie sind mir völlig recht, und du siehst, man muß nur etwas aus sich machen. Bleibe in meinem Körper so lange du Lust hast; denn ich bin vollkommen zufrieden,[290] für alle Zukunft in dem deinigen zu verharren.« Über diese Erklärung war ich sehr froh, und indem auch ich in allen meinen Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen mich völlig wie sonst fühlte, kam mir im Traum der Eindruck einer vollkommenen Unabhängigkeit unserer Seele und der Möglichkeit einer künftigen Existenz in einem andern Leibe.
»Ihr Traum ist sehr artig,« sagte Goethe, als ich ihm heute nach Tische die Hauptzüge davon mittheilte. »Man sieht,« fuhr er fort, »daß die Musen Sie auch im Schlaf besuchen, und zwar mit besonderer Gunst; denn Sie werden gestehen, daß es Ihnen im wachen Zustande schwer werden würde, etwas so Eigenthümliches und Hübsches zu erfinden.«
»Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin,« erwiederte ich; »denn ich fühlte mich alle die Tage her so niedergeschlagenen Geistes, daß die Anschauung eines so frischen Lebens mir sehr fern stand.«
»Es liegen in der menschlichen Natur wunderbare Kräfte,« erwiederte Goethe, »und eben wenn wir es am wenigsten hoffen, hat sie etwas Gutes für uns in Bereitschaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Thränen einschlief, aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten und zu beglücken, und ich stand am andern Morgen wieder frisch und froh auf den Füßen.
Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder[291] weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und complicirt, unsere Nahrung und Lebensweise ist ohne die rechte Natur, und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. Jedermann ist fein und höflich, aber niemand hat den Muth, gemüthlich und wahr zu sein, sodaß ein redlicher Mensch mit natürlicher Neigung und Gesinnung einen recht bösen Stand hat. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.
Denkt man sich bei deprimirter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es einem oft vor als wäre die Welt nach und nach zum Jüngsten Tage reif. Und das Übel häuft sich von Generation zu Generation! Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit unsern eigenen vermehrt, unsern Nachkommen.«
»Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf,« versetzte ich; »allein wenn ich sodann irgend ein Regiment deutscher Dragoner an mir vorüberreiten sehe und die Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, so schöpfe ich wieder einigen Trost, und ich sage mir, daß es denn doch um die Dauer der Menschheit noch nicht so gar schlecht stehe.«
»Unser Landvolk,« erwiederte Goethe, »hat sich freilich fortwährend in guter Kraft erhalten und wird[292] hoffentlich noch lange imstande sein, uns nicht allein tüchtige Reiter zu liefern, sondern uns auch vor gänzlichem Verfall und Verderben zu sichern. Es ist als ein Depot zu betrachten, aus dem sich die Kräfte der sinkenden Menschheit immer wieder ergänzen und anfrischen. Aber gehen Sie einmal in unsere großen Städte, und es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten ›Hinkenden Teufels‹ oder eines Arztes von ausgedehnter Praxis, und er wird Ihnen Geschichten zuflüstern, daß Sie über das Elend erschrecken und über die Gebrechen erstaunen, von denen die menschliche Natur heimgesucht ist und an denen die Gesellschaft leidet.
Doch wir wollen uns der hypochondrischen Gedanken entschlagen! Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Wie haben Sie sonst heute gelebt? Erzählen Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken!«
»Ich habe in Sterne gelesen,« erwiederte ich, »wo Yorik in den Straßen von Paris umherschlendert und die Bemerkung macht, daß der zehnte Mensch ein Zwerg sei. Ich dachte soeben daran, als Sie der Gebrechen der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich, zur Zeit Napoleons unter der französischen Infanterie ein Bataillon gesehen zu haben, das aus lauter Parisern bestand, und welches alles so schmächtige kleine Leute waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege mit ihnen wolle ausrichten.«
[293] »Die Bergschotten des Herzogs von Wellington,« versetzte Goethe, »mögen freilich andere Helden gewesen sein!«
»Ich habe sie ein Jahr vor der Waterlooschlacht in Brüssel gesehen,« erwiederte ich. »Das waren in der That schöne Leute! Alle stark, frisch und behende, wie aus der ersten Hand Gottes. Sie trugen alle den Kopf so frei und froh und schritten mit ihren kräftigen nackten Schenkeln so leicht einher, als gebe es für sie keine Erbsünde und keine Gebrechen der Väter.«
»Es ist ein eigenes Ding,« erwiederte Goethe – »liegt es in der Abstammung, liegt es im Boden, liegt es in der freien Verfassung, liegt es in der gesunden Erziehung – genug die Engländer überhaupt scheinen vor vielen andern etwas vorauszuhaben. Wir sehen hier in Weimar ja nur ein Minimum von ihnen und wahrscheinlich keineswegs die besten, aber was sind das alles für tüchtige, hübsche Leute! Und so jung und siebzehnjährig sie hier auch ankommen, so fühlen sie sich doch in dieser deutschen Fremde keineswegs fremd und verlegen; vielmehr ist ihr Auftreten und ihr Benehmen in der Gesellschaft so voller Zuversicht und so bequem, als wären sie überall die Herren und als gehöre die Welt überall ihnen. Das ist es denn auch, was unsern Weibern gefällt und wodurch sie in den Herzen unserer jungen Dämchen so viele Verwüstungen anrichten. Als deutscher Hausvater, dem die Ruhe der Seinigen lieb ist, empfinde ich oft ein kleines Grauen,[294] wenn meine Schwiegertochter mir die erwartete baldige Ankunft irgend eines neuen jungen Insulaners ankündigt. Ich sehe im Geiste immer schon die Thränen, die ihm dereinst bei seinem Abgange fließen werden. Es sind gefährliche junge Leute; aber freilich, daß sie gefährlich sind, das ist eben ihre Tugend.«
»Ich möchte jedoch nicht behaupten,« versetzte ich, »daß unsere Weimarischen jungen Engländer gescheiter, geistreicher, unterrichteter und von Herzen vortrefflicher wären als andere Leute auch.«
»In solchen Dingen, mein Bester,« erwiederte Goethe, »liegts nicht. Es liegt auch nicht in der Geburt und im Reichthum; sondern es liegt darin, daß sie eben die Courage haben, das zu sein, wozu die Natur sie gemacht hat. Es ist an ihnen nichts verbildet und verbogen, es sind an ihnen keine Halbheiten und Schiefheiten, sondern wie sie auch sind, es sind immer durchaus complette Menschen. Auch complette Narren mitunter, das gebe ich von Herzen zu; allein es ist doch was und hat doch auf der Wage der Natur immer einiges Gewicht.
Das Glück der persönlichen Freiheit, das Bewußtsein des englischen Namens und welche Bedeutung ihm bei andern Nationen beiwohnt, kommt schon den Kindern zugute, sodaß sie sowohl in der Familie als in den Unterrichtsanstalten mit weit größerer Achtung behandelt werden und einer weit glücklich-freiern Entwickelung genießen als bei uns Deutschen.
[295] Ich brauche nur in unserm lieben Weimar zum Fenster hinauszusehen, um gewahr zu werden wie es bei uns steht. Als neulich der Schnee lag und meine Nachbarskinder ihre kleinen Schlitten auf der Straße probiren wollten, sogleich war ein Polizeidiener nahe, und ich sah die armen Dingerchen fliehen so schnell sie konnten. Jetzt, wo die Frühlingssonne sie aus den Häusern lockt und sie mit ihresgleichen vor ihren Thüren gern ein Spielchen machten, sehe ich sie immer genirt, als wären sie nicht sicher und als fürchteten sie das Herannahen irgend eines polizeilichen Machthabers. Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen, oder singen, oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, sodaß am Ende nichts übrigbleibt als der Philister.
Sie wissen, es vergeht bei mir kaum ein Tag, wo ich nicht von durchreisenden Fremden besucht werde. Wenn ich aber sagen sollte, daß ich an den persönlichen Erscheinungen, besonders junger deutscher Gelehrten aus einer gewissen nordöstlichen Richtung, große Freude hätte, so müßte ich lügen. Kurzsichtig, blaß, mit eingefallener Brust, jung ohne Jugend: das ist das Bild der meisten wie sie sich mir darstellen. Und wie ich mit ihnen mich in ein Gespräch einlasse, habe ich sogleich zu bemerken, daß ihnen dasjenige, woran unsereiner Freude hat, nichtig und trivial erscheint, daß sie[296] ganz in der Idee stecken und nur die höchsten Probleme der Speculation sie zu interessiren geeignet sind. Von gesunden Sinnen und Freude am Sinnlichen ist bei ihnen keine Spur, alles Jugendgefühl und alle Jugendlust ist bei ihnen ausgetrieben, und zwar unwiederbringlich; denn wenn einer in seinem zwanzigsten Jahre nicht jung ist, wie soll er es in seinem vierzigsten sein!«
Goethe seufzte und schwieg.
Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahrhunderts, in welche Goethes Jugend fiel; es trat mir die Sommerluft von Sesenheim vor die Seele, und ich erinnerte ihn an die Verse:
Nachmittage saßen wir
Junges Volk im Kühlen.
»Ach,« seufzte Goethe, »das waren freilich schöne Zeiten! – Doch wir wollen sie uns aus dem Sinne schlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegenwart nicht ganz unerträglich werden.«
»Es thäte noth,« sagte ich, »daß ein zweiter Erlöser käme, um den Ernst, das Unbehagen und den ungeheuren Druck der jetzigen Zustände uns abzunehmen.«
»Käme er,« antwortete Goethe, »man würde ihn zum zweiten Male kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs ein so Großes. Könnte man nur den Deutschen, nach dem Vorbilde der Engländer, weniger Philosophie und mehr Thatkraft, weniger Theorie und[297] mehr Praxis beibringen, so würde uns schon ein gutes Stück Erlösung zutheil werden, ohne daß wir auf das Erscheinen der persönlichen Hoheit eines zweiten Christus zu warten brauchten. Sehr viel könnte geschehen von unten, vom Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, sehr viel von oben durch die Herrscher und ihre Nächsten.
So z.B. kann ich nicht billigen, daß man von den studirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele theoretisch gelehrte Kenntnisse verlangt, wodurch die jungen Leute vor der Zeit geistig wie körperlich ruinirt werden. Treten sie nun hierauf in den praktischen Dienst, so besitzen sie zwar einen ungeheuren Vorrath an philosophischen und gelehrten Dingen, allein er kann in dem beschränkten Kreise ihres Berufs gar nicht zur Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder vergessen werden. Dagegen aber was sie am meisten bedurften, haben sie eingebüßt: es fehlt ihnen die nöthige geistige wie körperliche Energie, die bei einem tüchtigen Auftreten im praktischen Verkehr ganz unerläßlich ist.
Und dann: bedarf es denn im Leben eines Staatsdieners, in Behandlung der Menschen, nicht auch der Liebe und des Wohlwollens? Und wie soll einer gegen andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn es ihm selber nicht wohl ist!
Es ist aber den Leuten allen herzlich schlecht! Der dritte Theil der an den Schreibtisch gefesselten[298] Gelehrten und Staatsdiener ist körperlich anbrüchig und dem Dämon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es noth, von oben her einzuwirken, um wenigstens künftige Generationen vor ähnlichem Verderben zu schützen.
Wir wollen indeß,« fügte Goethe lächelnd hinzu, »hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstracte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein.«[299]
1146.*
1828, 16. Mai.
Mit Goethe spazieren gefahren. Er amusirte sich an der Erinnerung seiner Streitigkeiten mit Kotzebue und Konsorten und recitirte einige sehr lustige Epigramme gegen den ersteren, die übrigens mehr spaßhaft als verletzend waren. Ich fragte ihn, warum er sie nicht in seine Werke aufgenommen. »Ich habe eine ganze Sammlung solcher Gedichtchen,« erwiederte Goethe, »die ich geheimhalte und nur gelegentlich den vertrautesten meiner Freunde zeige. Es war dies die einzige unschuldige Waffe, die mir gegen die Angriffe meiner Feinde zu Gebote stand. Ich machte mir dadurch im stillen Luft und befreite und reinigte mich dadurch von dem fatalen Gefühl des Mißwollens, das[299] ich sonst gegen die öffentlichen und oft boshaften Häkeleien meiner Gegner hätte empfinden und nähren müssen. Durch jene Gedichtchen habe ich mir also persönlich einen wesentlichen Dienst geleistet. Aber ich will nicht das Publicum mit meinen Privathändeln beschäftigen oder noch lebende Personen dadurch verletzen. In späterer Zeit jedoch wird sich davon dies oder jenes ganz ohne Bedenken mittheilen lassen.«[300]
1147.*
1828, 6. Juni.
Der König von Bayern sandte vor einiger Zeit seinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um das Portrait Goethes zu machen. Als eine Art Empfehlungsbrief und als Zeugniß seiner Geschicklichkeit brachte Stieler das vollendete lebensgroße Bildniß eines sehr schönen jungen Frauenzimmers mit, nämlich das der Münchener Schauspielerin Fräulein von Hagn. Goethe gewährte darauf Herrn Stieler alle gewünschten Sitzungen, und sein Bild ward nun vor einigen Tagen fertig.
Diesen Mittag war ich bei ihm zu Tische und zwar allein. Beim Dessert stand er auf und führte mich in das den Speisesaal angrenzende Cabinet und zeigte mir die jüngst vollendete Arbeit Stielers. Darauf, sehr geheimnißvoll, führte er mich weiter in das sogenannte Majolikazimmer, wo sich das Bild der schönen[300] Schauspielerin befand. »Nicht wahr,« sagte er, nachdem wir es eine Weile betrachtet, »das ist der Mühe werth! Stieler war gar nicht dumm! Er brauchte diesen schönen Bissen bei mir als Lockspeise, und indem er mich durch solche Künste zum Sitzen brachte, schmeichelte er meiner Hoffnung, daß auch jetzt unter seinem Pinsel ein Engel entstehen würde, indem er den Kopf eines Alten malte.«[301]
1148.*
1828, 15. Juni.
Wir hatten nicht lange am Tisch gesessen, als [der Hofschauspieler] Herr Seidel mit den Tirolern sich melden ließ. Die Sänger wurden ins Gartenzimmer gestellt, sodaß sie durch die offenen Thüren gut zu sehen und ihr Gesang aus dieser Ferne gut zu hören war. Herr Seidel setzte sich zu uns an den Tisch. Die Lieder und das Gejodel der heitern Tiroler behagte uns jungen Leuten; Fräulein Ulrike und mir gefiel besonders der ›Strauß‹ und ›Du, du liegst mir im Herzen‹, wovon wir uns den Text ausbaten. Goethe selbst erschien keineswegs so entzückt als wir andern. »Wie Kirschen und Beeren behagen,« sagte er, »muß man Kinder und Sperlinge fragen.« Zwischen den Liedern spielten die Tiroler allerlei nationale Tänze auf einer Art von liegenden Zithern, von einer hellen Querflöte begleitet.
[301] Der junge Goethe wird hinausgerufen und kommt bald wieder zurück. Er geht zu den Tirolern und entläßt sie. Er setzt sich wieder zu uns an den Tisch. Wir sprechen von ›Oberon‹, und daß so viele Menschen von allen Ecken herbeigeströmt, um diese Oper zu sehen, sodaß schon Mittags keine Billets mehr zu haben gewesen. Der junge Goethe hebt die Tafel auf. »Lieber Vater,« sagt er, »wenn wir aufstehen wollten! Die Herren und Damen wünschen vielleicht etwas früher ins Theater zu gehen.« Goethen erscheint diese Eile wunderlich, da es noch kaum vier Uhr ist, doch fügt er sich und steht auf, und wir verbreiten uns in den Zimmern. Herr Seidel tritt zu mir und einigen andern und sagt leise und mit betrübtem Gesicht: »Eure Freude auf das Theater ist vergeblich, es ist keine Vorstellung, der Großherzog ist todt! Auf der Reise von Berlin hierher ist er gestorben.« Eine allgemeine Bestürzung verbreitete sich unter uns. Goethe kommt herein, wir thun als ob nichts passirt wäre und sprechen von gleichgültigen Dingen. Goethe tritt mit mir ans Fenster und spricht über die Tiroler und das Theater. »Sie gehen heut in meine Loge,« sagte er, »Sie haben Zeit bis sechs Uhr; lassen Sie die andern und bleiben Sie bei mir, wir schwätzen noch ein wenig.« Der junge Goethe sucht die Gesellschaft fortzutreiben, um seinem Vater die Eröffnung zu machen, ehe der Kanzler, der ihm vorhin die Botschaft gebracht, zurückkommt. Goethe kann das wunderliche Eilen und Drängen seines[302] Sohnes nicht begreifen und wird darüber verdrießlich. »Wollt ihr denn nicht erst euern Kaffee trinken,« sagt er, »es ist ja kaum vier Uhr!« Indeß gingen die übrigen, und auch ich nahm meinen Hut. »Nun, wollen Sie auch gehen?« sagte Goethe, indem er mich verwundert ansah. – Ja, sagte der junge Goethe, Eckermann hat auch vor dem Theater noch etwas zu thun. – »Ja,« sagte ich, »ich habe noch etwas vor.« – »So geht denn,« sagte Goethe, indem er bedenklich den Kopf schüttelte, »aber ich begreife euch nicht.«
Wir gingen mit Fräulein Ulrike in die obern Zimmer; der junge Goethe aber blieb unten, um seinem Vater die unselige Eröffnung zu machen.1
Ich sah Goethe darauf spät am Abend. Schon ehe ich zu ihm ins Zimmer trat, hörte ich ihn seufzen und laut vor sich hinreden. Er schien zu fühlen, daß in sein Dasein eine unersetzliche Lücke gerissen worden. Allen Trost lehnte er ab und wollte von dergleichen nichts wissen. »Ich hatte gedacht,« sagte er, »ich wollte vor ihm hingehen; aber Gott fügt es, wie er es für gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu tragen und uns emporzuhalten, so gut und so lange es gehen will.«
1 Somit die Erzählung H. Döring's in »Schiller und Goethe« S. 153 f. kecke Lüge![303]
1149.*
1828, 7. Juli.
Abends zwischen 7 und 8 Uhr kam Goethe [in Dornburg] an. Ich empfing und geleitete ihn auf sein Zimmer. Als ich mit ihm zu sprechen begann, konnte ich mich der Thränen nicht enthalten. »Ja, Sie weinen,« sprach er zu mir; »Ich weiß warum Sie weinen. Sie haben auch viel an unserm guten Großherzog Karl August verloren. Aber geben Sie sich zufrieden; denn auch der jetzige Großherzog Karl Friedrich ist ein liebenswürdiger, guter Fürst und wird Sie auch gewiß nicht verlassen.« Bei diesen Worten konnte aber auch Goethe die Thränen nicht zurückhalten. Er theilte mir dann mit, daß in Weimar seines Bleibens nicht mehr gewesen sei, und daß es ihm auch in Jena, wohin er gegangen, nicht behagt habe; da er nun von dem verstorbenen Großherzog Karl August wiederholt aufgefordert worden sei und ihn auch jetzt die verwittwete Frau Großherzogin Louise veranlaßt habe, seinen zeitweiligen Aufenthalt in Dornburg zu nehmen, so habe er von dem erneuerten Anerbieten Gebrauch gemacht. Seine Antwort auf die darauf von mir an ihn gerichtete Frage, ob er mit der von mir getroffenen Einrichtung seiner Wohnung zufrieden sei, war eine freundlich bejahende.[304]
1150.*
1828, die nächsten Tage nach 7. Juli.
Am Morgen nach der Ankunft Goethes erhielt er, wie an den folgenden Tagen, den Kaffee früh 6 Uhr aus meiner Küche; das Frühstück wurde um 10 Uhr, das Mittagsessen um 1 Uhr aus dem Rathskeller geholt. Beides behagte ihm nicht. Bald stellte sich daher der Secretär John wieder bei mir ein, um mir die Noth zu klagen. Ich machte den Vorschlag, das Essen bei dem Gastwirth »Zum Schieferhof« in dem, eine Viertelstunde entfernten, am Fuße Dornburgs gelegenen Dorfe Naschhausen zu bestellen. Man ging auf meinen Vorschlag ein, aber auch hier war Goethe nicht zufrieden. Beim Mittagsessen am folgenden Tage äußerte er gegen seinen Bedienten: bei dieser Kost könne er nicht bestehen; der Kaffee sei zwar sehr gut, aber davon allein könne er nicht existiren. Er trug nun John auf, nochmals Rücksprache mit mir zu nehmen und mir zu sagen, der Hofmarschall von Spiegel habe ihm gesagt, daß er sich wegen der Beköstigung nur an mich wenden möge; wolle ich dieselbe aber durchaus nicht übernehmen, so sehe er sich genöthigt am an dern Tage wieder von Dornburg abzureisen. Der Secretär John stellte mir das Unangenehme der Situation Goethes so lebhaft vor und drang so sehr in mich, außer Goethe doch auch ihn, den Bedienten[305] und Kutscher mit an den Tisch zu nehmen, daß ich mich endlich nach vielem Sträuben dazu bereit erklärte ..... Ich sandte nun Boten auf die umliegenden Dörfer nach Geflügel, Fischen und Aalen, nach Tautenburg an den Leibjäger Ciliax nach Wildpret aus. Meine Küche war bald bestellt, um die Zubereitung der Speise durch meine Frau durfte ich ohne Sorge sein. Schon nach dem ersten Frühstück äußerte Goethe gegen seinen Bedienten: »Das ist ein guter Anfang!« und bei dem, aus fünf Gängen bestehenden Mittagsessen: »Das lasse ich mir gefallen!« Nach Tische kam Goethe selbst zu mir, klopfte mich auf die Achsel und sagte: »Fahren Sie so fort, guter Freund! Auf diese Art werden Sie mich aber sobald nicht loswerden.«
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Goethe hatte seine eigene Equipage mitgebracht, fuhr jedoch wenig aus; als ich daher etwa acht Tage nach seiner Ankunft einmal bei ihm auf dem Zimmer war, sagte er: seine Pferde müßten ja steif werden, da er sie so wenig brauche, er wolle sie doch lieber zurückschicken, da die Seinigen immer Geschirr brauchten; wolle er einmal wegfahren, so könne man ja wohl hier ein Geschirr bekommen. Ich erwiederte: »Ja wohl! Ich darf nur, wenn es Ew. Excellenz wünschen, zu dem großherzoglichen Kammergutspachter Liesegang gehen, von welchem Sie gewiß stets Geschirr bekommen werden.« Er schickte nun seine Equipage nach Weimar[306] zurück und bediente sich der des Kammergutpachters, während Sohn und Schwiegertochter erstere fleißig benutzten, um nach Dornburg zu fahren. Gewöhnlich brachte Frau v. Goethe etwas Gemüse, namentlich Blumenkohl mit, welchen Goethe sehr gern aß, der aber hier nicht aufzubringen war. Auch feines Backwerk, Torten und dergleichen, brachte Frau von Goethe mit. Zwar war er davon kein Freund, da er aber täglich Gäste bei sich sah, so wurde das Backwerk, nachdem meine Frau und meine Kinder davon erhalten hatten, mit auf die Tafel gegeben. Große Schmausereien liebte Goethe überhaupt nicht. Eines Tages sagte er mir: Wenn zu Mittag kein Besuch käme, so seien so vielerlei Gerichte überflüssig. Während seines ganzen Aufenthalts in Dornburg hat es sich indessen, die beiden ersten Tage ausgenommen, nur einmal getroffen, daß er allein speiste; denn noch am letzten Tage seines Hierseins waren Schwiegertochter und Enkelchen bei ihm zu Mittag, worauf sie mit ihm nach Weimar zurückkehrten.
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Nachdem er acht bis zehn Tage hier war, benachrichtigte er mich, daß er von dem Großherzog Karl Friedrich einen Brief erhalten habe, in welchem derselbe seine Freude ausspreche, daß es ihm in Dornburg so wohl gefalle, und ihm, falls ihm die Wohnung nicht behage, anbiete, in das mittlere Schloß überzusiedeln; ich könne den Brief lesen: er liege auf seinem[307] Arbeitstische; überhaupt gestatte er mir, alle Schriften zu lesen, welche auf dem Tische lägen. Ich machte von diesem überaus freundlichen Anerbieten so wenig Gebrauch, wie er von dem des Großherzogs: mir blieb zum Lesen keine Zeit übrig, und ihm gefiel es in den, ihm anfangs zugewiesenen bescheidenen Räumen. Er meinte auch: es schicke sich doch nicht für ihn in den Zimmern zu wohnen, in welchen die höchsten Herrschaften bei ihrem Hiersein zu logiren pflegten; doch bat er mich, ihm die Schlüssel zu dem mittleren Schlosse anzuvertrauen, um von nun seine Besuche in dem Saale desselben zu empfangen, da ja doch auch oft sehr hochgestellte Personen bei ihm vorsprächen.[308]
1151.*
1828, nach Mitte Juli.
Nach kaum achttägigem Aufenthalte in Dornburg bezahlte er dem Barbier Schmidt ein Rasirmesser und eine Streichschale mit einem Ducaten, während Schmidt für beides nur zwei Thaler gefordert hatte. Bei dieser Gelegenheit richtete er an Schmidt die Frage, ob er nicht seinen Bedienten das Rasiren lehren wolle; er werde dafür erkenntlich sein. Es könne ja wohl der Fall eintreten, daß derselbe zu einer Herrschaft käme, wo es gern gesehen würde, wenn der Bediente zugleich diese Function verrichten könne. – Schmidt wurde bei der Abreise Goethes reichlich belohnt.
[308] Als mir Goethe von der Bereitwilligkeit Schmidt's, den Bedienten im Barbieren zu unterweisen, Mittheilung gemacht hatte, fügte er hinzu: es sei angenehm und für das spätere Fortkommen gewiß sehr zweckmäßig, wenn der Bediente auch etwas von der Gärtnerei verstände; er verlange einen solchen Bedienten nicht, aber es gebe Herrschaften, die eine solche Eigenschaft an ihren dienstbaren Geistern zu schätzen wüßten. Da nun sein Bedienter so wenig Beschäftigung habe, so sei es ihm wünschenswerth, daß ich ihm eine Anleitung zur Gärtnerei gebe; es sei nicht gut, daß ein junger Mensch nicht wisse, was er mit der Zeit anfangen solle. Leider sei dies sehr häufig der Fall, wie er bei dem öfteren Wechsel seiner Dienerschaft zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. – Daß ich Goethes Wunsche willfahrte, ist selbstverständlich.[309]
1152.*
1828, Juli oder August.
Eines Tages kamen unter anderen Fremden drei junge Herren zu mir [Sckell] und fragten, ob sie Goethe sprechen könnten; sie hätten gehört, daß er sehr stolz sei. Man hatte sie falsch berichtet: Stolz kannte Goethe nicht. Ich fragte die jungen Herren, wer sie seien; es waren drei Studenten der Theologie aus Leipzig. Der Secretär und der Bediente waren ausgegangen;[309] Goethe selbst ging im Eschengang bei dem mittleren Schlosse spazieren. Ich begab mich zu ihm und meldete ihm die Leipziger. »Was nur die jungen Leute an mir haben!« rief er etwas unwillig aus. Es frappirte mich diese Äußerung einigermaßen, da ich den Herren ausgeredet hatte, daß Goethe stolz sei, und ich wagte also, ihm zu erwiedern, daß ich es gern sehen würde, wenn er die Harrenden vorließe. »Na, na! wenn Sie es gern sehen,« resolvirte er, »so sagen Sie den Herren, daß sie zu mir her in den Eschengang kommen.« – Erst nach einer halben Stunde kamen die Fremden ganz vergnügt von Goethe zurück, meinten, so human hätten sie ihn sich nicht vorgestellt, und leerten vor Freude einige Flaschen Wein auf sein Wohl.[310]
1153.*
1828, Juli oder August.
Einmal war einiger Mangel in Küche und Vorrathskammer eingetreten; ich ging daher mit dem Secretär und dem Bedienten, als am späten Nachmittag die Gäste abgereist waren, nach dem nahen Dorndorf, um Einkäufe zu machen. Unsere Geschäfte waren bald besorgt, Zeit war noch übrig. Wir benutzten dieselbe und gingen zusammen zu einem Weinbergsbesitzer, um dort ein Glas Wein zu trinken. Der Stoff mundete;[310] wir blieben ziemlich, lange sitzen. Als wir endlich aufbrachen, hatte ich große Noth, meine beiden Begleiter nach Hause zu bringen; sie hatten nicht geglaubt, daß der Dornburger Wein auch zu Kopfe steigen könne. Endlich hatte ich sie auf ihr Zimmer gebracht. Die Sache war mir höchst unangenehm; denn beide befanden sich in einem Zustande, in dem sie unmöglich vor Goethe erscheinen konnten, und doch war bereits die Zeit gekommen, zu welcher er gewöhnlich den Bedienten verlangte, um das Nachtlicht anzuzünden, welches er allnächtlich brennen ließ. Kurze Zeit darauf, als ich sie verlassen, begab ich mich wieder in ihre Zimmer; sie lagen bereits in tiefem Schlafe; sie zu ermuntern war unmöglich. Bald darauf rief Goethe: »Friedrich! Friedrich!« Vergebens! Ich ging sofort zu Goethe hinauf und fragte, was zu Befehl stehe. Er antwortete: Friedrich sei noch nicht dagewesen, um das Nachtlicht anzuzünden. Ich besorgte das Licht und entfernte mich wieder. Bald darauf rief er nicht allein nach dem Bedienten, sondern auch nach dem Secretär. Keiner hörte. Ich begab mich sofort wieder auf sein Zimmer und fragte nach seinem Begehren. Goethe antwortete: »Ich will ausgekleidet sein und mich zur Ruhe begeben. Wo sind denn die beiden? Es läßt sich ja keiner sehen und hören!« Ich zuckte mit den Achseln und gab zur Antwort, daß ich es nicht wisse. Mein Anerbieten, ihm behilflich zu sein, wies er höflich dankend zurück, und ich empfahl mich.
[311] Ich hatte die Nacht über wenig Ruhe, indem ich fürchtete, Goethe werde den wahren Sachverhalt erfahren, recht ungehalten auf mich sein und mir einen Theil der Schuld zuschreiben. Mit Tagesanbruch stand ich auf und sah vor allen Dingen nach den beiden, welche Tags zuvor so durstige Kehlen gehabt hatten. Ich fand sie wohl und munter. Als ich ihnen mitgetheilt hatte, daß Goethe zweimal nach ihnen gerufen habe, stellte sich freilich der moralische Katzenjammer ein. Ganz besonders war Friedrich über meine Nachricht erschrocken; er wollte sich gar nicht beruhigen lassen. Als ihn bald darauf Goethe rief und den Kaffee zu bringen befahl, wurde er todtenbleich und wankte mit schlotternden Gliedern die Treppe hinauf. Neugierig, was Goethe wohl sagen werde, schlich ich mich hinter dem Bedienten her und blieb horchend an der Thür stehen. Als der Bediente eingetreten war, sagte Goethe: »Na, na, Friedrich! Du zitterst ja wie ein armer Sünder. Setze nur das Kaffeebret ab, sonst lässest Du es noch fallen. Nicht wahr, Du glaubst, ich werde Dich recht auszanken? Das thue ich nicht; Du hast ja Deine Strafe wohl so schon bekommen? Wie sieht es denn heute hier aus?« fuhr er fort, sich mit dem Zeigefinger über die Stirne streichend. »Setz nur ab und gehe! Es ist abgemacht.« – Hoch erfreut, mit diesem kleinen Verweise davongekommen zu sein, verließ der Bediente das Zimmer.
Einige Tage nach diesem Vorfall fragte mich Goethe,[312] ob es denn bei den vielen Weinbergen hier auch trinkbaren Wein gebe? Ich erwiederte, daß im vorigen Jahre die Ernte reichlich und gut ausgefallen sei und in Dorndorf ein Weinbergbesitzer wohne, welcher bereits einen guten Rothwein ausschenke. Auf seinen Wunsch besorgte ich sogleich eine Flasche dieser Sorte, welche ihm so wohl mundete, daß er dem Bedienten den Auftrag gab, jeden Tag eine Flasche dieses Weins zu besorgen, die zum Frühstück und Nachmittags 5 Uhr – Abends speiste Goethe nicht – zu einem Franzbrode getrunken wurde. Dies geschah acht Tage, dann aber äußerte er gegen den Bedienten: »Höre Friedrich! der Wein schmeckt zwar sehr lieblich, aber ich bekomme etwas Schärfe an mir; daran ist dieser junge Wein schuld. Ich muß also aussetzen und mein Glas alten Moselwein wieder trinken.«[313]
1154.*
1828, Juli oder August.
Ich besuchte ihn dort [in Dornburg] einigemal in Begleitung seiner Schwiegertochter und Enkel. Er schien sehr glücklich zu sein und konnte nicht unterlassen, seinen Zustand und die herrliche Lage des Schlosses und der Gärten wiederholt zu preisen. Und in der That, man hatte aus den Fenstern von solcher Höhe hinab einen reizenden Anblick. Unten das[313] mannigfaltig belebte Thal mit der durch Wiesen sich hinschlängelnden Saale. Gegenüber nach Osten waldige Hügel, über welche der Blick ins Weite schweifte, sodaß man fühlte, es sei dieser Stand am Tage der Beobachtung vorbeiziehender und sich im Weiten verlierender Regenschauer, sowie bei Nacht der Betrachtung des östlichen Sternenheers und der aufgehenden Sonne besonders günstig.
»Ich verlebe hier,« sagte Goethe, »so gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege im offenen Fenster, um mich an der Pracht der jetzt zusammenstehenden drei Planeten [Jupiter, Venus und Mars] zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenröthe zu erquicken. Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freien und halte geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken sagen und wovon ich euch wunderliche Dinge mittheilen könnte. Auch mache ich wieder Gedichte, die nicht schlecht sind, und möchte überall, daß es mir vergönnt wäre, in diesem Zustande so fortzuleben.«[314]
1155.*
1828, 2. August.
Im Sommer 1828 besuchte uns Frau v. Löw – dieselbe, die im ersten Theile von Dahlmann's Leben[314] wiederholt erwähnt wird – mit ihrer einzigen Tochter Luise, Goethe wohnte noch auf einem der Dornburger Schlösser, wohin er sich nach dem Tode Karl August's zurückgezogen hatte, und wir fuhren mit unsern Gästen einen Nachmittag zu ihm. Er hatte ja schon die Eltern der Frau v. Löw, den Grafen Diede zum Fürstenstein und dessen Gemahlin gekannt, von denen er in der ›Italienischen Reise‹ erzählt, daß er sie auf einem reizenden Landhause bei Rom besucht habe. Jetzt wurde ihm also ein Glied der dritten Generation aus dieser Familie vorgeführt. Er emfing uns im südlichen Eckzimmer des mittleren, von Ernst August launenhaft gebauten Schlößchens, saß zwischen Mutter und Tochter und war äußerst freundlich und heiter in der Erinnerung an alte schöne Zeiten, ermuntert und angefeuert durch die Blicke seiner jungen Nachbarin, die mit freudiger Begeisterung an seinen Lippen hingen. Da streifte er mit seinem Arme den ihrigen und sagte: »Ja, wenn man sich an der Jugend reibt, wird man selbst wieder jung.«
Gleich vom ersten Eintreten an war er heiter, freundlich und unbeschreiblich liebenswürdig, setzte sich, scherzte mit Luischen Löw und durchlief in den beinahe zwei Stunden, die wir bei ihm saßen, einen unglaublich reichen Kreis von Dingen, Menschen und Situationen. Da die Löw von hier zu Graf Kaspar[315] Sternberg reist, sprach er zuerst von ihm, schilderte seine würdige und große Denkungsart, erzählte, wie er sich mit ihm gefunden, welch ein Glück es sei, in seinem Alter noch solche Jünglingsfreundschaft zu schließen. – Zelter, der sei immer ein Mann gewesen, habe sich durch's Leben durchgeschlagen, durch Theater, Musik, Essen, Trinken, durch Creditoren; um den sei ihm nicht bange. – Tischbein characterisirte er herrlich in seinem verfehlten, aber liebenswürdigen und geistreichen Streben, hob hervor, was man ihm auch in der Kunst zu danken habe dadurch, daß er das Studium der Antike belebt, die etrurischen Vasen zu Ehren gebracht habe; mit ihm habe er in seinem vierzigsten Jahre wieder ein Studentenleben gelebt, aber in Rom, wo einen das Ungeheuere überall umgeben, sei man immer genöthigt gewesen, sich wieder zu sammeln. – Die strebenden Geister, die damals dort vereinigt waren, Angelica Kaufmann, Reiffenstein, der Löw Eltern, das Concert mit diesen auf dem Capitol bei Rezzonico mit der Aussicht auf das Campo vaccino, wo die untergehende Sonne die Steine all des ungeheuern Gemäuers roth, die Bäume nur noch grüner, die Ferne dunkelblau gemalt hätte – das deutete er alles nur so an. – Er erzählte auch von einem Briefe Göttling's aus Neapel, lobte ihn und seine Sicherheit und Keckheit, seine Beschränkung in den Zwecken und Unermüdlichkeit in den festgesetzten Gränzen. – Von den Salzbohrversuchen, dem Salinendirector Klenck, der neuen Saline bei Bufleben,[316] ging er über zu der Möglichkeit, auch in Böhmen Salz zu finden, und trug Luischen mit höchst launiger Scherzhaftigkeit auf, dem Grafen Sternberg diese Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit und warum nicht gleich Gewißheit zu verkündigen.
Aber ich könnte noch lange schreiben, ohne die Gegenstände, worüber er sprach, zu erschöpfen, und am Ende hättest Du doch nur ein todtes Gerippe; denn der Zauber seines Ausdrucks, seines lebendigen Geberdenspiels, seiner schönen, heute mitunter recht kräftigen und klingenden Stimme fehlte. Unzählige kleine Anspielungen und Scherze fielen noch neben bei. So hatte eine Frau in St. der Tante Betty aufgetragen, sie ihm zu Füßen zu legen. Dabei benahm er sich einzig, um diesen unanständigen Altar einer anständigen Frau abzuwehren, der ihm schon in der bloßen Vorstellung schrecklich war.[317]
1156.*
1828, 17. August.
»Walter Scott's ›St. Valentinstag‹ zu lesen, ging nicht: in dem zwar interessanten Stoff findet unsereiner zu wenig Gehalt. Es ist immer das große Talent, das einem reichen Stoff den menschlichen Gehalt abzugewinnen, die gehörigsten Einzelheiten durchzuarbeiten und jede Situation bis aufs Höchste zu[317] steigern vermag. Wie der schroffe heldenmüthige Waffenschmied zuletzt noch den Hund der vagirenden Sängerin zu tragen genöthigt wird, ist mehr als meisterhaft.«[318]
1157.*
1828, nach Mitte August.
Kurze Zeit darauf, nachdem der Erbgroßherzog Karl Alexander mit dem geheimen Legationsrath Soret zum Besuch anwesend gewesen war – etwa in der dritten Woche des August – trat mir Goethe, als ich ihm eines Morgens, wie es täglich geschah, zwischen 8 und 9 Uhr meine Aufwartung machte, um mich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen, mit den Worten freundlich entgegen: »Nu, lieber Freund, wir werden immer vertrauter miteinander, deshalb werden Sie mir auch eine Gewissensfrage an Sie erlauben.« Ich antwortete: »Herzlich gern, Excellenz! Worin besteht dieselbe?« – »Nu, was halten Sie denn eigentlich von den Fürsten?« – »Dies ist allerdings eine Gewissensfrage, Excellenz, die ich Ihnen aber sogleich beantworten kann: Ich fürchte Gott, liebe meinen Fürsten, lasse, wenn es darauf ankommt, auch mein Leben für ihn, ehre und achte meine Vorgesetzten, suche mit jedermann in Fried' und Freundschaft zu leben, stehe im Glauben fest und hoffe das Beste.« Seine Hand auf meine Schulter legend, fuhr er fort: »Das[318] ist brav von Ihnen. Stehen Sie zumal ja fest im Glauben; denn wenn wir daran festhalten, dann kann uns auch niemand den Glauben an die Unsterblichkeit rauben. Nu will ich Ihnen auch sagen, warum ich diese Frage an Sie gethan habe. Sie sehen wohl das Treiben unter den jungen Leuten, welche sich gegen die Fürsten empören, sie abschaffen, oder wohl gar um's Leben bringen möchten. Freilich! Jugend hat keine Tugend. Die jungen Leute thäten besser, wenn sie ihre Nasen in die Bücher steckten; denn die Fürsten sind von Gott eingesetzt. Deshalb nennen sie sich auch: Von Gottes Gnaden. Dazu haben sie aber kein Recht; denn wir Menschen sind alle von Gottes Gnaden in die Welt gekommen. Es wird die Zeit kommen – ich werde sie allerdings nicht erleben – wo man sich auch in Deutschtand gegen die Fürsten empören und sie vom Throne zu stoßen versuchen wird, und das Volk wird Gesetze geben wollen. Dazu ist es zu miserabel, aber zum Zuschlagen capabel. Die rechten Gesetze, wie sie von Gott vorgeschrieben sind, finden wir in der Schrift. Daran halten Sie fest.«1
[319] Er entließ mich darauf sichtlich erregt, indem er mir die Hand reichte und einen Gutenmorgen wünschte.
1 In Widerspruch mit meiner in den »Vorbemerkungen« (I, 3.) kundgegebenen Absicht habe ich Sckell's Berichte über Gespräche mit Goethe, an mich gerichteten Wünschen nachkommend, doch noch aufgenommen, obschon namentlich ein so verwirrter Gedankenknäuel, wie der obige, zuverlässig nicht über Goethes Lippen gegangen ist. Da indessen allenthalben bei den Gesprächen das Subject des Berichterstatters mit in Anschlag zu bringen ist, so möge auch der Kritik überlassen bleiben, aus Sckell's Mittheilungen Goethes Eigenthum herauszuschälen.[320]
1158.*
1828, 31. August (?).
Auf Zureden seiner Weimarer Freunde ging Kraukling auch dorthin [nach Dornburg], meldete sich schriftlich bei Goethe an, wurde angenommen und war pünktlich zur bestimmten Stunde auf dem Schloß. Der Kammerdiener empfing ihn mit den Worten: »Excellenz erwarten Sie schon.« Er führte Kraukling in einen Saal, in den Goethe bald darauf eintrat, der den jungen Mann herzlich begrüßte, indem er ihm beide Hände reichte. Dann sagte er: »Kommen Sie! Wir wollen uns hier an's Fenster setzen und ein wenig plaudern.«
Als Kraukling Gerhard's Auftrag [ihn nach Leipzig einzuladen] ausgerichtet, erwiederte Goethe: »Ich habe noch so viel zu thun, um meine Arbeiten zum Abschluß zu bringen, daß ich durchaus keine Reise mehr machen kann; ich versage mir sogar eine Badereise.«
Unter seinen letzten Arbeiten nannte er die ›Helena‹, über die er äußerte: »Sie ist eine fünfzigjährige Conception. Einzelnes rührt aus den ersten Zeiten her,[320] in denen ich an den ›Faust‹ ging, andres entstand zu den verschiedensten Zeiten meines Lebens. Als ich daranging, alles in Einen Guß zu bringen, wußte ich lange nicht, was ich damit machen sollte. Endlich fiel mir's wie Schuppen von den Augen; ich wußte, nur so kann es sein und nicht anders.«
Dann sagte Goethe: »Nennen Sie mir einige von Ihren Bekannten, mit denen sie besonders gern umgehen und die in der Zukunft etwas zu leisten versprechen!« Kraukling nannte einige Künstler und Schriftsteller. »Nein!« rief Goethe, »diese kenne ich schon. Ich meine Leute aus Ihrem nächsten Kreise, die noch keinen sehr bekannten Namen haben. Ich liebe es aus solchen Nachrichten über bemerkenswerthe Persönlichkeiten mir ein Bild der Zukunft zu entwerfen.«
Noch über verschiedene Gegenstände verbreitete sich das Gespräch, das Goethe bisweilen auf das wundervolle Landschaftsbild deutend, das von Dornburg aus sich vor den Augen aufthut – mit Ausrufen unterbrach, wie: »Sehen Sie da die herrliche Beleuchtung! Das ist ja prächtig,« und dergleichen. Auch zeigte Goethe die von Neureuther zu seinen Balladen und Gedichten entworfenen Randzeichnungen vor, die ihm Cornelius übersandt hatte.
Kraukling beabsichtigte noch nach Jena zu gehen, um die Universitätsbibliothek zu benutzen, zu welchem Zweck Goethe ihm einen Brief an den Bibliotheksbeamten[321] Dr. Weller mitgab, in welchem er jenen als einen wohldenkenden und wohlunterrichteten jungen Mann bezeichnete.[322]
1159.*
1828, 5. September.
Mein am 2. December 1885 zu Gotha verstorbener Vater, der Justizrath Dr. Ernst Schuchardt, machte am 5. September 1828, als neunzehnjähriger Student, in Gemeinschaft des Dr. Weller... dem damals in Dornburg weilenden Goethe von Jena aus einen Besuch. Er hat mir oft davon erzählt. Nun finde ich unter seinen hinterlassenen Papieren den Schluß eines Berichts über jenen Besuch, welcher unmittelbar nachher aufgesetzt worden war. Derselbe lautet:
»Jetzt wurde das Essen aufgetragen, und indem uns der Wein vorgesetzt wurde (Goethe trank Würzburger, wir bekamen rothen), fing Goethe an von einem Buche zu sprechen, das ein Engländer1 über die Geschichte der Weine geschrieben habe, und das ihn sehr interessire. Er klagte dann, daß man fast vergäße, ihn mit Wein zu versehen und am letzten Sonnabend bloß fünf Flaschen aus Weimar geschickt habe. Während[322] er dann selbst einen Salat zubereitete, versicherte er, einen neuen Salat erfunden zu haben aus eingemachten Gurken. Überhaupt schien er in diesen Fächern ziemlich bewandert zu sein, sprach mehreres vom Essen und aß selbst mit ziemlichem Appetite. Als Artischocken aufgetragen wurden, mochte er wohl bemerken, daß ich über die Behandlungsweise derselben verlegen war, und belehrte mich, wie sie zu essen seien. Wie er erzählte, hatten ihm seine Verwandten diese Artischocken aus Frankfurt geschickt und ihm dadurch eine sehr große Freude gemacht. Wir sprachen dann mehreres über die Türkenkriege, über Gotha u.s.w. Gegen das Ende des Mahles schien er vom Schlafe überwältigt zu werden; denn er legte die Hände zusammen, als bete er, senkte den Kopf und schwieg einige Zeit; doch fuhr er nachher im Gespräche fort. Nach Tische wurde uns Kaffee gereicht, doch trank Goethe keinen. Wir begleiteten ihn dann in den Garten und verabschiedeten uns von ihm. Dies war gegen 5 Uhr.«
1 Es ist wohl Kecht's »Verbesserter praktischer Weinbau« gemeint.[323]
1160.*
1828, 11. September.
Heute 2 Uhr bei dem herrlichsten Wetter, kam Goethe von Dornburg zurück. Er war rüstig und ganz braun von der Sonne. Wir setzten uns bald zu Tisch, und zwar in dem Zimmer, das unmittelbar an[323] den Garten stößt und dessen Thüren offen standen. Er erzählte von mancherlei gehabten Besuchen und erhaltenen Geschenken und schien sich überall in zwischengestreuten leichten Scherzen zu gefallen. Blickte man aber tiefer, so konnte man eine gewisse Befangenheit nicht verkennen, wie sie derjenige empfindet, der in einen alten Zustand zurückkehrt, der durch mancherlei Verhältnisse, Rücksichten und Anforderungen bedingt ist.
Wir waren noch bei den ersten Gerichten, als eine Sendung der Großherzogin-Mutter kam, die ihre Freude über Goethes Zurückkunft zu erkennen gab, mit der Meldung, daß sie nächsten Dienstag das Vergnügen haben werde, ihn zu besuchen.
Seit dem Tode des Großherzogs hatte Goethe niemand von der fürstlichen Familie gesehen. Er hatte zwar mit der Großherzogin-Mutter in fortwährendem Briefwechsel gestanden, sodaß sie sich über den erlittenen Verlust gewiß hinlänglich ausgesprochen hatten. Allein jetzt stand das persönliche Wiedersehen bevor, das ohne einige schmerzliche Regungen von beiden Seiten nicht wohl abgehen konnte, und das demnach im voraus mit einiger Apprehension mochte empfunden werden. So auch hatte Goethe den jungen Hof noch nicht gesehen und als neuer Landesherrschaft gehuldigt. Dieses alles stand ihm bevor, und wenn es ihn auch als großen Weltmann keineswegs genieren konnte, so genierte es ihn doch als Talent, das immer in seinen angeborenen Richtungen und in seiner Thätigkeit leben möchte.
[324] Zudem drohten Besuche aus allen Gegenden. Das Zusammenkommen berühmter Naturforscher in Berlin hatte viele bedeutende Männer in Bewegung gesetzt, die, in ihren Wegen Weimar durchkreuzend, sich theils hatten melden lassen und deren Ankunft zu erwarten war. Wochenlange Störungen, die den innern Sinn hinnahmen und aus der gewohnten Bahn lenkten, und was sonst für Unannehmlichkeiten mit übrigens so werthen Besuchen in Verbindung stehen mochten, dieses alles mußte von Goethe gespenstisch vorausempfunden werden, sowie er wieder den Fuß auf die Schwelle setzte und die Räume seiner Zimmer durchschritt.
Was aber alles dieses Bevorstehende noch lästiger machte, war ein Umstand, den ich nicht übergehen darf. Die fünfte Lieferung seiner Werke, welche auch die ›Wanderjahre‹ enthalten soll, muß auf Weihnachten zum Druck abgeliefert werden. Diesen früher in einem Bande erschienen Roman hat Goethe gänzlich umzuarbeiten angefangen und das Alte mit soviel Neuem verschmolzen, daß es als ein Werk in drei Bänden in der neuen Ausgabe hervorgehen soll. Hieran ist nun zwar bereits viel gethan, aber noch sehr viel zu thun. Das Manuscript hat überall weiße Papierlücken, die noch ausgefüllt sein wollen. Hier fehlt etwas in der Exposition; hier ist ein geschickter Übergang zu finden, damit dem Leser weniger fühlbar werde, daß es ein collectives Werk sei; hier sind Fragmente von großer Bedeutung, denen der Anfang, andere, denen das Ende[325] mangelt: und so ist an allen drei Bänden noch sehr viel nachzuhelfen, um das bedeutende Buch zugleich annehmlich und anmuthig zu machen.
Goethe theilte mir vergangenes Frühjahr das Manuscript zur Durchsicht mit; wir verhandelten damals sehr viel über diesen wichtigen Gegenstand mündlich und schriftlich; ich rieth ihm, den ganzen Sommer der Vollendung dieses Werkes zu widmen und alle andern Arbeiten so lange zur Seite zu lassen; er war gleichfalls von dieser Nothwendigkeit überzeugt und hatte den festen Entschluß, so zu thun. Dann aber starb der Großherzog; in Goethes ganze Existenz war dadurch eine ungeheuere Lücke gerissen, an eine so viele Heiterkeit und ruhigen Sinn verlangende Composition war nicht mehr zu denken, und er hatte nur zu sehen, wie er sich persönlich oben halten und wiederherstellen wollte.
Jetzt aber, da er mit Herbstesanfang von Dornburg zurückkehrend die Zimmer seiner weimarischen Wohnung wieder betrat, mußte ihm auch der Gedanke an die Vollendung seiner ›Wanderjahre‹, wozu ihm nur noch die kurze Frist weniger Monate vergönnt war, lebendig vor die Seele treten, und zwar im Conflikt mit den mannigfaltigen Störungen, die ihm bevorstanden und einem reinen ruhigen Walten und Wirken seines Talents im Wege waren.
Faßt man nun alles Dargelegte zusammen, so wird man mich verstehen, wenn ich sage, daß in Goethe trotz[326] seiner leichten heitern Scherze bei Tische eine tiefer liegende Befangenheit nicht sei zu verkennen gewesen.
Warum ich aber diese Verhältnisse berühre, hat noch einen andern Grund. Es steht mit einer Äußerung Goethes in Verbindung, die mir sehr merkwürdig erschien, die seinen Zustand und sein eigenthümliches Wesen aussprach, und wovon ich nun reden will.
Professor Abeken zu Osnabrück hatte mir in den Tagen vor dem 28. August einen Einschluß zugesendet, mit dem Ersuchen, ihn Goethe zu seinem Geburtstage zu schicklicher Stunde zu überreichen. Es sei ein Andenken in Bezug auf Schiller, das gewiß Freude verursachen werde.
Als nun Goethe heute bei Tische von den mannigfaltigen Geschenken erzählte, die ihm zu seinem Geburtstage nach Dornburg gesendet worden, fragte ich ihn, was das Paket von Abeken enthalten.
»Es war eine merkwürdige Sendung,« sagte Goethe, »die mir viele Freude gemacht hat. Ein liebenswürdiges Frauenzimmer [Christiane v. Wurmb], bei der1 Schiller den Thee getrunken, hat die Artigkeit gehabt, seine Äußerungen niederzuschreiben. Sie hat alles sehr hübsch aufgefaßt und treu wiedergegeben, und das liest sich nun nach so langer Zeit gar gut, indem man dadurch unmittelbar in einen Zustand versetzt wird, der[327] mit tausend andern bedeutenden vorübergegangen ist, in diesem Fall aber glücklicherweise in seiner Lebendigkeit auf dem Papiere gefesselt worden.
Schiller erzählt hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabenen Natur; er ist so groß am Theetisch, wie er es im Staatsrath gewesen sein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei heraus ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein! Wir andern dagegen fühlen uns immer bedingt; die Personen, die Gegenstände, die uns umgeben, haben auf uns ihren Einfluß; der Theelöffel geniert uns, wenn er von Gold ist, da er von Silber sein sollte: und so, durch tausend Rücksichten paralysirt, kommen wir nicht dazu, was etwa Großes in unserer Natur sein möchte, frei auszulassen. Wir sind die Sklaven der Gegenstände und erscheinen geringe oder bedeutend, je nachdem uns diese zusammenziehen oder zu freier Ausdehnung Raum geben.«
1 Vielmehr: das bei Schiller den Thee getrunken und überhaupt in seinem Hause sich länger aufgehalten.[328]
1545.*
1828, Ende September.
Wie wir zurückkamen [von Tiefurt] war Coudray auf den Abend zu Goethe eingeladen. Er rieth mir [Hr. Koenig], auf eine nachfolgende Einladung gefaßt zu sein; es seien Fremde da, und wenn Goethe vernähme, daß ich von Frauenpriesnitz zurück sei, würde[381] er mich zu den andern bitten lassen .... Wie vorausgesagt, ward ich, bald nachdem Coudray von Hause fortgegangen war, von einem Bedienten eingeladen und abgeholt.
Die Treppe stieg es sich ganz bequem hinauf, nur war es mir unbehaglich, daß ich aus Achtung vor Goethes Widerwillen gegen Augengläser an der Stubenthür meine Brille einstecken mußte: nicht, weil ich nunmehr das auf der Thürschwelle eingelegte berühmte Salve übersah, sondern weil ein Kurzsichtiger beim Eintritt in eine Gesellschaft, die er zumal beim Kerzenlichte nicht schnell und aus der Ferne individualisiren kann, leicht befangen und linkisch erscheint. Der erste Eindruck eines Menschen war aber bei Goethes Empfindungsweise haftend.
Meine Anrede schnitt der Geheimrath mit einer Handbewegung und einigen Empfangsworten ab, die mir vergessen sind. Ich reihte mich also, da ich ihn eben im Gespräch mit einem Fremden unterbrochen hatte, den schwarzgekleideten Freunden an, die seitwärts in ehrerbietiger Ferne standen: es waren außer Coudray: Riemer, Meyer und Eckermann. Der eine von beiden Fremden war der Maler R[ösel] aus Berlin, der andere mir unbekannt. Mit diesem unterhielt sich Goethe fortwährend in der Fensternische, indeß Thee herumgegeben wurde.
Nach dem Thee nahmen alle Platz um den Tisch, und R. legte die Skizzen vor, die er aus seiner Reise,[382] besonders am Rhein, mit Bleifeder rasch entworfen, oder – wie er sich ausdrückte – ›geknackert‹ hatte. Überhaupt machte dieser launige Maler einen ergötzlichen Contrast zu dem ernsten Dichter: klein und verwachsen raschelte er hin und her, wenn Goethe hoch und aufrecht durch das Zimmer wandelte. Ebensosehr stach seine Unruhe und sein lebhafter Witz gegen Goethes Gemessenheit und heitere Bemerkungen, das schnelle, laute Sprechen des Berliners gegen den tiefen, gehaltenen Ton des Frankfurters ab. Ruhig sitzt der Alte da und überschaut von seinem etwas erhöhten Stuhle mit festem Auge den Tisch, während R., kaum über den Tisch hervorragend, seine Brille bald auf die Nase fallen läßt, um ein Blatt seines Skizzenbuches auszusuchen, bald über die Stirne zurückschiebt, um mit freiem Blick eine Bemerkung an den Geheimrath zu richten. Doch er selbst scheint am wenigsten um die Geheimrathschaft des Wirthes bekümmert: seine Bewegungen, sein lautes Lachen, seine Anreden und Erwiderungen überspringen alle Rangstufen, auf denen Goethes Hausfreunde sich leis und lauschend untergeordnet haben, ohne sich zuhause zu fühlen. Mir selbst waren die zur Schau circulirenden Blätter sehr willkommen, um unter so gutem Vorwande meine Brille hervorzuholen, und über die ›geknackerten‹ Zeichnungen hinweg nach Goethe zu schielen, der nirgends etwas Geknackertes an sich hatte. Dieser reicht die beschauten und besprochenen Blätter mit den fast[383] pedantisch wiederholten Worten zurück: »Sie sollen bedankt sein!« – »Sie sollen belobt sein, wie immer!«
Eine seltene Paste, die R. vorwies, händigte ihm Goethe mit den Worten wieder ein: »Da! Heben Sie es sorgfältig wieder auf!« – »Nicht wahr,« lachte R., »damit Sie nicht in unrechte Hände kommen?« – »Nein,« lächelte der Alte, »weil sie vielleicht nicht in den rechten ist.«
Bei dieser Gelegenheit rühmte R. unbefangen genug seine, besonders in Italien verübten Kunstdiebereien, erzählte, wie er die Aufseher trunken gemacht habe, sodaß Sie dann im Dusel nicht bemerkt hätten, was ihm in die Taschen gefallen sei. Goethe erwiederte mit der Nachsicht, die er selbst bisweilen für sich nöthig gehabt haben soll: »Bei Dienstboten werden gefundene Eßwaren nicht für gestohlen angesehen; so sind auch solche Kunstsachen gleichsam für Leckerbissen zu achten, die man sich zueignet, ohne des Diebstahls schuldig zu werden. Ja, manchem erzeigt man eine unerkannte Wohlthat, wenn man sie ihm entwendet und ihn dadurch von der Verantwortlichkeit befreit, nichts davon zu verstehen.«
Unter den Seltenheiten, die R. zu besitzen sich rühmte, prahlte er auch sehr mit einem Ei aus Herculanum, – dem einzigen, daß man in Deutschland habe – es sei aber leicht wie Luft. »Es ist also nicht viel auszubrüten darin,« erwiederte Goethe; »auch wäre wohl dazu erst ein herculanisches Huhn beizubringen.«[384] R. war sehr heiser und ward es durch sein vieles Reden immermehr; hierüber von Goethe wohlwollend berufen, wies er ein Blatt seiner Skizzen vor, indem er sagte: »Sehen Sie hier die classische Stelle, wo ich den Schnupfen geholt habe, – diesen schlechten Referendar, der doch Assessor geworden, obschon er im Maturitätsexamen durchgefallen ist.« Auf diesen in Berlin vielleicht üblichen Wortwitz versetzte Goethe ganz trocken: »Das haben Künstler voraus, daß sie an ungesunde Orte geführt werden.« Mit Eitelkeit versetzte R.: »Mancher aber holt sich dort einen Schnupfen, ohne daß er die Stelle so bezeichnen kann.«
Nach aufgehobener beschauender Sitzung, während kalter Punsch und Gebackenes umgereicht wurde, unterhielt sich Goethe eine Weile mit mir über Hanau und Frankfurt. So konnte ich mir den verehrten Mann recht in nächster Nähe betrachten. Er fragte nach den jetzt in beiden Städten befindlichen Kunstgegenständen und Künstlern und wollte namentlich von einem Maler hören, den er, wie er vielleicht nur den Schein annahm, eben nicht nennen konnte. Jetzt fühlt er den Puls deiner Kunstkennerschaft! dachte ich bei mir selbst. Er konnte diesen Puls unmöglich fieberhaft finden. Indeß war auch mein augenblickliches Interesse mehr darauf gerichtet, den Blick, die Mienen, die Sprache des Dichters zu beobachten, um mir ein lebendiges Bild einzuprägen, als vor seinen Fragen nach Gemälden mit Ehren zu bestehen. So fiel mir denn[385] wirklich nicht ein, daß er vielleicht von Oppenheimer hören wollte – dem aus Hanau gebürtigen, in Frankfurt angesiedelten jungen Maler, der kurz vorher dem Dichter Skizzen aus ›Hermann und Dorothea‹ gewidmet und übersendet hatte.
Wie es nun Zeit zu gehen war, entließ uns der Geheimrath. Wir schieden – die Fremden mit Verneigungen, die Hausfreuude mit Bücklingen.[386]
1161.*
1828, 1. October.
Herr Hönninghaus1 aus Crefeld, Chef eines großen Handelshauses, zugleich Liebhaber der Naturwissenschaften,[328] besonders der Mineralogie, ein durch große Reisen und Studien vielseitig unterrichteter Mann, war heute bei Goethe zu Tische. Er kam von der Versammlung der Naturforscher aus Berlin zurück, und es ward über dahinschlagende Dinge, besonders über mineralogische Gegenstände manches gesprochen.
Auch von den Vulkanisten war die Rede und von der Art und Weise, wie die Menschen über die Natur zu Ansichten und Hypothesen kommen; bei welcher Gelegenheit denn großer Naturforscher und auch des Aristoteles gedacht wurde, über welchen sich Goethe also aussprach.
»Aristoteles,« sagte er, »hat die Natur besser gesehen als irgend ein Neuerer, aber er war zu rasch mit seinen Meinungen. Man muß mit der Natur langsam und läßlich verfahren, wenn man ihr etwas abgewinnen will.
Wenn ich bei Erforschung naturwissenschaftlicher Gegenstände zu einer Meinung gekommen war, so verlangte ich nicht, daß die Natur mir sogleich recht geben sollte; vielmehr ging ich ihr in Beobachtungen und Versuchen prüfend nach, und war zufrieden, wenn sie sich so gefällig erweisen wollte, gelegentlich meine Meinung zu bestätigen. That sie es nicht, so brachte sie mich wohl auf ein anderes Aperçu, welchem ich nachging und welches zu bewahrheiten sie sich vielleicht williger fand.«
1162.*
1828, 3. October.
Ich sprach diesen Mittag bei Tische mit Goethe über Fouqué's ›Sängerkrieg auf der Wartburg‹, den ich auf seinen Wunsch gelesen. Wir kamen darin überein, daß dieser Dichter sich zeitlebens mit altdeutschen Studien beschäftigt, und daß am Ende keine Cultur für ihn daraus hervorgegangen.
»Es ist in der altdeutschen düstern Zeit,« sagte Goethe, »ebenso wenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesien gewonnen haben. Man liest es und interessirt sich wohl eine Zeit lang dafür, aber bloß um es abzuthun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nöthig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu thun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es thut ihm noth, daß er sich zu solchen Kunst- und Literaturepochen wende, in denen vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, sodaß es ihnen selber wohl war und sie die Seligkeit ihrer Cultur wieder auf andere auszugießen im Stande sind.
Wollen Sie aber von Fouqué eine gute Meinung bekommen, so lesen Sie seine ›Undine‹, die wirklich[330] allerliebst ist. Freilich war es ein guter Stoff, und man kann nicht einmal sagen, daß der Dichter alles daraus gemacht hätte, was darinnen lag; aber doch, die ›Undine‹ ist gut und wird Ihnen gefallen.«
»Es geht mir ungünstig mit der neuesten deutschen Literatur,« sagte ich. »Zu den Gedichten von Egon Ebert kam ich aus Voltaire, dessen erste Bekanntschaft ich gemacht, und zwar durch die kleinen Gedichte an Personen, die gewiß zu dem Besten gehören, was er je geschrieben. Nun mit Fouqué geht es mir nicht besser. Vertieft in Walter Scott's ›Fair Maid of Perth‹, gleichfalls das erste, was ich von diesem großen Schriftsteller lese, bin ich veranlaßt, dieses an die Seite zu legen und mich in den ›Sängerkrieg auf der Wartburg‹ zu begeben.«
»Gegen so große Ausländer,« sagte Goethe, »können freilich die neuern Deutschen keine Probe halten; aber es ist gut, daß Sie sich nach und nach mit allem In- und Ausländischen bekannt machen, um zu sehen, wo denn eigentlich eine höhere Weltbildung, wie sie der Dichter bedarf, zu holen ist.«
Frau von Goethe trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch.
»Aber nicht wahr,« fuhr Goethe heiter fort, »Walter Scott's ›Fair Maid of Perth‹ ist gut? Das ist gemacht! Das ist eine Hand! Im Ganzen die sichere Anlage, und im Einzelnen kein Strich, der nicht zum Ziele führte. Und welch ein Detail, sowohl im Dialog[331] als in der beschreibenden Darstellung, die beide gleich vortrefflich sind! Seine Scenen und Situationen gleichen Gemälden von Teniers: im Ganzen der Anordnung zeigen sie die Höhe der Kunst, die einzelnen Figuren haben eine sprechende Wahrheit, und die Ausführung erstreckt sich mit künstlerischer Liebe bis aufs Kleinste, sodaß uns kein Strich geschenkt wird. Bis wieweit haben Sie jetzt gelesen?«
»Ich bin bis zu der Stelle gekommen,« sagte ich, »wo Henry Smith das schöne Zithermädchen durch Straßen und Umwege nach Hause führt, und wo ihm zu seinem Ärger der Mützenmacher Proudfute und der Apotheker Dwining begegnen.«
»Ja«, sagte Goethe, »die Stelle ist gut. Daß der widerstrebende ehrliche Waffenschmied so weit gebracht wird, neben dem verdächtigen Mädchen zuletzt selbst das Hündchen mit aufzuhocken, ist einer der größten Züge, die irgend in Romanen anzutreffen sind. Es zeugt von einer Kenntniß der menschlichen Natur, der die tiefsten Geheimnisse offenbar liegen.«
»Als einen höchst glücklichen Griff,« sagte ich, »muß ich auch bewundern, daß Walter Scott den Vater der Heldin einen Handschuhmacher sein läßt, der durch den Handel mit Fellen und Häuten mit den Hochländern seit lange in Verkehr gestanden und noch steht.«
»Ja,« sagte Goethe, »das ist ein Zug der höchsten Art. Es entspringen daraus für das ganze Buch die günstigsten Verhältnisse und Zustände, die dadurch alle[332] zugleich eine reale Basis erhalten, sodaß sie die überzeugendste Wahrheit mit sich führen. Überall finden Sie bei Walter Scott die große Sicherheit und Gründlichkeit in der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntniß der realen Welt hervorgeht, wozu er durch lebenslängliche Studien und Beobachtungen und ein tägliches Durchsprechen der wichtigsten Verhältnisse gelangt ist. Und nun sein großes Talent und sein umfassendes Wesen! Sie erinnern sich des englischen Kritikers, der die Poeten mit menschlichen Sängerstimmen vergleicht, wo einigen nur wenig gute Töne zu Gebote ständen, während andere den höchsten Umfang von Tiefe und Höhe in vollkommener Gewalt hätten. Dieser letztern Art ist Walter Scott. In dem ›Fair Maid of Perth‹ werden Sie nicht eine einzige schwache Stelle finden, wo es Ihnen fühlbar würde, es habe seine Kenntniß und sein Talent nicht ausgereicht. Er ist seinem Stoff nach allen Richtungen hingewachsen. Der König, der königliche Bruder, der Kronprinz, das Haupt der Geistlichkeit, der Adel, der Magistrat, die Bürger und Handwerker, die Hochländer, sie sind alle mit gleich sicherer Hand gezeichnet und mit gleicher Wahrheit getroffen.«
»Die Engländer,« sagte Frau von Goethe, »lieben besonders den Character des Henry Smith, und Walter Scott scheint ihn auch zum Helden des Buchs gemacht zu haben. Mein Favorit ist er nicht; mir könnte der Prinz gefallen.«
[333] »Der Prinz,« sagte ich, »bleibt bei aller Wildheit immer noch liebenswürdig genug, und er ist vollkommen so gut gezeichnet wie irgend ein anderer.«
»Wie er zu Pferde sitzend,« sagte Goethe, »das hübsche Zithermädchen auf seinen Fuß treten läßt, um sie zu einem Kuß zu sich heranzuheben, ist ein Zug, von der verwegensten englischen Art. Aber ihr Frauen habt unrecht, wenn Ihr immer Partei macht; ihr leset ein Buch, um darin Nahrung für euer Herz zu finden, einen Helden, den ihr lieben könntet! So soll man aber eigentlich nicht lesen, und es kommt gar nicht darauf an, daß Euch dieser oder jener Character gefalle, sondern daß euch das Buch gefalle.«
»Wir Frauen sind nun einmal so, lieber Vater,« sagte Frau von Goethe, indem sie über den Tisch neigend ihm die Hand drückte. – »Man muß euch schon in euerer Liebenswürdigkeit gewähren lassen,« erwiederte Goethe.
Das neueste Stück des ›Globe‹ lag neben ihm, das er zur Hand nahm. Ich sprach derweile mit Frau von Goethe über junge Engländer, deren Bekanntschaft ich im Theater gemacht.
»Was aber die Herren vom ›Globe‹ für Menschen sind,« begann Goethe wieder mit einigem Feuer, »wie die mit jedem Tage größer, bedeutender werden und alle wie von Einem Sinne durchdrungen sind, davon hat man kaum einen Begriff. In Deutschland wäre ein solches Blatt rein unmöglich. Wir sind lauter[334] Particuliers, an Übereinstimmung ist nicht zu denken: jeder hat die Meinungen seiner Provinz, seiner Stadt, ja seines eigenen Individuums, und wir können noch lange warten, bis wir zu einer Art von allgemeiner Durchbildung kommen.«[335]
1163.*
1828, 6. October.
Bei Goethe zu Tische mit Herrn von Martius, der seit einigen Tagen hier ist und sich mit Goethe über botanische Gegenstände bespricht. Besonders ist es die Spiraltendenz der Pflanzen, worin Herr von Martius wichtige Entdeckungen gemacht, die er Goethen mittheilt, dem sich dadurch ein neues Feld eröffnet. Goethe schien die Idee seines Freundes mit einer Art jugendlicher Leidenschaftlichkeit aufzunehmen. »Für die Physiologie der Pflanzen,« sagte er, »ist damit sehr viel gewonnen. Das neue Aperçu der Spiraltendenz ist meiner Metamorphosenlehre durchaus gemäß, es ist auf demselbigen Wege gefunden, aber es ist damit ein ungeheuerer Schritt vorwärts gethan.«
Heute bei Tische war die heiterste Gesellschaft. Außer den weimarischen Freunden waren auch einige[335] von Berlin zurückkehrende Naturforscher zugegen, unter denen Herr von Martius aus München, der an Goethes Seite saß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigsten Dinge wurde hin und her gescherzt und gesprochen. Goethe war von besonders guter Laune und überaus mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, ›Moses‹ von Rossini, ward viel beredet. Man tadelte das Sujet, man lobte und tadelte die Musik; Goethe äußerte sich folgendermaßen:
»Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder,« sagte er, »wie ihr Sujet und Musik trennen und jedes für sich genießen könnt. Ihr sagt, das Sujet tauge nicht, aber Ihr hättet es ignorirt und Euch an der trefflichen Musik erfreut. Ich bewundere wirklich die Einrichtung euerer Natur, und wie euere Ohren im Stande sind, anmuthigen Tönen zu lauschen, während der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenständen geplagt wird.
Und daß euer ›Moses‹ doch wirklich gar zu absurd ist, werdet ihr nicht leugnen. Sowie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! Dies ist sehr[336] unpassend. Wenn du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Thür hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten.
Ich hätte Euch einen ganz andern ›Moses‹ machen wollen und das Stück ganz anders anfangen lassen. Ich hätte Euch zuerst gezeigt, wie die Kinder Israel bei schwerem Frohndienst von der Tyrannei der ägyptischen Vögte zu leiden haben, damit es nachher desto anschaulicher würde, welche Verdienste sich Moses um sein Volk erworben, das er es aus so schändlichem Druck zu befreien gewußt.«
Goethe fuhr fort mit großer Heiterkeit die ganze Oper Schritt vor Schritt durch alle Scenen und Acte aufzubauen, immer geistreich und voller Leben, im historischen Sinne des Sujets und zum freudigen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die den unaufhaltsamen Fluß seiner Gedanken und den heitern Reichthum seiner Erfindungen zu bewundern hatte. Es ging alles zu rasch vorüber, um es aufzufassen, doch ist mir der Tanz der Ägypter im Gedächtniß geblieben, den Goethe nach der überstandenen Finsterniß als Freude über das wiedergegebene Licht eintreten ließ.
Das Gespräch lenkte sich von Moses zurück auf die Sündfluth, und so nahm es bald, durch den geistreichen Naturforscher angeregt, eine naturhistorische Wendung.
»Man will,« sagte Herr von Martius, »auf dem Ararat ein Stück von der Arche Noah's versteinert[337] gefunden haben, und es sollte mich wundern, wenn man nicht auch die versteinerten Schädel der ersten Menschen finden sollte.«
Diese Äußerung gab zu ähnlichen Anlaß, und so kam die Unterhaltung auf die verschiedenen Menschenrassen, wie sie als Schwarze, Braune, Gelbe und Weiße die Länder der Erde bewohnen, sodaß man mit der Frage schloß, ob denn wirklich anzunehmen, daß alle Menschen von dem einzigen Paare Adam und Eva abstammen.
Herr von Martius war für die Sage der Heiligen Schrift, die er als Naturforscher durch den Satz zu bestätigen suchte, daß die Natur in ihren Productionen höchst ökonomisch zu Werke gehe.
»Dieser Meinung,« sagte Goethe, »muß ich widersprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur sich immer reichlich, ja verschwenderisch erweise, und daß es weit mehr in ihrem Sinne sei, anzunehmen, sie habe statt eines einzigen armseligen Paares die Menschen gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen.
Als nämlich die Erde bis zu einem gewissen Punkt der Reise gediehen war, die Wasser sich verlaufen hatten und das Trockene genugsam grünte, trat die Epoche der Menschwerdung ein, und es entstanden die Menschen durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ, und vielleicht auf den Höhen zuerst. Anzunehmen, daß dieses geschehen, halte ich für vernünftig,[338] allein darüber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft, das wir denen überlassen wollen, die sich gern mit unauflößbaren Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu thun haben.«
»Wenn ich auch,« sagte Herr von Martius mit einiger Schalkheit, »mich als Naturforscher von der Ansicht Eurer Excellenz gern überzeugen ließe, so fühle ich mich doch als guter Christ in einiger Verlegenheit, zu einer Meinung überzutreten, die mit den Aussagen der Bibel nicht wohl zu vereinigen sein möchte.«
»Die Heilige Schrift,« erwiederte Goethe, »redet allerdings nur von Einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tage erschaffen, allein die begabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu thun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urväter; wie denn die werthe Gesellschaft gewiß zugeben wird, daß wir uns von den echten Abkömmlingen Adams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden und daß sie, besonders was das Geld betrifft, es uns allen zuvorthun.«
Wir lachten. Das Gespräch mischte sich allgemein; Goethe, durch Herrn von Martius zu Widersprüchen angeregt, sagte noch manches bedeutende Wort, das,[339] den Schein des Scherzes tragend, dennoch aus dem Grunde eines tiefern Hinterhalts hervorging.
Nach aufgehobener Tafel ließ sich der preußische Minister Herr von Jordan melden, und wir zogen uns in das angrenzende Zimmer.
1 Dieses Stück ist von Eckermann unterm 7. October aufgeführt, das darin erzählte Mittagsmahl ist aber wohl dasselbe, von welchem vorstehends unter a Soret richtig unterm 6. October berichtet; denn mir vorliegende Auszüge aus Goethes Tagebüchern besagen ausdrücklich am 7. October »Mittags für uns« und ferner wird darin am 6. October des auch von Eckermann erwähnten Besuchs des Herrn v. Jordan gedacht. Die Richtigkeit dieser Tagebuchauszüge durch Vergleich mit den Originalien festzustellen, verhindert die wiederholt erwähnte Clausur des Goethearchivs. S. auch unten S. 340, Z. 14.[340]
1761.*
1828, 8. October.
Zu Ehren Tiecks – Vater, Mutter, zwei Töchter... – waren oben [bei August und Ottilie] und unten Feste. Goethe sah die Familie zuerst bei sich zu Tisch; ich war zwar nicht gewünscht, erlaubte mir aber mit dem Vorrecht der Jugend nachher in das Allerheiligste einzudringen, um Tiecks zu Ottilie zu geleiten, während der alte Herr andere Gäste empfing. Es kam auf Walter Scott die Rede, welchen er sehr schätzt, was meinem englisch empfindenden Herzen sehr wohl that, nur wagte ich die Einwendung, daß The fair maid of Perth nicht immer allzu unterhaltend sei, worauf mir ein strafender Seitenblick und ein »Die Kinder wollen eben immer noch bunte Bilderbücher« zutheil wurde.[155]
1164.*
1828, 9. October.
Diesen Mittag bei Tische war ich mit Goethe und Frau von Goethe allein. Und wie ein Gespräch früherer Tage wohl wieder aufgenommen und fortgeführt wird, so geschah es auch heute. Der ›Moses‹ von Rossini kam abermals zur Sprache, und wir erinnerten uns gern Goethes heiterer Erfindung von vorgestern.
»Was ich in Scherz und guter Laune über den ›Moses‹ geäußert haben mag,« sagte Goethe, »weiß ich nicht mehr; denn so etwas geschieht ganz unbewußt Aber so viel ist gewiß, daß ich eine Oper nur dann mit Freuden genießen kann, wenn das Sujet ebenso vollkommen ist wie die Musik, sodaß beide miteinander gleichen Schritt gehen. Fragt ihr mich, welche Oper ich gut finde, so nenne ich euch den ›Wasserträger‹ [von Cherubini]; denn hier ist das Sujet so vollkommen, daß man es ohne Musik als ein bloßes Stück geben könnte und man es mit Freuden sehen würde. Diese Wichtigkeit einer guten Unterlage begreifen entweder die Componisten[340] nicht, oder es fehlt ihnen durchaus an sachverständigen Poeten, die ihnen mit Bearbeitung guter Gegenstände zur Seite träten. Wäre der ›Freischütz‹ kein so gutes Sujet, so hätte die Musik zu thun gehabt, der Oper den Zulauf der Menge zu verschaffen, wie es nun der Fall ist, und man sollte daher dem Herrn Kind auch einige Ehre erzeigen.«
Es ward noch verschiedenes über diesen Gegenstand gesprochen; dann aber gedachten wir des Professor Göttling und seiner italienischen Reise.
»Ich kann es dem Guten nicht verargen,« sagte Goethe, »daß er von Italien mit solcher Begeisterung redet; weiß ich doch, wie mir selber zu Muthe gewesen ist! Ja ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.« –
»Doch wir wollen uns nicht melancholischen Betrachtungen hingeben,« fuhr Goethe nach einer Pause fort. »Wie geht es mit Ihrem ›Fair Maid of Perth‹? Wie hält es sich? Wie weit sind Sie? Erzählen Sie mir und geben Sie Rechenschaft.«
»Ich lese langsam,« sagte ich; »ich bin jedoch bis zu der Scene vorgerückt wo Proudfute in der Rüstung von Henry Smith, dessen Gang und dessen Art zu pfeifen er nachahmt, erschlagen und am andern Morgen[341] von den Bürgern in den Straßen von Perth gefunden wird, die ihn für Henry Smith halten und darüber die ganze Stadt in Alarm setzen.«
»Ja,« sagte Goethe, »die Scene ist bedeutend, sie ist eine der besten.«
»Ich habe dabei besonders bewundert,« fuhr ich fort, »in wie hohem Grade Walter Scott das Talent besitzt, verworrene Zustände mit großer Klarheit auseinander zu setzen, sodaß alles zu Massen und zu ruhigen Bildern sich absondert, die einen solchen Eindruck in uns hinterlassen, als hätten wir dasjenige, was zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten geschieht, gleich allwissenden Wesen von oben herab mit einemmal übersehen.«
»Überhaupt,« sagte Goethe, »ist der Kunstverstand bei Walter Scott sehr groß, weshalb denn auch wir und unsersgleichen, die darauf, wie etwas gemacht ist, ein besonderes Augenmerk richten, an seinen Sachen ein doppeltes Interesse und davon den vorzüglichsten Gewinn haben. Ich will Ihnen nicht vorgreifen, aber Sie werden im dritten Theile noch einen Kunstpfiff der ersten Art finden. Daß der Prinz im Staatsrath den klugen Vorschlag gethan, die rebellischen Hochländer sich untereinander todtschlagen zu lassen, haben Sie bereits gelesen, auch daß der Palmsonntag festgesetzt worden, wo die beiden feindlichen Stämme der Hochländer nach Perth herabkommen sollen, um dreißig gegen dreißig auf Tod und Leben miteinander zu[342] fechten. Nun sollen Sie bewundern, wie Walter Scott es macht und einleitet, daß am Tage der Schlacht an der einen Partei ein Mann fehlt, und mit welcher Kunst er es von fern heranzustellen weiß, seinen Helden Henry Smith an den Platz des fehlenden Mannes unter die Kämpfenden zu bringen. Dieser Zug ist überaus groß, und Sie werden sich freuen, wenn Sie dahin kommen.
Wenn Sie aber mit dem ›Fair Maid of Perth‹ zu Ende sind, so müssen Sie sogleich den ›Waverley‹ lesen, der freilich noch aus ganz andern Augen sieht, und der ohne Frage den besten Sachen an die Seite zu stellen ist, die je in der Welt geschrieben worden. Man sieht, es ist derselbige Mensch, der die ›Fair Maid of Perth‹ gemacht hat, aber es ist derjenige, der die Gunst des Publikums erst noch zu gewinnen hatte und der sich daher zusammennimmt, sodaß er keinen Zug thut, der nicht vortrefflich wäre. Die ›Fair Maid of Perth‹ dagegen ist mit einer breitern Feder geschrieben, der Autor ist schon seines Publikums gewiß, und er läßt sich schon etwas freier gehen. Wenn man den ›Waverley‹ gelesen hat, so begreift man freilich wohl, warum Walter Scott sich noch jetzt immer den Verfasser jener Production nennt; denn darin hat er gezeigt was er konnte, und er hat später nie etwas geschrieben, das besser wäre oder das diesem zuerst publicirten Romane nur gleichkäme.«[343]
1762.*
1828, 9. October.
Einige Tage1 später war Thee bei Ottilie. Man stand umher, sprach mit gedämpfter Stimme, sah sich bei jedem Geräusch erschrocken nach der Thür um, als[155] ob eine Geistererscheinung erwartet würde, aber sie kam nicht, Ottilie sollte sie herausbeschwören, doch die irdischen wie die himmlischen Geister sind eigensinnig. Man wurde unruhig. Tieck wechselte die Farbe, biß sich auf die Lippen, immer häufiger flogen die unsichtbaren Engel durch's Zimmer. Ich wandte mich an Eckermännchen, der still in einer Ecke stand und eben sein unvermeidliches Notizbuch einsteckte. ›Er will nicht,‹ sagte er. Da nahm ich meinen Muth zusammen und ging hinunter. Die ersten Stufen lies ich, die letzten schlich ich nur langsam; denn ich fürchtete mich doch etwas und wäre fast schon umgekehrt, wenn ich mich nicht vor Friedrich geschämt hätte. Er wollte mich nicht melden; ich sollte nur so hineingehen, meinte er.
Goethe stand am Schreibpult im langen, offenen Hausrock, einen Haufen alter Schriften vor sich. Er bemerkte mich nicht; ich sagte schüchtern: »Guten Abend!« Er drehte den Kopf, sah mich groß an, räusperte sich, – das deutlichste Zeichen unterdrückten Zornes. Ich hob bittend die Hände. »Was will das Frauenzimmerchen?« brummte er. »Wir warten aus den Herrn Geheimrath und Tieck –« – »Ach was!« polterte der alte Herr; »Glaubt Sie, kleines Mädchen, daß ich zu jedem laufe, der wartet? Was würde dann aus dem da?« und damit zeigt er auf die offenen Bogen; »wenn ich todt bin, macht's keiner. Sagen Sie das droben der Sippschaft. Guten Abend.« Ich zitterte beim Klang der immer mächtiger anschwellenden[156] Stimme, sagte leise »Guten Abend!« Doch er mochte wol sehr traurig geklungen haben; denn Goethe rief mich zurück, sah mich freundlich an und sprach mit ganz verändertem Tonfall: »Ein Greis, der noch arbeiten will, darf nicht jedem zu Gefallen seinen Willen umstimmen; thut er's, so wird er der Nachwelt gar nicht gefallen. Gehen Sie, Kind! Ihre frohe Jugend wird denen da oben besser behagen, als heut Abend mein nachdenkliches Alter.«
1 Irrig statt: »einen Tag«.[157]
1165.*
1828, 10. October.
Ich [Eckermann] fand wieder eine heitere Tischgesellschaft geladen zu Ehren Tieck's und der Gräfin [Finkenstein], die auf Bitten Goethes und der übrigen Freunde noch einen Tag zugegeben hatten, während der übrige Theil dieser Familie schon am Morgen nach Dresden vorausgereist war.
Ein besonderer Gegenstand der Unterhaltung bei Tische war die englische Literatur und namentlich Walter Scott, bei welcher Gelegenheit Tieck unter anderm sagte, daß er vor zehn Jahren das erste Exemplar des ›Waverley‹ nach Deutschland gebracht habe.[344]
1166.*
1828, 11. October.
Eine Reise, welche G. F. Wiggers mit seiner Gattin und seinen beiden Söhnen Julius und Moritz, damals siebzehn und zwölf Jahr alt, am 2. September 1828 antrat und deren Zielpunkt das auf dem Umwege über Berlin und Dresden aufgesuchte Schulpforta war, wo der ältere der beiden Söhne als Alumnus der Anstalt abgesetzt werden sollte, führte auch nach Weimar, wo die Reisenden am Sonnabend Vormittag, den 11. October,[344] ankamen. Die Werke Goethes hatten in mancher stillen abendlichen Stunde den Gegenstand der Vorlesung und Besprechung im Wiggers'schen Familienkreise gebildet, und der Wunsch den großen Dichter von Angesicht kennen zu lernen, war durch die Verehrung nahe gelegt, von welcher alle Mitglieder der Familie gegen ihn erfüllt waren. Der Versuch ward zur guten Stunde gewagt. Zunächst fragte Wiggers nur für seine Person schriftlich bei Goethe an, ob es erlaubt sei ihm einen kurzen Besuch abzustatten. Er ward sogleich, zu Mittags 12 Uhr, angenommen. Es war dabei oder noch auf Weiteres abgesehen: Wiggers hatte ein Gedicht seiner Gattin auf den Weg mitgenommen, mittels dessen auch sie sich um die Gunst bewarb, dem Dichter persönlich ihre Huldigung darzubringen. Es dauerte auch nicht lange, so kehrte Wiggers mit der freudigen Botschaft zu seiner Gattin zurück, daß Goethe ihm aufgetragen habe, sie sogleich zu ihm abzuholen. Als Supernumerarier glaubten die Eltern nun auch die beiden Söhne mitführen zu dürfen. Erwartungsvoll stellte sich die Familie in Goethes Empfangszimmer auf. Wenige Secunden verflossen, da öffnete sich die Thür des anstoßenden Zimmers und die hohe würdevolle Gestalt mit der breiten gewölbten Brust, der erhabenen freien Stirn, dem glänzenden Auge und dem weißen Lockenhaar, in schwarzer, mit einem silbernen Stern verzierter Kleidung schritt in aufrechter Haltung den sich vor ihm tief Verneigenden mit freundlichem[345] Willkommen entgegen. Dem Anscheine nach durch die Vollzähligkeit, in welcher die Familie bei ihm erschienen war, nicht so sehr überrascht, als erheitert, führte er die Frau Wiggers zu einem Sopha, auf welchem er sich neben ihr niederließ, während die Übrigen vor dem Sopha im Halbkreise sitzend die Gruppe abschließen mußten. Die Unterhaltung kam bald auf den Anlaß der Reise und auf Schulpforta. Mit vieler Theilnahme ließ Goethe sich von den Einrichtungen dieser Schulanstalt erzählen, wobei die Mutter mit dem Ausdruck der Besorgniß wegen der Strenge der klösterlichen Disciplin nicht zurückhielt. Er hörte mit Aufmerksamkeit die Darstellung an und schien die Sorge nicht unberechtigt zu finden. Gültig wandte er sich dann zu ihr mit der Bemerkung: »Hätte ich über Sie zu bestimmen gehabt, so würde ich Ihnen entschieden abgerathen haben, einen Blick in die inneren Einrichtungen der Anstalt zu werfen. Eine Mutter, die in Liebe gewohnt ist, ihr Kind als Ganzes in ihrem Hause zu sehen, wird es nur mit Sorge einer Anstalt übergeben, wo es nur ein unbedeutender Theil des Ganzen ist.«
Im Übrigen verhielt er sich in gewohnter Weise mehr fragend, als sich mittheilend. Seine Erkundigungen bezogen sich unter anderem auf die Familie des Dichters Kosegarten. Beim Abschied wandte er sich an den ältesten Sohn mit der wohlwollenden Einladung, bei einem etwaigen spätern Ausfluge von Schulpforta nach Weimar seines Hauses zu gedenken, welches[346] ihm stets offen stehen werde. Er geleitete dann die sich Verabschiedenden bis an die Thüre und richtete hier mit den Worten »Wolf! Begleite!« an seinen im Zimmer herumlaufenden Enkel Wolfgang die Aufforderung zur Fortsetzung dieses Höflichkeitswerkes. Noch durch die offene Thüre gab der alte Meister den Fremden die Versicherung auf den Weg, daß er sich nach ihnen erkundigen wolle, sooft sich ihm dazu Gelegenheit bieten werde.
Kaum war die Familie wieder im Gasthof angelangt, als ihnen noch eine Botschaft des Dichters auf dem Fuße folgte. Der kleine Wolfgang v. Goethe trat ein und überreichte der freudig überraschten Frau Wiggers im Auftrage seines Großvaters ein Kästchen, eine Medaille von Bronze mit dem Brustbilde Goethes enthaltend, nebst einer Visitenkarte von diesem. Goethe ließ dabei die Bitte aussprechen, sich dabei seiner oftmals zu erinnern.[347]
1167.*
1828, 11. October.
Das gedachte [Eckermann Tags vorher zugegangene dritte Stück des] Foreign Review des Herrn Fraser enthielt unter vielen bedeutenden und interessanten Gegenständen auch einen höchst würdigen Aufsatz über Goethe von Carlyle, den ich diesen Morgen studirte.[347] Ich ging Mittags ein wenig früher zu Tische, um vor der Ankunft der übrigen Gäste mich mit Goethe darüber zu bereden.
Ich fand ihn, wie ich wünschte, noch allein, in Erwartung der Gesellschaft. Er trug seinen schwarzen Frack und Stern, worin ich ihn so gern sehe; er schien heute besonders jugendlich heiter, und wir fingen sogleich an von unserm gemeinsamen Interesse zu reden. Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls diesen Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebungen der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen.
»Es ist eine Freude, zu sehen,« sagte Goethe, »wie die frühere Pedanterie der Schotten sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carlyle's Verdienste um die deutsche Literatur erwäge, so ist es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Bessern geschehen ist.«
»An Carlyle,« sagte ich, »muß ich vor allem den Geist und Character verehren, der seinen Richtungen zum Grunde liegt. Es ist ihm um die Cultur seiner Ration zu thun, und da fragt er denn bei den literarischen Erzeugnissen des Auslandes, womit er seine Landsleute bekannt zu machen wünscht, weniger nach Künsten des Talents als nach der Höhe sittlicher Bildung, die aus solchen Werken zu gewinnen.«
[348] »Ja,« sagte Goethe, »die Gesinnung, aus der er handelt, ist besonders schätzbar. Und wie ist es ihm Ernst! und wie hat er uns Deutsche studirt! Er ist in unserer Literatur fast besser zu Hause als wir selbst; zum wenigsten können wir mit ihm in unsern Bemühungen um das Englische nicht wetteifern.«
»Der Aufsatz,« sagte ich, »ist mit einem Feuer und Nachdruck geschrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß in England noch viele Vorurtheile und Widersprüche zu bekämpfen sind. Den ›Wilhelm Meister‹ zumal scheinen übelwollende Kritiker und schlechte Übersetzer in kein günstiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt sich nun Carlyle sehr gut. Der dummen Nachrede, daß keine wahre Edelfrau den ›Meister‹ lesen dürfe, widerspricht er sehr heiter mit dem Beispiele der letzten Königin von Preußen, die sich mit dem Buche vertraut gemacht und die doch mit Recht für eine der ersten Frauen ihrer Zeit gelte.«
Verschiedene Tischgäste traten herein, die Goethe begrüßte. Er wendete seine Aufmerksamkeit mir wieder zu, und ich fuhr fort.
»Freilich,« sagte ich, »hat Carlyle den ›Meister‹ studirt, und so durchdrungen von dem Werth des Buches wie er ist, möchte er gern, daß es sich allgemein verbreitete, er möchte gern, daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.«
Goethe zog mich an ein Fenster, um mir zu antworten.
[349] »Liebes Kind,« sagte er, »ich will Ihnen etwas vertrauen, das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrthum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.«
Er wollte weiter reden; eine junge Dame trat heran, ihn unterbrechend und ihn in ein Gespräch ziehend. Ich wendete mich zu andern, worauf wir uns bald zu Tische setzten.
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Unterdessen hatte man um mich her heiter gescherzt und gesprochen und es sich an guten Gerichten wohl sein lassen. Ich hatte auch mitunter ein Wörtchen mit dreingeredet, aber alles ohne eigentlich bei der Sache zu sein. Eine Dame hatte eine Frage an mich gerichtet, worauf ich vielleicht nicht die beste Antwort mochte gegeben haben. Ich wurde geneckt.
»Laßt nur den Eckermann,« sagte Goethe, »er ist immer abwesend, außer wenn er im Theater sitzt.«
Man lachte auf meine Kosten; doch war es mir nicht unlieb. Ich war heute in meinem Gemüth besonders glücklich. Ich segnete mein Geschick, das mich nach manchen wunderlichen Fügungen den wenigen zugesellt hatte, die den Umgang und das nähere Vertrauen eines Mannes genießen, dessen Größe mir noch[350] vor wenig Augenblicken lebhaft durch die Seele gegangen war, und den ich nun in seiner vollen Liebenswürdigkeit persönlich vor Augen hatte.
Bisquit und schöne Trauben wurden zum Nachtisch aufgetragen Letztere waren aus der Ferne gesendet, und Goethe that geheimnißvoll, woher sie gekommen. Er vertheilte sie und reichte mir eine sehr reife über den Tisch. »Hier, mein Guter,« sagte er, »essen Sie von diesen Süßigkeiten und seien Sie vergnügt.« Ich ließ mir die Traube aus Goethes Händen wohl schmecken und war nun mit Leid und Seele völlig in seiner Nähe.
Man sprach vom Theater, von Wolff's Verdiensten, und wie viel Gutes von diesem trefflichen Künstler ausgegangen.
»Ich weiß sehr wohl,« sagte Goethe, »daß unsere hiesigen ältern Schauspieler manches von mir gelernt haben, aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur Wolff meinen Schüler nennen. Wie sehr er in meine Maximen eingedrungen war, und wie er in meinem Sinne handelte, davon will ich einen Fall erzählen, den ich gern wiederhole.
Ich war einst gewisser anderer Ursachen wegen auf Wolff sehr böse. Er hatte abends zu spielen, und ich saß in meiner Loge. Jetzt, dachte ich, sollst du ihm doch einmal recht aufpassen; es ist doch heute nicht die Spur einer Neigung in dir, die für ihn sprechen und ihn entschuldigen könnte! Wolff spielte,[351] und ich wendete mein geschärftes Auge nicht von ihm. Aber wie spielte er! wie war er sicher! wie war er fest! Es war mir unmöglich, ihm nur den Schein eines Verstoßes gegen die Regeln abzulisten, die ich ihm eingepflanzt hatte, und ich konnte nicht umhin, ich mußte ihm wieder gut sein.«[352]
1168.*
1828, 20. October.
Oberbergrath Nöggerath aus Bonn, von dem Verein der Naturforscher aus Berlin zurückkehrend, war heute: an Goethes Tisch ein sehr willkommener Gast. Über Mineralogie ward viel verhandelt; der werthe Fremde gab besonders gründliche Auskunft über die mineralogischen Vorkommen und Verhältnisse in der Nähe von Bonn.
Nach ausgehobener Tafel traten wir in das Zimmer mit der kolossalen Büste der Juno. Goethe zeigte den Gästen einen langen Papierstreifen mit Conturen des Frieses vom Tempel zu Phigalia. Man betrachtete das Blatt und wollte bemerken, daß die Griechen bei ihren Darstellungen von Thieren sich weniger an die Natur gehalten, als daß sie dabei nach einer gewissen Convenienz verfahren. Man wollte gefunden haben, daß sie in Darstellungen dieser Art hinter der Natur zurückgeblieben, und daß Widder, Opferstiere und Pferde,[352] wie sie auf Basreliefs vorkommen, häufig sehr steife, unförmliche und unvollkommene Geschöpfe seien.
»Ich will darüber nicht streiten,« sagte Goethe, »aber vor allen Dingen muß man unterscheiden, aus welcher Zeit und von welchem Künstler solche Werke herrühren. Denn so lieben sich wohl Musterstücke in Menge vorlegen, wo griechische Künstler in ihren Darstellungen von Thieren die Natur nicht allein erreicht, sondern sogar weit übertroffen haben. Die Engländer, die ersten Pferdekenner der Welt, müssen doch jetzt von zwei antiken Pferdeköpfen gestehen, daß sie in ihren Formen so vollkommen befunden werden, wie jetzt gar keine Rassen mehr auf der Erde existiren. Es sind diese Köpfe aus der besten griechischen Zeit, und wenn uns nun solche Werke in Erstaunen setzen, so haben wir nicht sowohl anzunehmen, daß jene Künstler nach einer mehr vollkommenen Natur gearbeitet haben, wie die jetzige ist, als vielmehr, daß sie im Fortschritte der Zeit und Kunst selber etwas geworden waren, sodaß sie sich mit persönlicher Großheit an die Natur wandten.«
Während dieses gesprochen wurde, stand ich mit einer Dame seitwärts an einem Tische, um ein Kupferwerk zu betrachten, und ich konnte zu Goethes Worten nur ein halbes Ohr wenden, desto tiefer aber ergriff ich sie mit meiner Seele.
Die Gesellschaft war nach und nach gegangen, und ich mit Goethe allein gelassen, der sich zum Ofen stellte. Ich trat in seine Nähe.[353]
»Euer Excellenz,« sagte ich, »haben vorhin in der Äußerung, daß die Griechen sich mit persönlicher Großheit an die Natur gewandt, ein gutes Wort gesprochen, und ich halte dafür, daß man sich von diesem Satz nicht tief genug durchdringen könne.«
»Ja, mein Guter,« sagte Goethe, »hierauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Cultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Rothschild ist reich, aber es hat mehr als ein Menschenalter gekostet, um zu solchen Schätzen zu gelangen. Diese Dinge liegen alle tiefer als man denkt. Unsere guten altdeutschelnden Künstler wissen davon nichts, sie wenden sich mit persönlicher Schwäche und künstlerischem Unvermögen zur Nachahmung der Natur und meinen, es wäre was. Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so gesteigert haben, daß er gleich den Griechen im Stande sei, die geringere reale Natur zu der Höhe seines Geistes heranzuheben und dasjenige wirklich zu machen, was in natürlichen Erscheinungen, aus innerer Schwäche oder aus äußerm Hinderniß, nur Intention geblieben ist.«[354]
1169.*
1828, 22. October.
Heute war bei Tische von den Frauen die Rede, und Goethe äußerte sich darüber sehr schön. »Die[354] Frauen,« sagte er, »sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, sondern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden Gott weiß wie! Meine dargestellten Frauencharactere sind daher auch alle gut weggekommen; sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.«[355]
1763.*
1828, 23. October.
Goethe sprach heute mit großer Anerkennung über eine kleine Schrift des Kanzlers, die den Großherzog Karl August zum Gegenstande hat und das thatenreiche Leben dieses seltenen Fürsten in gedrängter Kürze vorüberführt.
»Die kleine Schrift ist wirklich sehr gelungen,« sagte Goethe, »das Material mit großer Umsicht und großem Fleiß zusammengebracht, sodann alles vom Hauch der innigsten Liebe beseelt, und zugleich die Darstellung so knapp und kurz, daß That auf That sich drängt und bei dem Anblick einer solchen Fülle von Leben und Thun es uns zu Muthe wird, als würden wir von einem geistigen Schwindel ergriffen. Der Kanzler hat seine Schrift auch nach Berlin geschickt und darauf[157] vor einiger Zeit einen höchst merkwürdigen Brief von Alexander von Humboldt erhalten, den er nicht ohne tiefe Rührung habe lesen können. Humboldt war dem Großherzog während eines langen Lebens auf das innigste befreundet, welches freilich nicht zu verwundern, indem die reich angelegte tiefe Natur des Fürsten immer nach neuem Wissen bedürftig und gerade Humboldt der Mann war, der bei seiner großen Universalität auf jede Frage die beste und gründlichste Antwort immer bereit hatte.
Nun fügte es sich in der That wunderbar, daß der Großherzog gerade die letzten Tage vor seinem Tode in Berlin in fast beständiger Gesellschaft mit Humboldt verleben, und daß er über manches wichtige Problem, was ihm am Herzen lag, noch zuletzt von seinem Freunde Aufschluß erhalten konnte; und wiederum war er nicht ohne höhere günstige Einwirkung, daß einer der größten Fürsten, die Deutschtand je besessen, einen Mann wie Humboldt zum Zeugen seiner letzten Tage und Stunden hatte. Ich habe mir von dem Briefe eine Abschrift nehmen lassen und will Ihnen doch einiges daraus mittheilen.«
Goethe stand auf und ging zu seinem Pult, wo er den Brief nahm und sich wieder zu mir an den Tisch setzte. Er las eine Weile im stillen. Ich sah Thränen in seinen Augen. »Lesen Sie es für sich,« sagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.
[158] – – – – – – – – – – – – – – – – –
Ich gab Goethen über diesen herrlichen Brief meine innige Freude zu erkennen. »Sie sehen,« sagte Goethe, »was für ein bedeutender Mensch er war. Aber wie gut ist es von Humboldt, daß er diese wenigen letzten Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können, worin die ganze Natur des vorzüglichsten Fürsten sich spiegelt. Ja, so war er! Ich kann es am besten sagen, denn es kannte ihn im Grunde niemand so durch und durch wie ich selber. Ist es aber nicht ein Jammer, daß kein Unterschied ist und daß auch ein solcher Mensch so früh dahin muß? Nur ein lumpiges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben! – Aber wissen Sie was? Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele als wir denken und wünschen. Immer sind die retardirenden Dämonen da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, sodaß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam. Leben Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich recht habe.«
»Die Entwickelung der Menschheit,« sagte ich, »scheint aus Jahrtausende angelegt.«
»Wer weiß,« erwiderte Goethe, »vielleicht auf Millionen! Aber laß die Menschheit dauern so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Noth, damit sie ihre Kräfte entwickele. Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und[159] thatkräftiger nicht oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber die dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende aus dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.«
Goethe war in besonders guter, erhöhter Stimmung. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er sich und mir einschenkte. Unser Gespräch ging wieder auf den Großherzog Karl August zurück.
»Sie sehen,« sagte Goethe, »wie sein außerordentlicher Geist das ganze Reich der Natur umfaßte. Physik, Astronomie, Geognosie, Meteorologie, Pflanzen und Thierformen der Urwelt, und was sonst dazu gehört, er hatte für alles Sinn und für alles Interesse. Er war achtzehn Jahre alt, als ich nach Weimar kam, aber schon damals zeigten seine Keime und Knospen, was einst der Baum sein würde. Er schloß sich bald auf das innigste an mich an und nahm an allem, was ich trieb, gründlichen Antheil. Daß ich fast zehn Jahre älter war als er, kam unserm Verhältniß zugute. Er saß ganze Abende bei mir in tiefen Gesprächen über Gegenstände der Kunst und Natur und was sonst allerlei Gutes vorkam. Wir saßen oft tief in die[160] Nacht hinein, und es war nicht selten daß wir nebeneinander aus meinem Sofa einschliefen. Fünfzig Jahre lang haben wir es miteinander fortgetrieben, und es wäre kein Wunder wenn wir es endlich zu etwas gebracht hätten.«
»Eine so gründliche Bildung,« sagte ich, »wie sie der Großherzog gehabt zu haben scheint, mag bei fürstlichen Personen selten vorkommen.«
»Sehr selten!« erwiderte Goethe. »Es giebt zwar viele, die fähig sind über alles sehr geschickt mitzureden; aber sie haben es nicht im Innern und krabbeln nur an den Oberflächen. Und es ist kein Wunder, wenn man die entsetzlichen Zerstreuungen und Zerstückelungen bedenkt, die das Hofleben mit sich führt und denen ein junger Fürst ausgesetzt ist. Von allem soll er Notiz nehmen. Er soll ein bißchen das kennen und ein bißchen das, und dann ein bißchen das und wieder ein bißchen das. Dabei kann sich aber nichts setzen und nichts Wurzel schlagen, und es gehört der Fonds einer gewaltigen Natur dazu, um bei solchen Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen. Der Großherzog war freilich ein geborener großer Mensch, womit alles gesagt und alles gethan ist.«
»Bei allen seinen höhern wissenschaftlichen und geistigen Richtungen,« sagte ich, »scheint er doch auch das Regieren verstanden zu haben.«
»Er war ein Mensch aus dem Ganzen,« erwiderte Goethe, »und es kam bei ihm alles aus einer einzigen[161] großen Duelle. Und wie das Ganze gut war, so war das Einzelne gut, er mochte thun und treiben was er wollte. Übrigens kamen ihm zur Führung des Regiments besonders drei Dinge zu statten. Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und jeden an seinen Platz zu stellen. Das war sehr viel. Dann hatte er noch etwas, was ebenso viel war, wo nicht noch mehr: er war beseelt von dem edelsten Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe, und wollte mit ganzer Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edeln Menschen entgegenzukommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches. Er hätte die ganze Menschheit beglücken mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren.
Und drittens: er war größer als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte, bessere in sich selber. Fremde Zuflüsterungen glitten an ihm ab, und er kam nicht leicht in den Fall, etwas Unfürstliches zu begehen, indem er das zweideutig gemachte Verdienst zurücksetzte und empfohlene Lumpe in Schutz nahm. Er sah überall selber, urtheilte selber und hatte in allen Fällen in sich selber die sicherste Basis. Dabei war er schweigsamer Natur, und seinen Worten folgte die Handlung.«[162]
»Wie leid thut es mir,« sagte ich, »daß ich nicht viel mehr von ihm gekannt habe als sein Äußeres; doch das hat sich mir tief eingeprägt. Ich sehe ihn noch immer auf seiner alten Droschke, im abgetragenen grauen Mantel und Militärmütze und eine Cigarre rauchend, wie er aus die Jagd fuhr, seine Lieblingshunde nebenher. Ich habe ihn nie anders fahren sehen als auf dieser unansehnlichen alten Droschke, auch nie anders als zweispännig. Ein Gepränge mit sechs Pferden und Röcke mit Ordenssternen scheint nicht sehr nach seinem Geschmack gewesen zu sein.«
»Das ist,« erwiderte Goethe, »jetzt bei Fürsten überhaupt kaum mehr an der Zeit. Es kommt jetzt darauf an, was einer auf der Waage der Menschheit wiegt; alles übrige ist eitel. Ein Rock mit dem Stern und ein Waagen mit sechs Pferden imponirt nur noch allenfalls der rohesten Masse, und kaum dieser. Übrigens hing die alte Droschke des Großherzogs kaum in Federn. Wer mit ihm fuhr, hatte verzweifelte Stöße auszuhalten. Aber das war ihm eben recht. Er liebte das Derbe und Unbequeme und war ein Feind aller Verweichlichung.«
»Spuren davon,« sagte ich, »sieht man schon in Ihrem Gedicht ›Ilmenau‹, wo Sie ihn nach dem Leben gezeichnet zu haben scheinen.«
»Er war damals sehr jung,« erwiderte Goethe; »doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger[163] Gärung. Er wußte mit seinen Kräften nicht wo hinaus, und wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen. Auf Parforcepferden über Hecken, Gräben und durch Flüsse, und bergauf bergein sich tagelang abarbeiten, und dann Nachts unter freiem Himmel kampiren, etwa bei einem Feuer im Walde: das war nach seinem Sinne. Ein Herzogthum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eins erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen.
Das Ilmenauer Gedicht,« fuhr Goethe fort, »enthält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, sodaß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte. Es ist darin, wie Sie wissen, eine nächtliche Scene vorgeführt, etwa nach einer solchen halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsens kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern gedeckt, um darin auf trockenem Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten mehrere Feuer, und wir kochten und brieten was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem schon damals die Tabakspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trockenen Späßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorff, der schlanke mit den langen seinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. Abseits in[164] einer ähnlichen kleinen Hütte lag der Herzog im tiefen Schlaf. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorff erscheinen mir noch jetzt gar nicht schlecht gezeichnet, und auch der junge Fürst nicht in diesem düstern Ungestüm seines zwanzigsten Jahres:
Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal,
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus,
Und von unmuthiger Bewegung
Ruht er unmuthig wieder aus.
Und düster wild an heitern Tagen,
Unbändig ohne froh zu sein,
Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerschlagen,
Auf einem harten Lager ein.
So war er ganz und gar. Es ist darin nicht der kleinste Zug übertrieben. Doch aus dieser Sturm- und Drangperiode hatte sich der Herzog bald zu wohlthätiger Klarheit durchgearbeitet, sodaß ich ihn zu seinem Geburtstage im Jahre 1783 an diese Gestalt seiner frühern Jahre sehr wohl erinnern mochte.
Ich leugne nicht, er hat mir anfänglich manche Noth und Sorge gemacht. Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald und bildete sich bald zum Besten,[165] sodaß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken.«
»Sie machten,« bemerkte ich, »in dieser ersten Zeit mit ihm eine einsame Reise durch die Schweiz.«
»Er liebte überhaupt das Reisen,« erwiderte Goethe; »doch war es nicht sowohl um sich zu amusiren und zu zerstreuen, als um überall die Augen und Ohren offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches zu achten, das er in seinem Lande einführen könnte. Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind ihm aus diese Weise unendlich viel schuldig geworden. Überhaupt waren seine Tendenzen nicht persönlich, egoistisch, sondern rein produktiver Art, und zwar produktiv für das allgemeine Beste. Dadurch hat er sich denn auch einen Namen gemacht, der über dieses kleine Land weit hinausgeht.«
»Sein sorgloses einfaches Äußere,« sagte ich, »schien anzudeuten, daß er den Ruhm nicht suche, und daß er sich wenig aus ihm mache. Es schien als sei er berühmt geworden ohne sein weiteres Zuthun, bloß wegen seiner stillen Tüchtigkeit.«
»Es ist damit ein eigenes Ding,« erwiderte Goethe. »Ein Holz trennt, weil es Stoff dazu in sich hat und ein Mensch wird berühmt, weil der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm nicht, und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl jemand durch kluges Benehmen und allerlei künstliche Mittel eine Art von Namen machen; fehlt aber dabei[166] das innere Juwel, so ist es eitel und hält nicht auf den andern Tag.
Ebenso ist es mit der Gunst des Volks. Er suchte sie nicht und that den Leuten keineswegs schön; aber das Volk liebte ihn, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie habe.«
Goethe erwähnte sodann die übrigen Glieder des großherzoglichen Hauses, und wie durch alle der Zug eines edeln Charakters gehe. Er sprach über die Herzensgüte des jetzigen Regenten, über die großen Hoffnungen, zu denen der junge Prinz berechtige, und verbreitete sich mit sichtbarer Liebe über die seltenen Eigenschaften der jetzt regierenden hohen Fürstin, welche im edelsten Sinne große Mittel verwende, um überall Leiden zu lindern und gute Keime zu wecken. »Sie ist von jeher für das Land ein guter Engel gewesen,« sagte er, »und wird es mehr und mehr, je länger sie ihm verbunden ist. Ich kenne die Großherzogin seit dem Jahre 1805 und habe Gelegenheit in Menge gehabt, ihren Geist und Charakter zu bewundern. Sie ist eine der besten und bedeutendsten Frauen unserer Zeit und würde es sein, wenn sie auch keine Fürstin wäre. Und das ist's eben, worauf es ankommt, daß wenn auch der Purpur abgelegt worden, noch sehr viel Großes, ja eigentlich noch das Beste übrigbleibe.«
Wir sprachen sodann über die Einheit Deutschlands, und in welchem Sinne sie möglich und wünschenswert.
»Mir ist nicht bange,« sagte Goethe, »daß Deutschland[167] nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige thun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind; es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passiren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines weimarischen Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaats nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.
Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volks gereiche, so ist man im Irrthum.
Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Körper mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich wohl die Residenz eines Staates dem Herzen vergleichen, von welchem aus Leben und Wohlsein in die einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströmende Leben[168] schwach und immer schwächer empfunden werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Kulturzustand Frankreichs entworfen und die größere oder geringere Aufklärung der verschiedenen Departements mit hellern oder dunklern Farben zur Anschauung gebracht. Da finden sich nun besonders in südlichen, weit von der Residenz entlegenen Provinzen einzelne Departements, die in ganz schwarzer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrschenden großen Finsterniß. Würde das aber wohl sein, wenn das schöne Frankreich statt des einen großen Mittelpunktes zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und Leben ausginge?
Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Theile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht.
Deutschtand hat über zwanzig im ganzen Reiche vertheilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken, an Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürst hat dafür[169] gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluß da, ja es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hatte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich?
Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebzig hinausgeht, und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und daß ist auch etwas!
Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen aus die benachbarten Provinzen ausgehen: und fragen Sie sich, ob das alles sein würde, wenn Sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?
Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen aus den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen: würden sie aber wohl bleiben was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränetät verlieren und irgend einem großen deutschen Reiche als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.«[170]
1170.*
1828, 18. November.
Goethe sprach von einem neuen Stück der ›Edinburgh Review‹. »Es ist eine Freude zu sehen,« sagte er, »zu welcher Höhe und Tüchtigkeit die englischen Kritiker sich jetzt erheben. Von der frühern Pedanterie ist keine Spur mehr, und große Eigenschaften sind an deren Stelle getreten. In dem letzten Stück, in einem Aufsatz über deutsche Literatur, finden Sie folgende Äußerung: ›Es giebt Leute unter den Poeten, deren Neigung es ist, immer in solchen Dingen zu verkehren, die ein anderer sich gern aus dem Sinne schlägt.‹ Nun, was sagen Sie? Da wissen wir mit einem Male, woran wir sind, und wissen, wohin wir eine große Zahl unserer neuesten Literatoren zu classificiren haben.«[355]
1171.*
1828, 22. November.
»Es sei ein göttlicher Kunstgriff der Bourbons, den Napoleon insofern anzuerkennen, daß sie zu verstehen geben, er habe im Auftrag von ihnen gearbeitet. Er erscheint wie ein Administrator, der amende so gut gewirthschaftet hat, daß sie wieder in ihrem Besitz eintreten können und alles so vorfinden, als wäre nichts gewesen. Daher theilen sie jetzt noch Orden der Ehrenlegion aus in Sachen, die unter ihm vorgekommen.«[356]
1172.*
1828, 3. December.
Heute hatte ich mit Goethen einen anmuthigen Spaß ganz besonderer Art. Madame Duval zu Cartigny im Canton Genf nämlich, die sehr geschickt in Zubereitung von Confitüren ist, hatte mir als Producte ihrer Kunst einige Cedraten für die Frau Großfürstin und Goethe geschickt, völlig überzeugt, daß ihre Confitüren alle andern so weit übertreffen, als die Gedichte Goethes diejenigen der meisten seiner deutschen Mitbewerber.
Die älteste Tochter jener Dame hatte nun schon längst eine Handschrift Goethes gewünscht, worauf es[356] mir einfiel, daß es klug sein würde, durch die süße Lockspeise der Cedraten Goethe zu einem Gedicht für meine junge Freundin anzukörnen.
Mit der Miene eines mit einem wichtigen Geschäft beauftragten Diplomaten ging ich daher zu ihm und unterhandelte mit ihm als Macht gegen Macht, indem ich für die offerirten Cedraten ein Originalgedicht seiner Hand zur Bedingung machte. Goethe lachte über diesen Scherz, den er sehr wohl aufnahm, und sich so gleich die Cedraten erbat, die er ganz vortrefflich fand. Wenige Stunden darauf war ich sehr überrascht, folgende Verse als ein Weihnachtsgeschenk für meine junge Freundin ankommen zu sehen:
Glücklich Land, allwo Cedraten
Zur Vollkommenheit gerathen
Und zu reizendem Genießen
Kluge Frauen sie durchsüßen! u.s.w.
Als ich ihn wiedersah, scherzte er über den Vortheil, den er jetzt aus seinem poetischen Metier zu ziehen im Stande sei, während er in seiner Jugend zu seinem ›Götz‹ keinen Verleger habe finden können. »Ihren Handelsvertrag,« sagte er, »nehme ich an; wenn meine Cedraten verschmaust sein werden, vergessen Sie ja nicht andere zu commandiren, ich werde pünktlich mit meinen poetischen Wechseln zahlen.«[357]
1173.*
1828, 16. December.
Ich war heute mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tische; wir sprachen über verschiedene literarische Dinge.
»Die Deutschen,« sagte er, »können die Philisterei nicht los werden. Da quengeln und streiten sie jetzt über verschiedene Distichen, die sich bei Schiller gedruckt finden und auch bei mir, und sie meinen, es wäre von Wichtigkeit, entschieden herauszubringen, welche denn wirklich Schillern gehören und welche mir. Als ob etwas darauf ankäme, als ob etwas damit gewonnen würde, und als ob es nicht genug wäre, daß die Sachen da sind!
Freunde wie Schiller und ich, jahrelang verbunden, mit gleichen Interessen, in täglicher Berührung und gegenseitigem Austausch, lebten sich ineinander so sehr hinein, daß überhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage sein konnte, ob sie dem einen gehörten oder dem andern. Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede sein! Man müßte wirklich selbst noch tief in der Philisterei stecken, wenn man[358] auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte.«
»Etwas Ähnliches,« sagte ich, »kommt in der literarischen Welt häufig vor, indem man z.B. an dieses oder jenes berühmten Mannes Originalität zweifelt und die Quellen auszuspüren sucht, woher er eine Cultur hat.«
»Das ist sehr lächerlich,« sagte Goethe; »man könnte ebenso gut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen was wir können und was uns gemäß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shakespeare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig geworden. Allein damit sind die Quellen meiner Cultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nöthig. Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt wo sie es findet.
Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch[359] fand, daß ich es wieder sagte, und daß ich dafür strebte, in einer confusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.
Und dann: mau muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von Einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Encyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrthum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.
Oft lehrt man auch Wahrheit und Irrthum zugleich und hält sich an letzteren. So las ich vor einigen Tagen in einer englischen Encyklopädie die Lehre von der Entstehung des Blauen. Obenan stand die wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der größten Ruhe aber folgte zugleich der Newton'sche Irrthum, und zwar mit dem Bemerken, daß man sich an diese zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene sei.«
Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieses hörte. »Jede Wachskerze,« sagte ich, »jeder erleuchtete Küchenrauch, der etwas Dunkles hinter sich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen liegt, überzeugen mich täglich von der Entstehung der blauen Farbe und lehren mich die Bläue des Himmels begreifen. Was aber die Newton'schen Schüler sich dabei denken mögen, daß die Luft die Eigenschaft besitze, alle übrigen Farben zu verschlucken und nur die blaue zurückzuwerfen, dieses ist mir völlig unbegreiflich,[360] und ich sehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude man an einer Lehre haben kann, wobei jeder Gedanke völlig stillsteht und jede gesunde Anschauung durchaus verschwindet.«
»Gute Seele,« sagte Goethe, »um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu thun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewußt und nicht übel ausgesprochen hat:
Vor allem haltet euch an Worte!
Dann geht ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein –«
Goethe recitirte diese Stelle lachend und schien überall in der besten Laune. »Es ist nur gut,« sagte er, »daß schon alles gedruckt steht; und so will ich fortfahren ferner drucken zu lassen, was ich gegen falsche Lehren und deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.« –
»Treffliche Menschen,« fuhr er nach einer Pause fort, »kommen jetzt in den Naturwissenschaften heran, und ich sehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber sie halten sich nicht; ihr vorwaltendes Subjective führt sie in die Irre. Wiederum andere halten zu sehr auf Facta und sammeln deren zu einer Unzahl, wodurch nichts bewiesen wird. Imganzen fehlt der theoretische Geist, der fähig wäre, zu Urphänomenen[361] durchzudringen und der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.«
Ein kurzer Besuch unterbrach unsere Unterhaltung; bald aber wieder allein gelassen, lenkte sich das Gespräch auf die Poesie, und ich erzählte Goethen, daß ich dieser Tage seine kleinen Gedichte wieder betrachtet und besonders bei zweien verweilt habe, bei der Ballade nämlich von den Kindern und dem Alten, und bei den ›Glücklichen Gatten‹.
»Ich halte auf diese beiden Gedichte selber etwas,« sagte Goethe, »wiewohl das deutsche Publikum bis jetzt nicht viel daraus hat machen können.«
»In der Ballade,« sagte ich, »ist ein sehr reicher Gegenstand in große Enge zusammengebracht, mittels aller poetischen Formen und Künste und Kunstgriffe, worunter ich besonders den hochschätze, daß das Vergangene der Geschichte den Kindern von dem Alten bis zu dem Punkt erzählt wird, wo die Gegenwart eintritt und das übrige sich vor unsern Augen entwickelt.«
»Ich habe die Ballade lange mit mir herumgetragen,« sagte Goethe, »ehe ich sie niederschrieb; es stecken Jahre von Nachdenken darin, und ich habe sie drei- bis viermal versucht, ehe sie mir so gelingen wollte, wie sie jetzt ist.«
»Das Gedicht von den ›Glücklichen Gatten‹,« fuhr ich fort, »ist gleichfalls sehr reich an Motiven; es erscheinen darin ganze Landschaften und Menschenleben,[362] durchwärmt von dem Sonnenschein eines anmuthigen Frühlingshimmels, der sich über dem Ganzen ausbreitet.«
»Ich habe das Gedicht immer lieb gehabt,« sagte Goethe, »und es freut mich, daß Sie ihm ein besonderes Interesse schenken. Und daß der Spaß zuletzt noch auf eine Doppelkindtaufe hinausgeht, dächte ich, wäre doch artig genug.«
Wir kamen sodann auf den ›Bürgergeneral‹, wovon ich erzählte, daß ich dieses heitere Stück in diesen Tagen mit einem Engländer gelesen, und daß in uns beiden der lebhafte Wunsch entstanden, es auf dem Theater zu sehen. »Dem Geiste nach,« sagte ich, »ist darin nichts veraltet, und im einzelnen der dramatischen Entwickelung ist darin kein Zug, der nicht für die Bühne gedacht wäre.«
»Es war zu seiner Zeit ein sehr gutes Stück,« sagte Goethe, »und es hat uns manchen heitern Abend gemacht. Freilich, es war trefflich besetzt und so vortrefflich einstudirt, daß der Dialog Schlag auf Schlag ging, im völligsten Leben. Malcolmi spielte den Märten; man konnte nichts Vollkommneres sehen.«
»Die Rolle des Schnaps,« sagte ich, »erscheint mir nicht weniger glücklich; ich dächte, das Repertoire hätte nicht viele aufzuweisen, die dankbarer und besser wären. Es ist in dieser Figur wie im ganzen Stück eine Deutlichkeit, eine Gegenwart, wie sie das Theater nur[363] wünschen kann. Die Scene, wo er mit dein Felleisen kommt und nacheinander die Sachen hervorbringt, wo er Märten den Schnurrbart anklebt und sich selbst mit Freiheitsmütze, Uniform und Degen bekleidet, gehört zu den vorzüglichsten.«
»Diese Scene,« sagte Goethe, »hat in früherer Zeit auf unserm Theater immer viel Glück gemacht. Es kam dazu noch der Umstand, daß das Felleisen mit den Sachen ein wirklich historisches war. Ich fand es nämlich zur Zeit der Revolution auf meiner Reise an der französischen Grenze, wo die Flucht der Emigrirten durchgegangen war, und wo es einer mochte verloren oder weggeworfen haben. Die Sachen, so wie sie im Stück vorkommen, waren alle darin; ich schrieb danach die Scene, und das Felleisen mit allem Zubehör spielte nachher, zu nicht geringem Vergnügen unserer Schauspieler, immer mit, sooft das Stück gegeben wurde.«
Die Frage, ob man den ›Bürgergeneral‹ noch jetzt mit Interesse und Nutzen sehen könne, machte noch eine Weile den Gegenstand unserer Unterhaltung.
Goethe erkundigte sich sodann nach meinen Fortschritten in der französischen Literatur, und ich erzählte ihm, daß ich mich abwechselnd noch immer mit Voltaire beschäftige, und daß das große Talent dieses Mannes mir das reinste Glück gewähre. »Ich kenne immer nur noch wenig von ihm,« sagte ich; »ich halte mich noch immer in dem Kreise seiner kleinen Gedichte an Personen,[364] die ich lese und immer wieder lese und von denen ich mich nicht trennen kann.«
»Eigentlich,« sagte Goethe, »ist alles gut, was ein so großes Talent wie Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten gelten lassen möchte. Aber Sie haben nicht unrecht, wenn Sie so lange bei seinen kleinen Gedichten an Personen verweilen; sie gehören ohne Frage zu den liebenswürdigsten Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmuth wäre.«
»Und man sieht darin,« sagte ich, »seine Verhältnisse zu allen Großen und Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire selber spielt, indem er sich den Höchsten gleich zu empfinden scheint und man ihm nie anmerkt, daß irgend eine Majestät seinen freien Geist nur einen Augenblick hat geniren könnnen.«
»Ja,« sagte Goethe, »vornehm war er. Und bei all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt, welches fast noch mehr sagen will. Ich kann wohl die Kaiserin von Österreich als eine Autorität in solchen Dingen anführen, die sehr oft gegen mich wiederholt hat, daß in Voltaires Gedichten an fürstliche Personen keine Spur sei, daß er je die Linie der Convenienz überschritten habe.«
»Erinnern sich Euer Excellenz,« sagte ich, »des kleinen Gedichts, wo er der Prinzeß von Preußen,[365] nachherigen Königin von Schweden, die artige Liebeserklärung macht, indem er sagt, daß er sich im Traum zum Range der Könige habe erhoben gesehen?«
»Es ist eins seiner vorzüglichsten,« sagte Goethe, indem er recitirte:
›Je vous aimais, princesse, et j'osais voua le dire.
Les Dieux à mon reveil ne m'ont pas tout ôté,
Je n'ai perdu que mon empire.‹
»Ja, das ist artig! Und dann,« fuhr Goethe fort, »hat es wohl nie einen Poeten gegeben, dem sein Talent jeden Augenblick so zur Hand war wie Voltaire. Ich erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeit lang zum Besuch bei seiner Freundin Du Chatelet gewesen war und in dem Augenblick der Abreise, als schon der wagen vor der Thür steht, einen Brief von einer großen Anzahl junger Mädchen eines benachbarten Klosters erhält, die zum Geburtstag ihrer Äbtissin den ›Tod Julius Cäsars‹ aufführen wollen und ihn um einen Prolog bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn ablehnen konnte; schnell läßt er sich daher Feder und Papier geben und schreibt stehend auf dem Rande eines Kamins das Verlangte. Es ist ein Gedicht von etwa zwanzig Versen, durchaus durchdacht und vollendet, ganz für den gegebenen Fall passend; genug, von der besten Sorte.«
»Ich bin sehr begierig, es zu lesen,« sagte ich.
»Ich zweifle,« sagte Goethe, »daß es in Ihrer Sammlung steht, es ist erst kürzlich zum Vorschein[366] gekommen, wie er denn solche Gedichte zu Hunderten gemacht hat, von denen noch manche hier und dort im Privatbesitz verborgen sein mögen.«
»Ich fand dieser Tage eine Stelle in Lord Byron,« sagte ich, »woraus zu meiner Freude hervorging, welche außerordentliche Achtung auch Byron vor Voltaire gehabt. Auch sieht man es ihm wohl an, wie sehr er Voltaire mag gelesen, studirt und benutzt haben.«
»Byron,« sagte Goethe, »wußte zu gut, wo etwas zu holen war, und er war zu gescheidt, als daß er aus dieser allgemeinen Quelle des Lichts nicht auch hätte schöpfen sollen.«
Das Gespräch wendete sich hiernächst ganz auf Byron und einzelne seiner Werke, wobei Goethe häufigen Anlaß fand, manche seiner frühern Äußerungen von Anerkennung und Bewunderung jenes großen Talents zu wiederholen.
»In alles, was Euer Excellenz übers Byron sagen,« erwiederte ich, »stimme ich von Herzen bei; allein wie bedeutend und groß jener Dichter als Talent auch sein mag, so möchte ich doch sehr zweifeln, daß aus seinen Schriften für reine Menschenbildung ein entschiedener Gewinn zu schöpfen.«
»Da muß ich Ihnen widersprechen,« sagte Goethe. »Byron's Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.«[367]
1174.*
1828.
Es war im Jahre 1828, wo ich nach einem langen Zwischenraume (seit 1813) ihn [Goethe] nicht nur erblickte, sondern mich auch ihn zu besuchen ermuthigte.
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Seine Stimme vernahm ich erst, als ich, abermals zehn Jahre später, seine Schwelle überschritten und nach einer kurzen, gedankenvollen Erwartung in seinem Empfangssaale ihn auf mich zugehen, vor mir stehen sah. Sein Haupt war ungebeugt, sein Gang fest. Die achtundsiebenzig Jahre hingen leicht wie Lorbeern in den dichten, grauen Locken. Seine Stimme, obwohl zum ersten Mal von mir vernommen, überraschte mich gar nicht: sie hatte mich schon aus »Tasso« und »Iphigenia« angeredet.
Er war unverändert, nur seit ich ihn zum ersten Male gesehen, hatte ich ihn gelesen.
Wir waren allein. Ich befand mich der höchsten Überlegenheit gegenüber, der mich das Schicksal noch entgegengestellt hatte; der Sterbliche dem Unsterblichen! Es wurde immer stiller in mir; ich wäre gern bei Goethes Gruß stehen geblieben; Worte, hatte ich gemeint, müßten das Schauen stören. Wie hatte ich mich getäuscht! Wie sehr sich meine Augen an ihn hefteten, wie sehr ich mich ergriffen, fühlte, die Worte[368] stocken mir nie weniger, als vor diesem Meister des Worts; es war einer der seltenen Augenblicke, wo sie sich von selbst darbieten, von selbst fügen, so wenig Aufmerksamkeit und Sorgen wir ihnen auch schenken mögen. Meine Seele öffnete jedes seiner Werke und hielt es mit diesen erhabenen Zügen zusammen, die sich zu einem jeden bekannten. Man hat Goethes Antlitz mit dem des pythischen Apollo verglichen, nur fehlt diesem das wundersam Schöpferische des Goetheschen Hauptes.
Mein Familienname war ihm bekannt; Erinnerungen und Nachfragen leiteten das Gespräch ein. Immermann's Name bot sich dar. Das eben gedruckte ›Trauerspiel in Tirol‹ war mein Reisegefährte gewesen. Goethe erlaubte mir, ihm dieß Werk zu senden, indem »der Name ihm alles Gute verspräche«. Sein eigner ›Elpenor‹ hatte mich ebenfalls vor kurzem beschäftigt; ein Ausdruck meiner Bewunderung veranlaßte Goethe zu den Worten: »Auch ich habe eine Vorliebe für dieses Fragment; auf diesem Wege hätte ich fortfahren sollen, wenn ich den Deutschen ein Theater hätte schenken wollen.«
Mehreres was ich ihm von der literarischen Welt Wiens, das ich damals bewohnte, mittheilte, erregte seinen Antheil: er nannte Grillparzer, Hammer, Zedlitz, Helmina v. Chézy, ihrer lyrischen Gedichte wegen, mit Lob und Anerkennung. Wie verträglich ist doch das wahre Verdienst, wie wenig einschüchternd und zurückweisend[369] ächte Hoheit! .... Worte konnten mich ihm nicht näher bringen, sie wären Zudringlichkeiten gewesen, wenn sie nicht in ehrerbietiger Ferne geblieben. Ich sprach ihn von ferne, aber ich sah ihn so nahe. Die Stimme, die bei jedem edlen Genusse uns zuruft: »Nun ist es genug!« flüsterte auch mir zu: »Scheide!« Ich verneigte mich tief und ehrfurchtsvoll und verließ in einer feierlichen Stimmung das.. Haus.[370]
1764.*
1828.
Die seltenste Entwickelungsstufe der Phantasmen bei vollkommenster Gesundheit des Geistes und des Körpers ist die Fähigkeit, bei geschlossenen Augen das willkührlich Vorgestellte wirklich zu sehen. Es sind nur wenige Fälle dieser Art bekannt geworden; hierher gehören Cardanus, Goethe und noch einige andere Fälle, die ich in der Schrift: »J. Müller, über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826« mitgetheilt .....Im Jahre 1828 hatte ich Gelegenheit, mich mit Goethe über diesen, uns beide gleich interessirenden Gegenstand zu unterhalten. Da er wußte, daß bei mir, wenn ich mich ruhig bei geschlossenen Augen hinlege, vor dem Einschlafen leicht Bilder in den Augen erscheinen, ohne daß es zum Schlaf kommt, indem vielmehr die Bilder sehr wohl beobachtet werden können, so war er sehr begierig zu erfahren, wie sich diese Bilder bei mir gestalten. Ich erklärte, daß ich durchaus keinen Einfluß des Willens aus Hervorrufung und Verwandlung derselben habe, und daß bei mir niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwickelung vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkührlich angeben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkührlich, aber gesetzmäßig und symmetrisch das Umgestalten. Ein Unterschied zweier Naturen, wovon die eine die größte Fülle[171] der dichterischen Gestaltungskraft besaß, die andere aber auf die Untersuchung des Wirklichen und des in der Natur Geschehenden gerichtet ist[172]
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