1175.*
1829, Ende Januar.
Ich bin jetzt mehr bei Goethe, als je; seit vierzehn Tagen esse ich jeden Mittag mit ihm allein und erquicke mich an seinen himmlischen Gesprächen. In den letzten Tagen hat Goethe sich einige Male nach Ihnen [Auguste Kladzig] erkundigt, welches ich Ihnen sagen muß. Er erzählte mir nämlich, daß der »Faust« in Braunschweig auf die Bühne gebracht worden und zeigte mir einen Brief von Klingemann, worin dieser schrieb, mit wie großem Beifalle das Stück aufgenommen und wie die drei Hauptfiguren – Faust, Mephistopheles und das Gretchen – nach der Vorstellung herausgerufen wurden. Da das Stück nun sich über alle deutsche Bühnen verbreiten wird, und wir es auch hier hoffentlich bald sehen werden, so sprachen wir über die Besetzung. La Roche gaben wir den Mephistopheles und freuten uns, daß dieser bedeutende Künstler eine neue Gelegenheit fände, sein Studium und Talent auf eine Rolle zu verwenden, die ihm zur Entwickelung seiner Kräfte die reichsten[1] Anlässe giebt. Über Faust und Gretchen waren wir nicht entschieden. »Es ist schade,« sagte Goethe, »daß die Kladzig als Künstlerin nicht ausgebildet genug ist; sie ist schön, sie hat den Wuchs, sie hat die Jugend: das wäre ein Gretchen!« – »Ja,« sagte ich, »es ist schade!« Ich sagte keine Silbe weiter, aber in meinem Innern wirkten Goethes Worte fort, und ich freute mich, daß er Ihrer gedachte.[2]
1176.*
1829, Anfang Februar (?).
Goethe sendet zugleich anliegendes Büchlein [»Relation von dem Kayserlichen Hofe zu Wien .... Cölln 1705«] als Beweis, wie sehr er an Ihren Schilderungen der Kaiserstadt [in »Wiener Briefe« von Rochlitz] theilgenommen und wie lebhaft Ihre liebenswürdige Zuschrift ihn erfreut habe. Er giebt sich der Hoffnung, Sie zum Frühjahr hier zu sehen, mit ganzem Vertrauen auf Ihre Zusage und recht innerlichst froh darüber hin und bittet nur, daß er acht Tage vorher Ihre Ankunft erfahren möge, um alles entfernen zu können, was einem ungestörten Genuß ihres Hierseins irgend in den Weg treten möchte.[2]
1177.*
1829, Anfang Februar (?).
Goethe konnte sich nicht überwinden, mir zu gestehen, daß er Ihre [des Prinzen Johann von Sachsen] Übersetzung des Dante nicht gelesen habe, sondern nur angefangen. Durch andere war ich darauf vorbereitet und wußte, daß ihn theils das alle seine Zeit in Anspruch nehmende Beginnen einer Überarbeitung der »Wanderjahre«, die Cotta schon für Ostern angekündigt hat, davon abgehalten haben mochte, er theils in den unten abgedruckten (nicht am Ende folgenden) Noten etwas Anstößiges erblickte und sich begnügt hatte, den Geist und Character, wie er sich im Vorworte zeigt, anzuerkennen. Er aber sprach allgemein billigend, lobend.
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Goethe bat sehr dringend um Mittheilung eigener poetischer Schöpfungen Ew. Königlichen Hoheit. Demnach habe ich begonnen, aus der mir anvertrauten Auswahl Ihrer Gedichte einige ausschreiben zu lassen, und erwarte die gnädige Erlaubniß zur Absendung.[3]
1178.*
1829, 4. Februar.
»Ich habe im Schubarth [›Über Philosophie überhaupt und Hegel's Encyklopädie der philosophischen[3] Wissenschaften insbesondere‹] zu lesen fortgefahren,« sagte Goethe; »er ist freilich ein bedeutender Mensch, und er sagt sogar manches sehr Vorzügliche, wenn man es sich in seine eigene Sprache übersetzt. Die Hauptrichtung seines Buchs geht darauf hinaus: daß es einen Standpunkt außerhalb der Philosophie gebe, nämlich den des gesunden Menschenverstandes, und daß Kunst und Wissenschaft unabhängig von der Philosophie, mittels freier Wirkung natürlicher menschlicher Kräfte immer am besten gediehen sei. Dies ist durchaus Wasser auf unsere Mühle. Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten, der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige, und Schubarth bestätigt also, was ich mein ganzes Leben selber gesagt und gethan habe.
Das einzige, was ich an ihm nicht durchaus loben kann, ist, daß er gewisse Dinge besser weiß, als er sie sagt, und daß er also nicht immer ganz ehrlich zu Werke geht. So wie Hegel zieht auch er die christliche Religion in die Philosophie herein, die doch nichts darin zu thun hat. Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über aller Philosophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stütze. So auch bedarf der Philosoph nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, wie z.B. die einer ewigen Fortdauer.[4] Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf religiöse Zusagen bauen; wenn aber der Philosoph den Beweis für die Unsterblichkeit unserer Seele aus einer Legende hernehmen will, so ist das sehr schwach und will nicht viel heißen. Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Thätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag.«
Mein Herz schlug bei diesen Worten vor Bewunderung und Liebe. Ist doch, dachte ich, nie eine Lehre ausgesprochen worden, die mehr zu edeln Thaten reizt als diese; denn wer will nicht bis an sein Ende unermüdlich wirken und handeln, wenn er darin die Bürgschaft eines ewigen Lebens findet!
Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen und Kupferstichen vorlegen. Nachdem er einige Blätter still betrachtet und umgewendet, reichte er mir einen schönen Stich nach einem Gemälde von Ostade. »Hier,« sagte er, »haben Sie die Scene zu unserm ›Good man und Good wife‹.« Ich betrachtete das Blatt mit großer Freude. Ich sah das Innere einer Bauernwohnung vorgestellt, wo Küche, Wohn- und Schlafzimmer alles in Einem und nur Ein Raum war. Mann und Frau saßen sich nahe gegenüber, die Frau spinnend, der Mann Garn windend, ein Bube zu ihren Füßen. Im[5] Hintergrunde sah man ein Bette sowie überall nur das roheste, allernothwendigste Hausgeräth; die Thür ging unmittelbar ins Freie. Den Begriff beschränkten ehelichen Glücks gab dieses Blatt vollkommen; Zufriedenheit, Behagen und ein gewisses Schwelgen in liebenden ehelichen Empfindungen lag auf den Gesichtern vom Manne und der Frau, wie sie sich einander anblickten. »Es wird einem wohler zu Muthe,« sagte ich, »je länger man dieses Blatt ansieht; es hat einen Reiz ganz eigener Art.« – »Es ist der Reiz der Sinnlichkeit,« sagte Goethe, »den keine Kunst entbehren kann, und der in Gegenständen solcher Art in seiner ganzen Fülle herrscht. Bei Darstellungen höherer Richtung dagegen, wo der Künstler ins Ideelle geht, ist es schwer, daß die gehörige Sinnlichkeit mitgehe, und daß er nicht trocken und kalt werde. Da können nun Jugend oder Alter günstig oder hinderlich sein, und der Künstler muß daher seine Jahre bedenken und danach seine Gegenstände wählen. Meine ›Iphigenie‹ und mein ›Tasso‹ sind mir gelungen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinnlichkeit das Ideelle des Stoffs durchdringen und beleben zu können. Jetzt in meinem Alter wären so ideelle Gegenstände nicht für mich geeignet, und ich thue vielmehr wohl, solche zu wählen, wo eine gewisse Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Wenn Genasts hier bleiben, so schreibe ich euch zwei Stücke, jedes in einem Act und in Prosa: das eine von der heitersten Art, mit einer Hochzeit endend, das[6] andere grausam und erschütternd, sodaß am Ende zwei Leichname zurückbleiben. Das letztere rührt noch aus Schiller's Zeit her, und er hat auf mein Antreiben schon eine Scene davon geschrieben. Beide Sujets habe ich lange durchdacht, und sie sind mir so vollkommen gegenwärtig, daß ich jedes in acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem ›Bürgergeneral‹ gethan habe.«
»Thun Sie es,« sagte ich, »schreiben Sie die beiden Stücke auf jeden Fall; es ist Ihnen nach den ›Wanderjahren‹ eine Erfrischung und wirkt wie eine kleine Reise. Und wie würde die Welt sich freuen, wenn Sie dem Theater noch etwas zu Liebe thäten, was niemand mehr erwartet!«
»Wie gesagt,« fuhr Goethe fort, »wenn Genasts hier bleiben, so bin ich gar nicht sicher, daß ich euch nicht den Spaß mache. Aber ohne diese Aussicht wäre dazu wenig Reiz; denn ein Stück auf dem Papiere ist gar nichts. Der Dichter muß die Mittel kennen, mit denen er wirken will, und er muß seine Rollen denen Figuren auf den Leib schreiben, die sie spielen sollen. Habe ich also auf Genast und seine Frau zu rechnen, und nehme ich dazu La Roche, Herrn Winterberger und Madame Seidel, so weiß ich, was ich zu thun habe, und kann der Ausführung meiner Intentionen gewiß sein.
Für das Theater zu schreiben,« fuhr Goethe fort, »ist ein eigenes Ding, und wer es nicht durch und durch kennt, der mag es unterlassen. Ein interessantes[7] Factum, denkt jeder, werde auch interessant auf den Brettern erscheinen; aber mit nichten! Es können Dinge ganz hübsch zu lesen und hübsch zu denken sein, aber auf die Bretter gebracht sieht das ganz anders aus, und was uns im Buche entzückte, wird uns von der Bühne herunter vielleicht kalt lassen. Wenn man meinen ›Hermann und Dorothea‹ liest, so denkt man, das wäre auch auf dem Theater zu sehen. Töpfer hat sich verführen lassen es hinauf zu bringen, allein was ist es, was wirkt es, zumal wenn es nicht ganz vorzüglich gespielt wird, und wer kann sagen, daß es in jeder Hinsicht ein gutes Stück sei? Für das Theater schreiben ist ein Metier, das man kennen soll, und will ein Talent, das man besitzen muß. Beides ist selten, und wo es sich nicht vereinigt findet, wird schwerlich etwas Gutes an den Tag kommen.«[8]
1179.*
1829, 9. Februar.
Goethe sprach viel über die ›Wahlverwandtschaften‹, besonders daß jemand sich in der Person des Mittler getroffen gefunden, den er früher im Leben nie gekannt und gesehen. »Der Character,« sagte er, »muß also wohl einige Wahrheit haben und in der Welt mehr als einmal existiren. Es ist in den ›Wahlverwandtschaften‹ überall keine Zeile, die ich nicht selber[8] erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre.«[9]
1180.*
1829, 10. Februar.
Ich fand Goethe umringt von Karten und Plänen in Bezug auf den Bremer Hafenbau, für welches großartige Unternehmen er ein besonderes Interesse zeigte.
Sodann viel über Merck gesprochen, von welchem er mir eine poetische Epistel an Wieland vom Jahre 1776 vorliest, in höchst geistreichen aber etwas derben Knittelversen. Der sehr heitere Inhalt geht besonders gegen Jacobi, den Wieland in einer zu günstigen Recension im ›Merkur‹ überschätzt zu haben scheint, welches Merck ihm nicht verzeihen kann.
Über den Zustand damaliger Cultur, und wie schwer es gehalten, aus der sogenannten Sturm- und Drangperiode sich zu einer höhern Bildung zu retten.
Über seine ersten Jahre in Weimar. Das poetische Talent im Conflikt mit der Realität, die er durch seine Stellung zum Hofe und verschiedenartige Zweige des Staatsdienstes zu höherm Vortheil in sich aufzunehmen genöthigt ist. Deshalb in den ersten zehn Jahren nichts Poetisches von Bedeutung hervorgebracht. Fragmente vorgelesen. Durch Liebschaften verdüstert. Der Vater fortwährend ungeduldig gegen das Hofleben.
[9] Vortheile, daß er den Ort nicht verändert, und daß er dieselben Erfahrungen nicht nöthig gehabt zweimal zu machen.
Flucht nach Italien, um sich zu poetischer Productivität wiederherzustellen. Aberglaube, daß er nicht hinkomme, wenn jemand darum wisse. Deshalb tiefes Geheimniß. Von Rom aus an den Herzog geschrieben.
Aus Italien zurück mit großen Anforderungen an sich selbst.
Herzogin Amalie. Vollkommene Fürstin mit vollkommen menschlichem Sinne und Neigung zum Lebensgenuß. Sie hat große Liebe zu seiner Mutter und wünscht, daß sie für immer nach Weimar komme. Er ist dagegen.
Über die ersten Anfänge des ›Faust‹:
»Der ›Faust‹ entstand mit meinem ›Werther‹; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich hütete mich, eine Zeile niederzuschreiben, die nicht gut war und die nicht bestehen konnte.«[10]
1181.*
1829, 11. Februar.
Mit Oberbaudirector Coudray bei Goethe zu Tische. Coudray erzählt viel von der weiblichen Industrieschule[10] und dem Waiseninstitut als den besten Einrichtungen dieser Art des Landes, ersteres von der Großfürstin, letzteres vom Großherzog Karl August gegründet. Mancherlei über Theaterdecoration und Wegebau. Coudray legt Goethen den Riß zu einer fürstlichen Capelle vor. Über den Ort, wo der herrschaftliche Stuhl anzubringen, wogegen Goethe Einwendungen macht, die Coudray annimmt. Nach Tisch Soret. Goethe zeigt uns abermals die Bilder von Herrn von Reutern.[11]
1182.*
1829, 12. Februar.
Goethe liest mir das frisch entstandene, überaus herrliche Gedicht: ›Kein Wesen kann zu nichts zerfallen –‹. »Ich habe,« sagte er, »dieses Gedicht als Widerspruch der Verse: ›Denn alles muß zu nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will –‹, geschrieben, welche dumm sind, und welche meine Berliner Freunde bei Gelegenheit der Naturforschenden Versammlung zu meinem Ärger in goldenen Buchstaben ausgestellt haben.«
Über den großen Mathematiker Lagrange, an welchem Goethe vorzüglich den trefflichen Character hervorhebt. »Er war ein guter Mensch,« sagte er, »und eben deswegen groß; denn wenn ein guter Mensch mit Talent begabt ist, so wird er immer zum Heil der Welt sittlich[11] wirken, sei es als Künstler, Naturforscher, Dichter, oder was alles sonst.
Es ist mir lieb,« fuhr Goethe fort, »daß sie Coudray gestern näher kennen gelernt haben. Er spricht sich in Gesellschaft selten aus, aber so unter uns haben Sie gesehen, welch ein trefflicher Geist und Character in dem Manne wohnt. Er hat anfänglich vielen Widerspruch erlitten, aber jetzt hat er sich durchgekämpft und genießt vollkommene Gunst und Vertrauen des Hofes. Coudray ist einer der geschicktesten Architekten unserer Zeit. Er hat sich zu mir gehalten, und ich mich zu ihm, und es ist uns beiden von Nutzen gewesen. Hätte ich den vor funfzig Jahren gehabt!«
Über Goethes eigene architektonische Kenntnisse. Ich bemerke, er müsse viel in Italien gewonnen haben. »Es gab mir einen Begriff vom Ernsten und Großen,« antwortete er, »aber keine Gewandtheit. Der weimarische Schloßbau hat mich vor allem gefördert. Ich mußte mit einwirken und war sogar in dem Fall, Gesimse zeichnen zu müssen. Ich that es den Leuten von Metier gewissermaßen zuvor, weil ich ihnen in der Intention überlegen war.«
Das Gespräch kam auf Zelter. »Ich habe einen Brief von ihm,« sagte Goethe; »er schreibt unter anderm, daß die Aufführung des ›Messias‹ ihm durch eine seiner Schülerinnen verdorben sei, die eine Arie zu weich, zu schwach, zu sentimental gesungen. Das Schwache ist[12] ein Characterzug unsers Jahrhunderts. Ich habe die Hypothese, daß es in Deutschland eine Folge der Anstrengung ist, die Franzosen los zu werden. Maler, Naturforscher, Bildhauer, Musiker, Poeten, es ist, mit wenigen Ausnahmen, alles schwach, und in der Masse steht es nicht besser.«
»Doch,« sagte ich, »gebe ich die Hoffnung nicht auf, zum ›Faust‹ eine passende Musik kommen zu sehen.«
»Es ist ganz unmöglich,« sagte Goethe. »Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Character des ›Don Juan‹ sein; Mozart hätte den ›Faust‹ componiren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.«
Sodann, ich weiß nicht mehr in welcher Verbindung und welchem Bezug, sagte Goethe folgendes sehr Bedeutende.
»Alles Große und Gescheidte,« sagte er, »existirt in der Minorität. Es hat Minister gegeben, die Volk und König gegen sich hatten und die ihre großen Plane einsam durchführten. Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft popular werde. Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft wird immer nur im Besitz einzelner Vorzüglicher sein.«[13]
1183.*
1829, 13. Februar.
Mit Goethe allein zu Tische. »Ich werde nach Beendigung der ›Wanderjahre‹,« sagte er, »mich wieder zur Botanik wenden, um mit Soret die Übersetzung [des ›Versuchs, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären‹] weiter zu bringen. Nur fürchte ich, daß es mich wieder ins Weite führt, und daß es zuletzt abermals ein Alp wird. Große Geheimnisse liegen noch verborgen; manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich ausdrücken:
Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem sich die Kräfte concentriren.
Was so bei einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Corporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelheiten, die sich aneinanderschließen, bringen als Gesammtheit etwas hervor, daß auch den Schluß macht und als Kopf des Ganzen anzusehen ist: den Bienenkönig. Wie dieses geschieht, ist geheimnißvoll, schwer auszusprechen, aber ich könnte sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe.
[14] So bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen; und so vereinigten sich die poetischen Kräfte der Franzosen in Voltaire. Solche Häuptlinge eines Volks sind groß in der Generation, in der sie wirken; manche dauern später hinaus, die meisten werden durch andere ersetzt und von der Folgezeit vergessen.«
Ich freute mich dieser bedeutenden Gedanken. Goethe sprach sodann über Naturforscher, denen es vor allem nur daran liege, ihre Meinung zu beweisen. »Herr von Buch,« sagte er, »hat ein neues Werk herausgegeben, das gleich im Titel eine Hypothese enthält. Seine Schrift soll von Granitblöcken handeln, die hier und dort umherliegen, man weiß nicht wie und woher. Da aber Herr von Buch die Hypothese im Schilde führt, daß solche Granitblöcke durch etwas Gewaltsames von innen hervorgeworfen und zersprengt worden, so deutet er dieses gleich im Titel an, indem er schon dort von ›zerstreuten‹ Granitblöcken redet, wo denn der Schritt zur Zerstreuung sehr nahe liegt und dem arglosen Leser die Schlinge des Irrthums über den Kopf gezogen wird, er weiß nicht wie.
Man muß alt werden, um dieses alles zu übersehen, und Geld genug haben, seine Erfahrungen bezahlen zu können. Jedes Bonmot, das ich sage, kostet mir eine Börse voll Gold; eine halbe Million meines Privatvermögens ist durch meine Hände gegangen, um das zu lernen, was ich jetzt weiß, nicht allein das[15] ganze Vermögen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als funfzig Jahren. Außerdem habe ich anderthalb Millionen zu großen Zwecken von fürstlichen Personen ausgeben sehen, denen ich nahe verbunden war und an deren Schritten, Gelingen und Mißlingen ich theilnahm.
Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört mehr dazu, um gescheidt zu werden, man muß auch in großen Verhältnissen leben und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren der Zeit in die Karten zu sehen und selber zu Gewinn und Verlust mitzuspielen.
Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich jedoch die Menschen nie kennen gelernt wie sie sind. In allen andern Dingen kann man dem reinen Anschauen und Denken, den Irrthümern der Sinne wie des Verstandes, den Characterschwächen und -stärken nicht so nachkommen, es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend und läßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrthümer sind immer des Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen, Wahren und Reinen ergiebt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.
Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der[16] Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von ihr ausgehen.
Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Todten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen thun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.
Die Mineralogie ist daher eine Wissenschaft, für den Verstand, für das praktische Leben, denn ihre Gegenstände sind etwas Todtes, das nicht mehr entsteht, und an eine Synthese ist dabei nicht zu denken. Die Gegenstände der Meteorologie sind zwar etwas Lebendiges, das wir täglich wirken und schaffen sehen, sie setzen eine Synthese voraus, allein der Mitwirkungen sind so mannigfaltige, daß der Mensch dieser Synthese nicht gewachsen ist, und er sich daher in seinen Beobachtungen und Forschungen unnütz abmüht. Wir steuern dabei auf Hypothesen los, auf imaginäre Inseln, aber die eigentliche Synthese wird wahrscheinlich ein unentdecktes Land bleiben. Und mich wundert es nicht, wenn ich bedenke, wie schwer es gehalten, selbst in so einfachen Dingen wie die Pflanze und die Farbe zu einiger Synthese zu gelangen.«[17]
1184.*
1829, 15. Februar.
Goethe empfing mich mit großem Lobe wegen meiner Redaction der naturhistorischen Aphorismen für die ›Wanderjahre‹. »Werfen Sie sich auf die Natur,« sagte er, »Sie sind dafür geboren, und schreiben Sie zunächst ein Compendium der Farbenlehre.« Wir sprachen viel über diesen Gegenstand.[18]
1185.*
1829, 17. Februar.
Viel über den ›Großkophta‹ gesprochen. »Lavater,« sagte Goethe, »glaubte an Cagliostro und dessen Wunder. Als man ihn als einen Betrüger entlarvt hatte, behauptete Lavater, dies sei ein anderer Cagliostro, der Wunderthäter Cagliostro sei eine heilige Person.
Lavater war ein herzlich guter Mann, allein er war gewaltigen Täuschungen unterworfen, und die ganz strenge Wahrheit war nicht seine Sache, er belog sich und andere. Es kam zwischen mir und ihm deshalb zum völligen Bruch. Zuletzt habe ich ihn noch in Zürich gesehen, ohne von ihm gesehen zu werden. Verkleidet ging ich in einer Allee, ich sah ihn auf mich zukommen, ich bog außerhalb, er ging an mir vorüber[18] und kannte mich nicht. Sein Gang war wie der eines Kranichs, weswegen er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt.«
Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur Natur gehabt, wie man fast wegen seiner ›Physiognomik‹ schließen sollte. »Durchaus nicht,« antwortete Goethe, »seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religiöse. Was in Lavater's ›Physiognomik‹ über Thierschädel vorkommt, ist von mir.«
Das Gespräch lenkte sich auf die Franzosen, auf die Vorlesungen von Guizot, Villemain und Cousin, und Goethe sprach mit hoher Achtung über den Standpunkt dieser Männer, und wie sie alles von einer freien und neuen Seite betrachteten und überall gerade aufs Ziel losgingen. »Es ist,« sagte Goethe, »als wäre man bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Krümmungen gelangt; diese Männer aber sind kühn und frei genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thür an derjenigen Stelle zu machen, wo man sogleich auf den breitesten Weg des Gartens tritt.«
Von Cousin kamen wir auf indische Philosophie. »Diese Philosophie,« sagte Goethe, »hat, wenn die Nachrichten des Engländers wahr sind, durchaus nichts Fremdes, vielmehr wiederholen sich in ihr die Epochen, die wir alle selber durchmachen. Wir sind Sensualisten, solange wir Kinder sind; Idealisten, wenn wir lieben und in den geliebten Gegenstand Eigenschaften legen, die nicht eigentlich darin sind; die Liebe wankt,[19] wir zweifeln an der Treue und sind Skeptiker, ehe wir es glaubten. Der Rest des Lebens ist gleichgültig; wir lassen es gehen wie es will und endigen mit dem Quietismus, wie die indischen Philosophen auch.
In der deutschen Philosophie wären noch zwei große Dinge zu thun. Kant hat die ›Kritik der reinen Vernunft‹ geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeutender die Kritik der Sinne und des Menschenverstands schreiben, und wir würden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehen, in der deutschen Philosophie nicht viel mehr zu wünschen haben.
Hegel,« fuhr Goethe fort, »hat in den ›Berliner Jahrbüchern‹ eine Recension über Hamann geschrieben, die ich in diesen Tagen lese und wieder lese und die ich sehr loben muß. Hegel's Urtheile als Kritiker sind immer gut gewesen.
Villemain steht in der Kritik gleichfalls sehr hoch. Die Franzosen werden zwar nie ein Talent wieder sehen, das dem von Voltaire gewachsen wäre. Von Villemain aber kann man sagen, daß er in seinem geistigen Standpunkt über Voltaire erhaben ist, sodaß er ihn in seinen Tugenden und Fehlern beurtheilen kann.«[20]
1186.*
1829, 18. Februar.
Wir sprachen über die Farbenlehre, unter anderm über Trinkgläser, deren trübe Figuren gegen das Licht gelb und gegen das Dunkel blau erscheinen, und die also die Betrachtung eines Urphänomens gewähren.
»Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann,« sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, »ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug; sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen was auf der andern Seite ist.«
Das Gespräch lenkte sich auf Merck, und ich fragte, ob Merck sich auch mit Naturstudien befaßt. »O ja,« sagte Goethe, »er besaß sogar bedeutende naturhistorische Sammlungen. Merck war überall ein höchst vielseitiger Mensch. Er liebte auch die Kunst, und zwar ging dieses so weit, daß wenn er ein gutes Werk in den Händen eines Philisters sah, von dem er glaubte, daß er es nicht zu schätzen wisse, er alles anwendete, um es in seine eigen Sammlung zu bringen. Er hatte[21] in solchen Dingen gar kein Gewissen, jedes Mittel war ihm recht, und selbst eine Art von grandiosem Betrug wurde nicht verschmäht, wenn es nicht anders gehen wollte.« Goethe erzählte dieser Art einige sehr interessante Beispiele.
»Ein Mensch wie Merck,« fuhr er fort, »wird gar nicht mehr geboren, und wenn er geboren würde, so würde die Welt ihn anders ziehen. Es war überall eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war: die deutsche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man mit Lust viel Gutes zu malen hoffte; jetzt ist sie so beschrieben und besudelt, daß man keine Freude hat sie anzublicken, und daß ein gescheidter Mensch nicht weiß wohin er noch etwas zeichnen soll.«[22]
1187.*
1829, 19. Februar.
Mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tisch. – Er war sehr heiter und erzählte mir, daß ihm am Tage manches Gute widerfahren, und daß er auch ein Geschäft mit Artaria und dem Hof glücklich beendigt sehe.
Wir sprachen sodann viel über ›Egmont‹, der am Abend vorher nach der Bearbeitung von Schiller gegeben worden, und es kamen die Nachtheile zur Erwähnung, die das Stück durch diese Redaction zu leiden hat.
[22] »Es ist in vielfacher Hinsicht nicht gut,« sagte ich, »daß die Regentin fehlt; sie ist vielmehr dem Stücke durchaus nothwendig; denn nicht allein daß das Ganze durch diese Fürstin einen höhern, vornehmern Character erhält, sondern es treten auch die politischen Verhältnisse besonders in Bezug auf den spanischen Hof durch ihre Dialoge Machiavell durchaus reiner und entschiedener hervor.«
»Ganz ohne Frage,« sagte Goethe. »Und dann gewinnt auch Egmont an Bedeutung durch den Glanz, den die Neigung der Fürstin auf ihn wirft, sowie auch Klärchen gehoben erscheint, wenn wir sehen, daß sie selbst über Fürstinnen siegend Egmonts ganze Liebe allein besitzt. Dieses sind alles sehr delikate Wirkungen, die man freilich ohne Gefahr für das Ganze nicht verletzen darf.«
»Auch will mir scheinen,« sagte ich, »daß bei den vielen bedeutenden Männerrollen eine einzige weibliche Figur wie Klärchen zu schwach und etwas gedrückt erscheint. Durch die Regentin aber erhält das ganze Gemälde mehr Gleichgewicht. Daß von ihr im Stücke gesprochen wird, will nicht viel sagen; das persönliche Auftreten macht den Eindruck.«
»Sie empfinden das Verhältniß sehr richtig,« sagte Goethe. »Als ich das Stück schrieb, habe ich, wie Sie denken können, alles sehr wohl abgewogen, und es ist daher nicht zu verwundern, daß ein Ganzes sehr empfindlich leiden muß, wenn man eine Hauptfigur herausreißt,[23] die ins Ganze gedacht worden und wodurch das Ganze besteht. Aber Schiller hatte in seiner Natur etwas Gewaltsames; er handelte oft zu sehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war.«
»Man möchte auf Sie schelten,« sagte ich, »daß Sie es gelitten und daß Sie in einem so wichtigen Fall ihm so unbedingte Freiheit gegeben.«
»Man ist oft gleichgültiger als billig,« antwortete Goethe. »Und dann war ich in jener Zeit mit andern Dingen tief beschäftigt. Ich hatte so wenig ein Interesse für ›Egmont‹ wie für das Theater; ich ließ ihn gewähren. Jetzt ist es wenigstens ein Trost für mich, daß das Stück gedruckt dasteht, und daß es Bühnen giebt, die verständig genug sind, es treu und ohne Verkürzung ganz so aufzuführen wie ich es geschrieben.«
Goethe erkundigte sich sodann nach der Farbenlehre, und ob ich seinem Vorschlage, ein Compendium zu schreiben, weiter nachgedacht. Ich sagte ihm wie es damit stehe, und so geriethen wir unvermuthet in eine Differenz, die ich bei der Wichtigkeit des Gegenstandes mittheilen will.
Wer es beobachtet hat, wird sich erinnern, daß bei heitern Wintertagen und Sonnenschein die Schatten auf dem Schnee häufig blau gesehen werden. Dieses Phänomen bringt Goethe in seiner ›Farbenlehre‹ unter die subjectiven Erscheinungen, indem er als Grundlage[24] annimmt, daß das Sonnenlicht zu uns, die wir nicht auf den Gipfeln hoher Berge wohnen, nicht durchaus weiß, sondern durch eine mehr oder weniger dunstreiche Atmosphäre dringend in einem gelblichen Schein herabkomme; und daß also der Schnee, von der Sonne beschienen, nicht durchaus weiß, sondern eine gelblich tingirte Fläche sei, die das Auge zum Gegensatz und also zur Hervorbringung der blauen Farbe anreize. Der auf dem Schnee gesehen werdende blaue Schatten sei demnach eine geforderte Farbe, unter welcher Rubrik Goethe denn auch das Phänomen abhandelt und danach die von Saussure auf dem Montblanc gemachten Beobachtungen sehr consequent zurechtlegt.
Als ich nun in diesen Tagen die ersten Capitel der ›Farbenlehre‹ abermals betrachtete, um mich zu prüfen, ob es mir gelingen möchte, Goethes freundlicher Aufforderung nachzukommen und ein Compendium seiner Farbenlehre zu schreiben, war ich, durch Schnee und Sonnenschein begünstigt, in dem Fall, ebengedachtes Phänomen des blauen Schattens abermals näher in Augenschein zu nehmen, wo ich denn zu einiger Überraschung fand, daß Goethes Ableitung auf einem Irrthum beruhe. Wie ich aber zu diesem Aperçu gelangte, will ich sagen.
Aus den Fenstern meines Wohnzimmers sehe ich gerade gegen Süden, und zwar auf einen Garten, der durch ein Gebäude begrenzt wird, das bei dem niedern Stande der Sonne im Winter mir entgegen einen so[25] großen Schatten wirft, daß er über die halbe Fläche des Gartens reicht.
Auf diese Schattenfläche im Schnee blickte ich nun vor einigen Tagen bei völlig blauem Himmel und Sonnenschein und war überrascht, die ganze Masse vollkommen blau zu sehen. Eine geforderte Farbe, sagte ich zu mir selber, kann dieses nicht sein, denn mein Auge wird von keiner von der Sonne beschienenen Schneefläche berührt, wodurch jener Gegensatz hervorgerufen werden könnte; ich sehe nichts als die schattige blaue Masse. Um aber durchaus sicher zu gehen und zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbarten Dächer nicht etwa mein Auge berühre, rollte ich einen Bogen Papier zusammen und blickte durch solche Röhre auf die schattige Fläche, wo denn das Blau unverändert zu sehen blieb.
Daß dieser blaue Schatten also nichts Subjectives sein konnte, darüber blieb mir nun weiter kein Zweifel. Die Farbe stand da, außer mir, selbstständig, mein Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war es? Und da sie nun einmal da war, wodurch konnte sie entstehen?
Ich blickte noch einmal hin und umher, und siehe, die Auflösung des Räthsels kündigte sich mir an. Was kann es sein, sagte ich zu mir selber, als der Widerschein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt, und der Neigung hat im Schatten sich anzusiedeln? Denn es steht geschrieben: die Farbe ist dem[26] Schatten verwandt, sie verbindet sich gerne mit ihm und erscheint uns gerne in ihm und durch ihn, sobald der Anlaß nur gegeben ist.
Die folgenden Tage gewährten Gelegenheit, meine Hypothese wahr zu machen. Ich ging in den Feldern, es war kein blauer Himmel, die Sonne schien durch Dünste, einem Heerrauch ähnlich, und verbreitete über den Schnee einen durchaus gelben Schein; sie wirkte mächtig genug, um entschiedene Schatten zu werfen, und es hätte in diesem Fall nach Goethes Lehre das frischeste Blau entstehen müssen. Es entstand aber nicht, die Schatten blieben grau.
Am nächsten Vormittag bei bewölkter Atmosphäre blickte die Sonne von Zeit zu Zeit herdurch und warf auf dem Schnee entschiedene Schatten. Allein sie waren ebenfalls nicht blau, sondern grau. In beiden Fällen fehlt der Widerschein des blauen Himmels, um dem Schatten seine Färbung zu geben.
Ich hatte demnach eine hinreichende Überzeugung gewonnen, daß Goethes Ableitung des mehrgedachten Phänomens von der Natur nicht als wahr bestätigt werde, und daß seine diesen Gegenstand behandelnden Paragraphen der ›Farbenlehre‹ einer Umarbeitung dringend bedürften.
Etwas Ähnliches begegnete mir mit den farbigen Doppelschatten, die mit Hilfe eines Kerzenlichts morgens früh bei Tagesanbruch sowie abends in der ersten Dämmerung, desgleichen bei hellem Mondschein, besonders[27] schön gesehen werden. Daß hierbei der eine Schatten, nämlich der vom Kerzenlicht erleuchtete, gelbe, objectiver Art sei und in die Lehre von den trüben Mitteln gehöre, hat Goethe nicht aus gesprochen, obgleich es so ist; den andern, vom schwachen Tages- oder Mondlicht erleuchteten, bläulichen oder bläulichgrünen Schatten aber erklärt er für subjectiv, für eine geforderte Farbe, die durch den auf dem weißen Papier verbreiteten gelben Schein des Kerzenlichts im Auge hervorgerufen werde.
Diese Lehre fand ich nun bei sorgfältigster Beobachtung des Phänomens gleichfalls nicht durchaus bestätigt; es wollte mir vielmehr erscheinen als ob das von außen hereinwirkende schwache Tages- oder Mondlicht einen bläulich färbenden Ton bereits mit sich bringe, der denn theils durch den Schatten, theils durch den fordernden gelben Schein des Kerzenlichts verstärkt werde, und daß also auch hierbei eine objective Grundlage stattfinde und zu beachten sei.
Daß das Licht des anbrechenden Tages wie des Mondes einen bleichen Schein werfe, ist bekannt. Ein bei Tagesanbruch oder im Mondschein angeblicktes Gesicht erscheint blaß, wie genugsame Erfahrungen bestätigen. Auch Shakespeare scheint dieses erkannt zu haben; denn jener merkwürdigen Stelle, wo Romeo bei Tagesanbruch von seiner Geliebten geht und in freier Luft eins dem andern plötzlich so bleich erscheint, liegt diese Wahrnehmung sicher zum Grunde. Die bleich[28] machende Wirkung eines solchen Lichtes aber wäre schon genugsame Andeutung, daß es einen grünlichen oder bläulichen Schein mit sich führen müsse, indem ein solches Licht dieselbige Wirkung thut wie ein Spiegel aus bläulichem oder grünlichem Glase. Doch stehe noch, Folgendes zu weiterer Bestätigung.
Das Licht vom Auge des Geistes geschaut mag als durchaus weiß gedacht werden. Allein das empirische, vom körperlichen Auge wahrgenommene Licht wird selten in solcher Reinheit gesehen; vielmehr hat es, durch Dünste oder sonst modificirt, die Neigung, sich entweder für die Plus- oder Minusseite zu bestimmen und entweder mit einem gelblichen oder bläulichen Ton zu erscheinen. Das unmittelbare Sonnenlicht neigt sich, in solchem Fall entschieden zur Plusseite, zum gelblichen, das Kerzenlicht gleichfalls; das Licht des Mondes aber sowie das bei der Morgen- und Abenddämmerung wirkende Tageslicht, welches beides keine directe, sondern reflectirte Lichter sind, die überdies durch Dämmerung und Nacht modificirt werden, neigen sich auf die passive, auf die Minusseite und kommen zum Auge in einem bläulichen Ton.
Man lege in der Dämmerung oder bei Mondenschein einen weißen Bogen Papier so, daß dessen eine Hälfte vom Mond- oder Tageslichte, dessen andere aber vom Kerzenlichte beschienen werde, so wird die eine Hälfte einen bläulichen, die andere einen gelblichen Ton haben, und so werden beide Lichter, ohne[29] hinzugekommenen Schatten und ohne subjective Steigerung, bereits auf der activen oder passiven Seite sich befinden.
Das Resultat meiner Beobachtungen ging demnach dahin, daß auch Goethes Lehre von den farbigen Doppelschatten nicht durchaus richtig sei, daß bei diesem Phänomen mehr Objectives einwirke, als von ihm beobachtet worden, und daß das Gesetz der subjectiven Forderung dabei nur als etwas Secundäres in Betracht komme.
Wäre das menschliche Auge überall so empfindlich und empfänglich, daß es bei der leisesten Berührung von irgend einer Farbe sogleich disponirt wäre, die entgegengesetzte hervorzubringen, so würde das Auge stets eine Farbe in die andere übertragen und es würde das unangenehmste Gemisch entstehen.
Dies ist aber glücklicherweise nicht so, vielmehr ist ein gesundes Auge so organisirt, daß es die geforderten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf aufmerksam gemacht, sie doch nur mit Mühe hervorbringt, in daß diese Operation sogar einige Übung und Geschicklichkeit verlangt, ehe sie, selbst unter günstigen Bedingungen, gelingen will.
Das eigentlich Characteristische solcher subjectiven Erscheinungen – daß nämlich das Auge zu ihrer Hervorbringung gewissermaßen einen mächtigen Reiz verlangt, und daß, wenn sie entstanden, sie keine Stetigkeit haben, sondern flüchtige, schnell verschwindende Wesen sind –[30] ist bei den blauen Schatten im Schnee sowie bei den farbigen Doppelschatten von Goethe zu sehr außer acht gelassen; denn in beiden Fällen ist von einer kaum merklich tingirten Fläche die Rede, und in beiden Fällen steht die geforderte Farbe beim ersten Hinblick sogleich entschieden da.
Aber Goethe, bei seinem Festhalten am einmal erkannten Gesetzlichen, und bei seiner Maxime, es selbst in solchen Fällen vorauszusetzen, wo es sich zu verbergen scheine, konnte sehr leicht verführt werden, eine Synthese zu weit greifen zu lassen und ein liebgewonnenes Gesetz auch da zu erblicken, wo ein ganz anderes wirkte.
Als er nun heute seine ›Farbenlehre‹ zur Erwähnung brachte und sich erkundigte, wie es mit dem besprochenen Compendium stehe, hätte ich die soeben entwickelten Punkte gern verschweigen mögen; denn ich fühlte mich in einiger Verlegenheit, wie ich ihm die Wahrheit sagen sollte, ohne ihn zu verletzen.
Allein da es mir mit dem Compendium wirklich Ernst war, so mußten, ehe ich in dem Unternehmen sicher vorschreiten konnte, zuvor alle Irrthümer beseitigt und alle Mißverständnisse besprochen und gehoben sein.
Es blieb mir daher nichts übrig, als voll Vertrauen ihm zu bekennen, daß ich nach sorgfältigen Beobachtungen mich in dem Fall befinde, in einigen Punkten von ihm abweichen zu müssen, indem ich sowohl seine[31] Ableitung der blauen Schatten im Schnee als auch seine Lehre von den farbigen Doppelschatten nicht durchaus bestätigt finde.
Ich trug ihm meine Beobachtungen und Gedanken über diese Punkte vor, allein da es mir nicht gegeben ist, Gegenstände im mündlichen Gespräch mit einiger Klarheit umständlich zu entwickeln, so beschränkte ich mich darauf, bloß die Resultate meines Gewahrwerdens hinzustellen, ohne in eine nähere Erörterung des Einzelnen einzugehen, die ich mir schriftlich vorbehielt.
Ich hatte aber kaum zu reden angefangen, als Goethes erhaben-heiteres Wesen sich verfinsterte und ich nur zu deutlich sah, daß er meine Einwendungen nicht billige.
»Freilich,« sagte ich, »wer gegen Euer Excellenz recht haben will, muß früh aufstehen, allein doch kann es sich fügen, daß der Mündige sich übereilt und der Unmündige es findet.«
»Als ob Ihr es gefunden hättet!« antwortete Goethe etwas ironisch spöttelnd; mit Euerer Idee des farbigen Lichtes gehört Ihr in das vierzehnte Jahrhundert, und im übrigen steckt Ihr in der tiefsten Dialektik. Das einzige, was an Euch Gutes ist, besteht darin, daß Ihr wenigstens ehrlich genug seid, um gerade herauszusagen, wie Ihr denkt.
»Es geht mir mit meiner Farbenlehre,« fuhr er darauf etwas heiterer und milder fort, »gerade wie mit der christlichen Religion. Man glaubt eine Weile,[32] treue Schüler zu haben, und ehe man es sich versieht, weichen sie ab und bilden eine Sekte. Sie sind ein Ketzer wie die andern auch, denn Sie sind der erste nicht, der von mir abgewichen ist. Mit den trefflichsten Menschen bin ich wegen bestrittener Punkte in der Farbenlehre auseinander gekommen. Mit *** wegen .... ....und mit *** wegen .....« Er nannte mir hier einige bedeutende Namen [Schopenhauer und Seebeck?].
Wir hatten indeß abgespeist, das Gespräch stockte. Goethe stand auf und stellte sich ans Fenster. Ich trat zu ihm und drückte ihm die Hand; denn, wie er auch schalt, ich liebte ihn, und dann hatte ich das Gefühl, daß das Recht auf meiner Seite und daß er der leidende Theil sei.
Es währte auch nicht lange, so sprachen und scherzten wir wieder über gleichgültige Dinge; doch als ich ging und ihm sagte, daß er meine Widersprüche zu besserer Prüfung schriftlich haben solle, und daß bloß die Ungeschicklichkeit meines mündlichen Vortrags schuld sei, warum er mir nicht recht gebe, konnte er nicht umhin, einiges von Ketzern und Ketzerei mir noch in der Thür halb lachend, halb spottend zuzuwerfen.
Wenn es nun problematisch erscheinen mag, daß Goethe in seiner Farbenlehre nicht gut Widersprüche vertragen konnte, während er bei seinen poetischen Werken sich immer durchaus läßlich erwies und jede[33] gegründete Einwendung mit Dank aufnahm, so löst sich vielleicht das Räthsel, wenn man bedenkt, daß ihm als Poet von außen her die völligste Genugthuung zutheil ward, während er bei der ›Farbenlehre‹, diesem größten und schwierigsten aller seiner Werke, nichts als Tadel und Mißbilligung zu erfahren hatte. Ein halbes Leben hindurch tönte ihm der unverständigste Widerspruch von allen Seiten entgegen, und so war es denn wohl natürlich, daß er sich immer in einer Art von gereiztem kriegerischen Zustande und zu leidenschaftlicher Opposition stets gerüstet befinden mußte.
Es ging ihm in Bezug auf seine Farbenlehre wie einer guten Mutter, die ein vortreffliches Kind nur desto mehr liebt, je weniger es von andern erkannt wird.
»Auf alles, was ich als Poet geleistet habe,« pflegte er wiederholt zu sagen, »bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf thue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über viele.«[34]
1188.*
1829, 20. Februar.
Mit Goethe zu Tische. Er ist froh über die Beendigung der ›Wanderjahre‹, die er morgen absenden will. In der Farbenlehre tritt er etwas herüber zu meiner Meinung hinsichtlich der blauen Schatten im Schnee. Er spricht von seiner ›Italienischen Reise‹, die er gleich wieder vorgenommen.
»Es geht uns wie den Weibern,« sagte er; »wenn sie gebären, verreden sie es, wieder beim Manne zu schlafen, und ehe man sich's versieht, sind sie wieder schwanger.«
Über den vierten Band seines ›Lebens‹, in welcher Art er ihn behandeln will, und daß dabei meine Notizen vom Jahre 1824 über das bereits Ausgeführte und Schematisirte ihm gute Dienste thun.
Er liest mir das Tagebuch von Göttling vor, der mit großer Liebenswürdigkeit von frühern jenaischen Fechtmeistern handelt. Goethe spricht viel Gutes von Göttling.[35]
1189.*
1829, 23. März.
»Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefunden,« sagte Goethe heute, »wo ich die Baukunst[35] eine erstarrte Musik nenne. Und wirklich, es hat etwas; die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effect der Musik nahe.
Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fühlt man sich beruhigt, man ist zufrieden und will nichts weiter.
Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und unthätig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es läßt meiner innern Natur volle Freiheit, thätig zu sein und aus mir selber zu schaffen.«
Wir sprachen von Schiller's Briefen und dem Leben, das sie miteinander geführt, und wie sie sich täglich zu gegenseitigen Arbeiten gehetzt und getrieben. »Auch an dem ›Faust‹,« sagte ich, »schien Schiller ein großes Interesse zu nehmen; es ist hübsch, wie er Sie treibt, und sehr liebenswürdig, wie er sich durch seine Idee verleiten läßt, selber am ›Faust‹ fortzuerfinden. Ich habe dabei bemerkt, daß etwas Voreilendes in seiner Natur lag.«
»Sie haben recht,« sagte Goethe, »er war so, wie alle Menschen, die zu sehr von der Idee ausgehen. Auch hatte er keine Ruhe und konnte nie fertig werden, wie Sie an den Briefen über den ›Wilhelm Meister‹ sehen, den er bald so und bald anders haben will. Ich[36] hatte nur immer zu thun, daß ich feststand und seine wie meine Sachen von solchen Einflüssen freihielt und schützte.«
»Ich habe diesen Morgen,« sagte ich, »seine ›Nadowessische Todtenklage‹ gelesen und mich gefreut, wie das Gedicht so vortrefflich ist.«
»Sie sehen,« antwortete Goethe, »wie Schiller ein großer Künstler war und wie er auch das Objective zu fassen wußte, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen kam. Gewiß, die ›Nadowessische Todtenklage‹ gehört zu seinen allerbesten Gedichten, und ich wollte nur, daß er ein Dutzend in dieser Art gemacht hätte. Aber können Sie denken, daß seine nächsten Freunde ihn dieses Gedichtes wegen tadelten, indem sie meinten, es trage nicht genug von seiner Idealität? – Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt! Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea, daß sie bei dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und dreingeschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug ist ja der Character des außerordentlichen Mädchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zuständen recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewöhnlichen herab. – Aber Sie werden bei weiterm Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen fähig sind, sich auf den Fuß dessen zu setzen, was sein muß, und daß vielmehr alle nur immer das loben und das hervorgebracht wissen wollen, was ihnen selber gemäß ist. Und das waren die Ersten[37] und Besten, und sie mögen nun denken, wie es um die Meinungen der Masse aussah, und wie man eigentlich immer allein stand.
Hätte ich in der bildenden Kunst und in den Naturstudien kein Fundament gehabt, so hätte ich mich in der schlechten Zeit und deren täglichen Einwirkungen auch schwerlich oben gehalten; aber das hat mich geschützt, sowie ich auch Schillern von dieser Seite zu Hilfe kam.«[38]
1190.*
1829, 24. März.
»Je höher ein Mensch,« sagte Goethe, »desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen, und er muß nur immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege gerathe.
So waltete bei meiner Bekanntschaft mit Schillern durchaus etwas Dämonisches ob; wir konnten früher, wir konnten später zusammengeführt werden, aber daß wir es gerade in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte und Schiller der philosophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und für beide von größtem Erfolg.«[38]
1191.*
1829, Ende März (?).
Die neueren Gedichte Ew. Königl. Hoheit kenne ich [Frh. v. Lützerode] zumtheil, besitze aber keines davon; ich bitte daher um baldigste Zusendung derselben, da mich Goethe an mein Versprechen hat erinnern lassen.[39]
1192.*
1829, 2. April.
»Ich will Ihnen ein politisches Geheimniß entdecken,« sagte Goethe heute bei Tische, »das sich über kurz oder lang offenbaren wird. Kapodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Länge nicht halten; denn ihm fehlt eine Qualität, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist: er ist kein Soldat. Wir haben aber kein Beispiel, daß ein Cabinetsmann einen revolutionären Staat hätte organisiren und Militär und Feldherrn sich hätte unterwerfen können. Mit dem Säbel in der Faust, an der Spitze einer Armee mag man befehlen und Gesetze geben, und man kann sicher sein, daß man gehorcht werde; aber ohne dieses ist es ein mißliches Ding. Napoleon, ohne Soldat zu sein, hätte nie zur höchsten Gewalt emporsteigen können, und so wird sich auch Kapodistrias als[39] Erster auf die Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er sehr bald eine secundäre Rolle spielen. Ich sage Ihnen dieses voraus, und Sie werden es kommen sehen; es liegt in der Natur der Dinge und ist nicht anders möglich.«.
Goethe sprach darauf viel über die Franzosen, besonders über Cousin, Villemain und Guizot. »Die Einsicht, Umsicht und Durchsicht dieser Männer,« sagte er, »ist groß; sie verbinden vollkommene Kenntniß des Vergangenen mit dem Geist des 19. Jahrhunderts, welches denn freilich Wunder thut.«
Von diesen kamen wir auf die neuesten französischen Dichter und auf die Bedeutung von classisch und romantisch. »Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen,« sagte Goethe, »der das Verhältniß nicht übel bezeichnet. Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen classisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht classisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Classisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald imreinen sein.«
Das Gespräch lenkte sich auf Béranger's Gefangenschaft. »Es geschieht ihm ganz recht,« sagte Goethe. »Seine letzten Gedichte sind wirklich ohne Zucht und Ordnung, und er hat gegen König, Staat und friedlichen[40] Bürgersinn seine Strafe vollkommen verwirkt. Seine frühern Gedichte dagegen sind heiter und harmlos und ganz geeignet, einen Zirkel froher glücklicher Menschen zu machen, welches denn wohl das Beste ist, was man von Liedern sagen kann.«
»Ich bin gewiß,« versetzte ich, »daß seine Umgebung nachtheilig auf ihn gewirkt hat, und daß er, um seinen revolutionären Freunden zu gefallen, manches gesagt hat, was er sonst nicht gesagt haben würde. Euer Excellenz sollten Ihr Schema ausführen und das Kapitel von den Influenzen schreiben; der Gegenstand ist wichtiger und reicher, je mehr man darüber nachdenkt.«
»Er ist nur zu reich,« sagte Goethe, »denn am Ende ist alles Influenz, insofern wir es nicht selber sind.«
»Man hat nur darauf zu sehen,« sagte ich, »ob eine Influenz hinderlich und förderlich, ob sie unserer Natur angemessen und begünstigend oder ob sie ihr zuwider ist.«
»Das ist es freilich,« sagte Goethe, »worauf es ankommt, aber das ist auch eben das Schwere, daß unsere bessere Natur sich kräftig durchhalte und den Dämonen nicht mehr Gewalt einräume als billig.«
Beim Nachtisch ließ Goethe einen blühenden Lorbeer und eine japanesische Pflanze vor uns auf den Tisch stellen. Ich bemerkte, daß von beiden Pflanzen eine verschiedene Stimmung ausgehe, daß der Anblick des[41] Lorbeers heiter, leicht, milde und ruhig mache, die japanesische Pflanze dagegen barbarisch, melancholisch wirke.
»Sie haben nicht unrecht,« sagte Goethe, »und daher kommt es denn auch, daß man der Pflanzenwelt eines Landes einen Einfluß auf die Gemüthsart seiner Bewohner zugestanden hat. Und gewiß: wer sein Leben lang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter lustigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im allgemeinen nicht so sensibler Natur sind als wir andern, und daß sie im ganzen kräftig vor sich hin leben, ohne den äußern Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Character eines Volks zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistentheils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem angeborenen Character der Menschen bereits in Harmonie stand.
Sehen Sie sich einmal um,« fuhr Goethe fort, »hinter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu betrachten bitte.«
»Dieses blaue Briefcouvert?« sagte ich.
»Ja,« sagte Goethe. »Nun, was sagen Sie zu der Handschrift? Ist das nicht ein Mensch, dem es groß[42] und frei zu Sinne war, als er die Adresse schrieb? Wem möchten Sie die Hand zutrauen?«
Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Züge der Handschrift waren sehr frei und grandios. »Merck könnte so geschrieben haben,« sagte ich.
»Nein,« sagte Goethe, »der war nicht edel und positiv genug. Es ist von Zelter. Papier und Feder hat ihn bei diesem Couvert begünstigt, sodaß die Schrift ganz seinen großen Character ausdrückt. Ich will das Blatt in meine Sammlung von Handschriften legen.«[43]
1193.*
1829, 3. April.
Mit Oberbaudirector Coudray bei Goethe zu Tische. Coudray erzählte von einer Treppe im großherzoglichen Schloß zu Belvedere, die man seit Jahren höchst unbequem gefunden, an deren Verbesserung der alte Herrscher immer gezweifelt habe, und die nun unter der Regierung des jungen Fürsten vollkommen gelinge.
Auch von dem Fortgange verschiedener Chausseebauten gab Coudray Nachricht, und daß man den Weg über die Berge nach Blankenhain wegen zwei Fuß Steigung auf die Ruthe ein wenig hätte umleiten müssen, wo man doch an einigen Stellen noch achtzehn Zoll auf die Ruthe habe.
[43] Ich fragte Coudray, wieviel Zoll die eigentliche Norm sei, welche man beim Chausseebau in hügeligen Gegenden zu erreichen trachte.
»Zehn Zoll auf die Ruthe« antwortete er, »da ist es bequem.«
»Aber,« sagte ich, »wenn man von Weimar aus irgend eine Straße nach Osten, Süden, Westen oder Norden fährt, so findet man sehr bald Stellen, wo die Chaussee weit mehr als zehn Zoll Steigung auf die Ruthe haben möchte.«
»Das sind kurze unbedeutende Strecken,« antwortete Coudray, »und dann geht man oft beim Chausseebau über solche Stellen in der Nähe eines Ortes absichtlich hin, um demselben ein kleines Einkommen für Vorspann nicht zu nehmen.« Wir lachten über diese redliche Schelmerei. »Und im Grunde,« fuhr Coudray fort, »ist's auch eine Kleinigkeit; die Reisewagen gehen über solche Stellen leicht hinaus, und die Frachtfahrer sind einmal an einige Plackerei gewöhnt. Zudem, da solcher Vorspann gewöhnlich bei Gastwirthen genommen wird, so haben die Fuhrleute zugleich Gelegenheit einmal zu trinken, und sie würden es einem nicht danken, wenn man ihnen den Spaß verdürbe.«
»Ich möchte wissen,« sagte Goethe, »ob es in ganz ebenen flachen Gegenden nicht sogar besser wäre, die gerade Straßenlinie dann und wann zu unterbrechen und die Chaussee künstlich hier und dort ein wenig steigen und fallen zu lassen; es würde das bequeme[44] Fahren nicht hindern, und man gewönne, daß die Straße wegen besserm Abfluß des Regenwassers immer trocken wäre.«
»Das ließe sich wohl machen,« antwortete Coudray, »und würde sich höchst wahrscheinlich sehr nützlich erweisen.«
Coudray brachte darauf eine Schrift hervor, den Entwurf einer Instruction für einen jungen Architekten, den die Oberbaubehörde zu seiner weitern Ausbildung nach Paris zu schicken im Begriff stand. Er las die Instruction, sie ward von Goethe gut befunden und gebilligt. Goethe hatte beim Ministerium die nöthige Unterstützung ausgewirkt; man freute sich, daß die Sache gelungen, und sprach über die Vorsichtsmaßregeln, die man nehmen wolle, damit dem jungen Manne das Geld gehörig zu gute komme und er auch ein Jahr damit ausreiche. Bei seiner Zurückkunft hatte man die Absicht ihn an der neu zu errichtenden Gewerkschule als Lehrer anzustellen, wodurch denn einem talentreichen jungen Mann alsobald ein angemessener Wirkungskreis eröffnet sei. Es war alles gut, und ich gab dazu meinen Segen im stillen.
Baurisse, Vorlegeblätter für Zimmerleute von Schinkel wurden darauf vorgezeigt und betrachtet. Coudray fand die Blätter bedeutend und zum Gebrauch für die künftige Gewerkschule vollkommen geeignet.
Man sprach von Bauten, vom Schall und wie er[45] zu vermeiden, und von großer Festigkeit der Gebäude der Jesuiten. »In Messina,« sagte Goethe, »waren alle Gebäude vom Erdbeben zusammengerüttelt, aber die Kirche und das Kloster der Jesuiten standen ungerührt, als wären sie gestern gebaut. Es war nicht die Spur an ihnen zu bemerken, daß die Erderschütterung den geringsten Effect auf sie gehabt.«
Von Jesuiten und deren Reichthümern lenkte sich das Gespräch auf Katholiken und die Emancipation der Irländer. »Man sieht,« sagte Coudray, »die Emancipation wird zugestanden werden, aber das Parlament wird die Sache so verclausuliren, daß dieser Schritt auf keine Weise für England gefährlich werden kann.«
»Bei den Katholiken,« sagte Goethe, »sind alle Vorsichtsmaßregeln unnütz. Der päpstliche Stuhl hat Interessen, woran wir nicht denken, und Mittel, sie im stillen durchzuführen, wovon wir keinen Begriff haben. Säße ich jetzt im Parlament, ich würde auch die Emancipation nicht hindern, aber ich würde zu Protokoll nehmen lassen, daß wenn der erste Kopf eines bedeutenden Protestanten durch die Stimme eines Katholiken falle, man an mich denken möge.«
Das Gespräch lenkte sich auf die neueste Literatur der Franzosen, und Goethe sprach abermals mit Bewunderung von den Vorlesungen der Herren Cousin, Villemain und Guizot. »Statt des Voltaireschen leichten oberflächlichen Wesens,« sagte er, »ist bei[46] ihnen eine Gelehrsamkeit, wie man sie früher nur bei Deutschen fand. Und nun ein Geist, ein Durchdringen und Auspressen des Gegenstandes, herrlich! es ist als ob sie die Kelter träten. Sie sind alle drei vortrefflich, aber dem Herrn Guizot möchte ich den Vorzug geben, er ist mir der liebste.«
Wir sprachen darauf über Gegenstände der Weltgeschichte, und Goethe äußerte Folgendes über Regenten.
»Um populär zu sein,« sagte er, »braucht ein großer Regent weiter keine Mittel als seine Größe. Hat er so gestrebt und gewirkt, daß sein Staat im Innern glücklich und nach außen geachtet ist, so mag er mit allen seinen Orden im Staatswagen, oder er mag im Bärenfelle und die Cigarre im Munde auf einer schlechten Droschke fahren, es ist alles gleich: er hat einmal die Liebe seines Volkes und genießt immer dieselbige Achtung. Fehlt aber einem Fürsten die persönliche Größe und weiß er nicht durch gute Thaten bei den Seinen sich in Liebe zu setzen, so muß er auf andere Vereinigungsmittel denken, und da giebt es kein besseres und wirksameres als die Religion und den Mitgenuß und die Mitübung derselbigen Gebräuche. Sonntäglich in der Kirche erscheinen, auf die Gemeinde herabsehen und von ihr ein Stündchen sich anblicken lassen, ist das trefflichste Mittel zur Popularität, das man jedem jungen Regenten anrathen möchte, und das, bei aller Größe, selbst Napoleon nicht verschmäht hat.«
Das Gespräch wendete sich nochmals zu den Katholiken,[47] und wie groß der Geistlichen Einfluß und Wirken imstillen sei. Man erzählte von einem jungen Schriftsteller in Hauau, [Koenig] der vor kurzem in einer Zeitschrift, die er herausgegeben, ein wenig heiter über den Rosenkranz gesprochen. Diese Zeitschrift sei sogleich eingegangen, und zwar durch den Einfluß der Geistlichen in ihren verschiedenen Gemeinden. »Von meinem ›Werther‹,« sagte Goethe, »erschien sehr bald eine italienische Übersetzung in Mailand. Aber von der ganzen Auflage war inkurzem auch nicht ein einziges Exemplar mehr zu sehen. Der Bischof war dahintergekommen und hatte die ganze Edition von den Geistlichen in den Gemeinden aufkaufen lassen. Es verdroß mich nicht, ich freute mich vielmehr über den klugen Herrn, der sogleich einsah, daß der ›Werther‹ für die Katholiken ein schlechtes Buch sei, und ich mußte ihn loben, daß er auf der Stelle die wirksamsten Mittel ergriffen, es ganz imstillen wieder aus der Welt zu schaffen.«[48]
1194.*
1829, 5. April.
Goethe erzählte mir, daß er vor Tische nach Belvedere gefahren sei, um Coudray's neue Treppe im Schlosse in Augenschein zu nehmen, die er vortrefflich gefunden. Auch sagte er mir, daß ein großer versteinerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle.
[48] »Solche versteinerte Stämme,« sagte er, »finden sich unter dem einundfunfzigsten Grade ganz herum bis nach Amerika, wie ein Erdgürtel. Man muß immer mehr erstaunen. Von der frühern Organisation der Erde hat man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von Buch nicht verdenken, wenn er die Menschen endoctrinirt, um seine Hypothesen zu verbreiten. Er weiß nichts, aber niemand weiß mehr, und da ist es denn am Ende einerlei, was gelehrt wird, wenn es nur einigermaßen einen Anschein von Vernunft hat.«
Von Zelter grüßte mich Goethe, welches mir Freude machte. Dann sprachen wir von seiner italienischen Reise, und er sagte mir, daß er in einem seiner Briefe aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle. Er bat mich, ihm ein Packet Schriften zu reichen, das mir gegenüber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm, es waren seine Briefe aus Italien; er suchte das Gedicht und las:
Cupido, loser eigensinniger Knabe!
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden,
Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben!
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden.
Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz' ich an der Erde, Nächte gequälet.
Dein Muthwill' schüret Flamm' auf Flamme des Herdes,
Verbrennet den Vorrath des Winters und senget mich Armen!
Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben;
Ich such' und bin wie blind und irre geworden.
Du lärmst so ungeschickt! Ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehen, und räumet die Hütte.[49]
Ich freute mich sehr über dies Gedicht, das mir vollkommen neu erschien. »Es kann Ihnen nicht fremd sein,« sagte Goethe, »denn es steht in der ›Claudine von Villa-Bella‹, wo es der Rugantino singt. Ich habe es jedoch dort zerstückelt, sodaß man darüber hinausliest und niemand merkt, was es heißen will. Ich dächte aber, es wäre gut. Es drückt den Zustand artig aus und bleibt hübsch im Gleichniß; es ist in Art der Anakreontischen. Eigentlich hätten wir dieses Lied und ähnliche andere aus meinen Opern unter den ›Gedichten‹ wieder sollen abdrucken lassen, damit der Componist doch die Lieder beisammen hätte.« Ich fand dieses gut und vernünftig und merkte es mir für die Folge.
Goethe hatte das Gedicht sehr schön gelesen; ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse:
Du lärmst so ungeschickt! Ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte –
sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin.
Er erzählte mir sodann von einem neuerschienenen Buche über Napoleon, das von einem Jugendbekannten des Helden [Bourrienne] verfaßt sei und worin man die merkwürdigsten Aufschlüsse erhalte. »Das Buch,« sagte er, »ist ganz nüchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabei, welchen groß artigen[50] Character das Wahre hat, wenn es einer zu sagen wagt.«
Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters erzählte mir Goethe. »Es ist ein pathologisches Product,« sagte er; »die Säfte sind Theilen überflüssig zugeleitet, die sie nicht haben wollen, und andern, die sie bedurft hätten, sind sie entzogen. Das Sujet war gut, sehr gut, aber die Scenen, die ich erwartete, waren nicht da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß und Liebe behandelt. Ich dächte, das wäre pathologisch, oder auch romantisch, wenn Sie nach unserer neuen Theorie lieber wollen.«
Wir waren darauf noch eine Weile heiter beisammen, und Goethe bewirthete mich zuletzt noch mit vielem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm.[51]
1195.*
1829, 6. April.
Goethe gab mir einen Brief von Egon Ebert, den ich bei Tische las und der mir Freude machte. Wir sprachen viel Löbliches von Egon Ebert und Böhmen, und gedachten auch des Professors Zauper mit Liebe.
»Das Böhmen ist ein eigenes Land,« sagte Goethe. »ich bin dort immer gern gewesen. Die Bildung der Literatoren hat noch etwas Reines, welches im nördlichen[51] Deutschland schon anfängt selten zu werden, indem hier jeder Lump schreibt, bei dem an ein sittliches Fundament und eine höhere Absicht nicht zu denken ist.«
Goethe sprach sodann von Egon Ebert's neuestem epischen Gedicht [Walasta], desgleichen von der frühern Weiberherrschaft in Böhmen, und woher die Sage von den Amazonen entstanden.
Dies brachte die Unterhaltung auf das Epos eines andern Dichters [»Die Völkerschlacht« von Weber], der sich viel Mühe gegeben, sein Werk in öffentlichen Blättern günstig beurtheilt zu sehen. »Solche Urtheile,« sagte Goethe, »sind denn auch hier und dort er schienen. Nun aber ist die ›Hallesche Literaturzeitung‹ dahintergekommen und hat geradezu ausgesprochen, was von dem Gedicht eigentlich zu halten, wodurch denn alle günstigen Redensarten der übrigen Blätter vernichtet worden. Wer jetzt nicht das Rechte will, ist bald entdeckt; es ist nicht mehr die Zeit, das Publikum zum besten zu haben und es in die Irre zu führen.«
»Ich bewundere,« sagte ich, »daß die Menschen um ein wenig Namen es sich so sauer werden lassen, sodaß sie selbst zu falschen Mitteln ihre Zuflucht nehmen.«
»Liebes Kind,« sagte Goethe, »ein Name ist nichts Geringes. Hat doch Napoleon eines großen Namens wegen fast die halbe Welt in Stücke geschlagen!«
Es entstand eine kleine Pause im Gespräch. Dann aber erzählte Goethe mir Ferneres von dem neuen[52] Buche über Napoleon. »Die Gewalt des Wahren ist groß,« sagte er. »Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poeten über Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der entsetzlichen Realität dieses Buchs; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, vielmehr wächst er, sowie er an Wahrheit zunimmt.«
»Eine eigene Zaubergewalt,« sagte ich, »mußte er in seiner Persönlichkeit haben, daß die Menschen ihm sogleich zufielen und anhingen und sich von ihm leiten ließen.«
»Allerdings,« sagte Goethe, »war seine Persönlichkeit eine überlegene. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die Menschen gewiß waren, ihre Zwecke unter ihm zu erreichen. Deshalb fielen sie ihm zu, sowie sie es jedem thun, der ihnen eine ähnliche Gewißheit einflößt. Fallen doch die Schauspieler einem neuen Regisseur zu, von dem sie glauben, daß er sie in gute Rollen bringen werde. Dies ist ein altes Märchen, das sich immer wiederholt; die menschliche Natur ist einmal so eingerichtet. Niemand dient einem andern aus freien Stücken, weiß er aber, daß er damit sich selber dient, so thut er es gern. Napoleon kannte die Menschen zu gut, und er wußte von ihren Schwächen den gehörigen Gebrauch zu machen.«
Das Gespräch wendete sich auf Zelter. »Sie wissen,« sagte Goethe, »daß Zelter den preußischen Orden bekommen. Nun hatte er aber noch kein[53] Wappen, aber eine große Nachkommenschaft ist da und somit die Hoffnung auf eine weit hinaus dauernde Familie. Er mußte also ein Wappen haben, damit eine ehrenvolle Grundlage sei, und ich habe den lustigen Einfall gehabt, ihm eins zu machen. Ich schrieb an ihn, und er war es zufrieden, aber ein Pferd wollte er haben. Gut, sagte ich, ein Pferd sollst du haben, aber eins mit Flügeln. – Sehen Sie sich einmal um, hinter Ihnen liegt ein Papier, ich habe darauf mit einer Bleifeder den Entwurf gemacht.«
Ich nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung. Das Wappen sah sehr stattlich aus, und die Erfindung mußte ich loben. Das untere Feld zeigte die Thurmzinne einer Stadtmauer, um anzudeuten, daß Zelter in früherer Zeit ein tüchtiger Maurer gewesen. Ein geflügeltes Pferd hebt sich dahinter hervor, nach höhern Regionen strebend, wodurch sein Genius und Aufschwung zum Höhern ausgesprochen war. Dem Wappenschilde oben fügte sich eine Lyra auf, über welcher ein Stern leuchtete, als ein Symbol der Kunst, wodurch der treffliche Freund unter dem Einfluß und Schutz günstiger Gestirne sich Ruhm erworben. Unten dem Wappen anhing der Orden, womit sein König ihn beglückt und geehrt als Zeichen gerechter Anerkennung großer Verdienste.
»Ich habe es von Facius stechen lassen,« sagte Goethe, »und Sie sollen einen Abdruck sehn. Ist es aber nicht artig, daß ein Freund dem andern ein[54] Wappen macht und ihm dadurch gleichsam den Adel giebt?« Wir freuten uns über den heitern Gedanken, und Goethe schickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu lassen.
Wir saßen noch eine Weile am Tische, indem wir zu gutem Biscuit einige Gläser alten Rheinwein tranken. Goethe summte Undeutliches vor sich hin. Mir kam das Gedicht von gestern wieder in den Kopf, ich recitirte:
Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben;
Ich such' und bin wie blind und irre geworden –
»Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden,« sagte ich, »es ist durchaus eigenartig und drückt die Unordnung so gut aus, die durch die Liebe in unser Leben gebracht wird.«
»Es bringt uns einen düstern Zustand vor Augen,« sagte Goethe.
»Es macht mir den Eindruck eines Bildes,« sagte ich, »eines niederländischen.«
»Es hat so etwas von ›Good man und Good wife‹,« sagte Goethe.
»Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,« sagte ich, »denn ich habe schon fortwährend an jenes Schottische denken müssen, und das Bild von Ostade war mir vor Augen.«
»Aber wunderlich ist es,« sagte Goethe, »daß sich beide Gedichte nicht malen lassen; sie geben wohl den[55] Eindruck eines Bildes, eine ähnliche Stimmung, aber gemalt wären sie nichts.«
»Es sind dieses schöne Beispiele,« sagte ich, »wo die Poesie der Malerei so nahe als möglich tritt, ohne aus ihrer eigentlichen Sphäre zu gehen. Solche Gedichte sind mir die liebsten, indem sie Anschauung und Empfindung zugleich gewähren. Wie Sie aber zu dem Gefühl eines solchen Zustandes gekommen sind, begreife ich kaum; das Gedicht ist wie aus einer andern Zeit und einer andern Welt.«
»Ich werde es auch nicht zum zweitenmale machen,« sagte Goethe, »und wüßte auch nicht zu sagen, wie ich dazu gekommen bin; wie uns denn dieses sehr oft geschieht.«
»Noch etwas Eigenes,« sagte ich, »hat das Gedicht. Es ist mir immer als wäre es gereimt, und doch ist es nicht so. Woher kommt das?«
»Es liegt im Rhythmus,« sagte Goethe. »Die Verse beginnen mit einem Vorschlag, gehen trochäisch fort, wo denn der Daktylus gegen das Ende eintritt, welcher eigenartig wirkt und wodurch es einen düster klagenden Character bekommt.« Goethe nahm eine Bleifeder und theilte so ab:
⋃ | ⋃ | ⋃ | ⋃ | ⋃ ⋃ | ⋃.
Von | meinem | breiten | Lager | bin ich ver | trieben.
Wir sprachen über Rhythmus im allgemeinen und kamen darin überein, daß sich über solche Dinge nicht[56] denken lasse. »Der Tact,« sagte Goethe, »kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheidtes zu stande.«
Ich wartete auf den Abdruck des Siegels. Goethe fing an über Guizot zu reden. »Ich gehe in seinen Vorlesungen fort,« sagte er, »und sie halten sich trefflich. Die diesjährigen gehen etwa bis ins 8. Jahrhundert. Er besitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie er mir bei keinem Geschichtschreiber größer vorgekommen. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in seinen Augen die größte Wichtigkeit, als Quellen bedeutender Ereignisse. Welchen Einfluß z.B. das Vorwalten gewisser religiöser Meinungen auf die Geschichte gehabt, wie die Lehre von der Erbsünde, von der Gnade, von guten Werken gewissen Epochen eine solche und eine andere Gestalt gegeben, sehen wir deutlich hergeleitet und nachgewiesen. Auch das römische Recht, als ein fortlebendes, das gleich einer untertauchenden Ente sich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht und immer einmal wieder lebendig hervortritt, sehen wir sehr gut behandelt, bei welcher Gelegenheit denn auch unserm trefflichen Savigny volle Anerkennung zutheil wird.
Wie Guizot von den Einflüssen redet, welche die Gallier in früher Zeit von fremden Nationen empfangen, ist mir besonders merkwürdig gewesen was er von[57] den Deutschen sagt. ›Die Germanen‹, sagt er, ›brachten uns die Idee der persönlichen Freiheit, welche diesem Volke vor allem eigen war‹. Ist das nicht sehr artig und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam? Die Reformation kam aus dieser Quelle wie die Burschenverschwörung auf der Wartburg, Gescheidtes wie Dummes. Auch das Buntscheckige unserer Literatur, die Sucht unserer Poeten nach Originalität, und daß jeder glaubt eine neue Bahn machen zu müssen, sowie die Absonderung und Verisolirung unserer Gelehrten, wo jeder für sich steht und von seinem Punkte aus sein Wesen treibt: alles kommt daher. Franzosen und Engländer dagegen halten weit mehr zusammen und richten sich nacheinander. In Kleidung und Betragen haben sie etwas Übereinstimmendes. Sie fürchten, von einander abzuweichen, um sich nicht auffallend oder gar lächerlich zu machen. Die Deutschen aber gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu thun, er fragt nicht nach dem andern; denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persönlichen Freiheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes.«[58]
1196.*
1829, 7. April.
Ich fand, als ich hereintrat, Hofrath Meyer, der einige Zeit unpäßlich gewesen, mit Goethe am Tisch sitzen, und freute mich, ihn wieder so weit hergestellt zu sehen. Sie sprachen von Kunstsachen, von Peel, der einen Claude Lorrain für viertausend Pfund gekauft, wodurch Peel sich denn besonders in Meyer's Gunst gesetzt hatte. Die Zeitungen wurden gebracht, worein wir uns theilten, in Erwartung der Suppe.
Als an der Tagesordnung kam die Emancipation der Irländer sehr bald zur Erwähnung. »Das Lehrreiche für uns dabei ist,« sagte Goethe, »daß bei dieser Gelegenheit Dinge an den Tag kommen, woran niemand gedacht hat, und die ohne diese Veranlassung nie wären zur Sprache gebracht worden. Recht klar über den irländischen Zustand werden wir aber doch nicht, denn die Sache ist zu verwickelt. So viel aber sieht man, daß dieses Land an Übeln leidet, die durch kein Mittel und also auch nicht durch die Emancipation gehoben werden können. War es bis jetzt ein Unglück, daß Irland seine Übel allein trug, so ist es jetzt ein Unglück, daß England mit hineingezogen wird. Das ist die Sache. Und den Katholiken ist gar nicht zu trauen. Man sieht, welchen schlimmen Stand die zwei Millionen Protestanten gegen die Übermacht der fünf[59] Millionen Katholiken bisher in Irland gehabt haben, und wie z.B. arme protestantische Pächter gedrückt, chikanirt und gequält worden, die von katholischen Nachbarn umgeben waren. Die Katholiken vertragen sich unter sich nicht, aber sie halten immer zusammen, wenn es gegen einen Protestanten geht. Sie sind einer Meute Hunde gleich, die sich untereinander beißen, aber sobald sich ein Hirsch zeigt, sogleich einig sind und in Masse auf ihn losgehen.«
Von den Irländern wendete sich das Gespräch zu den Händeln in der Türkei. Man wunderte sich, wie die Russen, bei ihrer Übermacht, im vorjährigen Feldzuge nicht weiter gekommen. »Die Sache ist die,« sagte Goethe, »die Mittel waren unzulänglich, und deshalb machte man zu große Anforderungen an einzelne, wodurch denn persönliche Großthaten und Aufopferungen geschahen, ohne die Angelegenheit im ganzen zu fördern.«
»Es mag auch ein verwünschtes Lokal sein,« sagte Meyer; »man sieht, in den ältesten Zeiten, daß es in dieser Gegend, wenn ein Feind von der Donau her zu dem nördlichen Gebirge eindringen wollte, immer Händel setzte, daß er immer den hartnäckigsten Widerstand gefunden, und daß er fast nie hereingekommen ist. Wenn die Russen sich nur die Seeseite offen halten, um sich von dorther mit Proviant versehen zu können!«
»Das ist zu hoffen,« sagte Goethe.
»Ich lese jetzt ›Napoleons Feldzug in Ägypten‹,[60] und zwar was der tägliche Begleiter des Helden, was Bourrienne davon sagt, wo denn das Abenteuerliche von vielen Dingen verschwindet und die Facta in ihrer nackten erhabenen Wahrheit dastehen. Man sieht, er hatte bloß diesen Zug unternommen, um eine Epoche auszufüllen, wo er in Frankreich nichts thun konnte, um sich zum Herrn zu machen. Er war anfänglich unschlüssig, was zu thun sei; er besuchte alle französischen Häfen an der Küste des Atlantischen Meeres hinunter, um den Zustand der Schiffe zu sehen und sich zu überzeugen, ob eine Expedition nach England möglich oder nicht. Er fand aber, daß es nicht gerathen sei, und entschloß sich daher zu dem Zuge nach Ägypten.«
»Ich muß bewundern,« sagte ich, »wie Napoleon bei solcher Jugend mit den großen Angelegenheiten der Welt so leicht und sicher zu spielen wußte, als wäre eine vieljährige Praxis und Erfahrung vorangegangen.«
»Liebes Kind,« sagte Goethe, »das ist das Angeborene des großen Talents. Napoleon behandelte die Welt wie Hummel seinen Flügel; beides erscheint uns wunderbar, wir begreifen das eine so wenig wie das andere, und doch ist es so und geschieht vor unsern Augen. Napoleon war darin besonders groß, daß er zu jeder Stunde derselbige war. Vor einer Schlacht, während einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer Niederlage, er stand immer auf festen Füßen und war[61] immer klar und entschieden, was zu thun sei. Er war immer in seinem Element und jedem Augenblick und jedem Zustande gewachsen, so wie es Hummeln gleichviel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Baß oder im Discant spielt. Das ist die Facilität, die sich überall findet wo ein wirkliches Talent vorhanden ist, in Künsten des Friedens wie des Kriegs, am Klavier wie hinter den Kanonen.«
»Man sieht aber an diesem Buche,« fuhr Goethe fort, »wie viele Märchen uns von seinem ägyptischen Feldzuge erzählt worden. Manches bestätigt sich zwar, allein vieles gar nicht, und das meiste ist anders.
Daß er die achthundert türkischen Gefangenen hat erschießen lassen, ist wahr; aber es erscheint als reifer Beschluß eines langen Kriegsrathes, indem nach Erwägung aller Umstände kein Mittel gewesen ist, sie zu retten.
Daß er in die Pyramiden soll hinabgestiegen sein, ist ein Märchen. Er ist hübsch außerhalb stehen geblieben und hat sich von den andern erzählen lassen, was sie unten gesehen.
So auch verhält sich die Sage, daß er orientalisches Costüm angelegt, ein wenig anders. Er hat bloß ein einziges Mal im Hause diese Maskerade gespielt und ist so unter den Seinigen erschienen, zu sehen wie es ihn kleide. Aber der Turban hat ihm nicht gestanden, wie er denn allen länglichen Köpfen nicht steht, und so hat er dieses Costüm nie wieder angelegt.
[62] Die Pestkranken aber hat er wirklich besucht, und zwar um ein Beispiel zu geben, daß man die Pest überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei. Und er hat recht! Ich kann aus meinem eigenen Leben ein Factum erzählen, wo ich bei einem Faulfieber der Ansteckung unvermeidlich ausgesetzt war und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die Krankheit von mir abwehrte. Es ist unglaublich, was in solchen Fällen der moralische Wille vermag. Er durchdringt gleichsam den Körper und setzt ihn in einen activen Zustand, der alle schädlichen Einflüsse zurückschlägt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand träger Schwäche und Empfänglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Besitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, seiner Armee ein imposantes Beispiel zu geben.«
»Aber,« fuhr Goethe sehr heiter scherzend fort, »habt Respect! Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was für ein Buch? – Meinen ›Werther‹!«
»Daß er ihn gut studirt gehabt,« sagte ich, »sieht man bei seinem Lever in Erfurt.«
»Er hatte ihn studirt wie ein Criminalrichter seine Acten,« sagte Goethe, »und in diesem Sinne sprach er auch mit mir darüber.
Es findet sich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liste der Bücher, die Napoleon in Ägypten bei sich geführt, worunter denn auch der ›Werther‹ steht. Das Merkwürdige an dieser Liste aber ist, wie die[63] Bücher unter verschiedenen Rubriken classificirt werden. Unter der Aufschrift ›Politique‹ z.B. finden wir aufgeführt: ›Le vieux testament‹, ›Le nouveau testament‹, ›Le coran‹; woraus man denn sieht, aus welchem Gesichtspunkt Napoleon die religiösen Dinge angesehen.«
Goethe erzählte uns noch manches Interessante aus dem Buche, das ihn beschäftigte. Unter anderm auch kam zur Sprache, wie Napoleon mit der Armee an der Spitze des Rothen Meeres zur Zeit der Ebbe durch einen Theil des trockenen Meerbettes gegangen, aber von der Fluth eingeholt worden sei, sodaß die letzte Mannschaft bis unter die Arme im Wasser habe waten müssen und es also mit diesem Wagstück fast ein pharaonisches Ende genommen hätte. Bei dieser Gelegenheit sagte Goethe manches Neue über das Herankommen der Fluth. Er verglich es mit den Wolken, die uns nicht aus weiter Ferne kommen, sondern die an allen Orten zugleich entstehen und sich überall gleichmäßig fortschieben.[64]
1197.*
1829, 8. April.
Goethe saß schon am gedeckten Tische, als ich hereintrat; er empfing mich sehr heiter. »Ich habe einen Brief erhalten,« sagte er, »woher? – Von Rom! Aber von wem? – Vom König von Bayern!«
[64] »Ich theile Ihre Freude,« sagte ich. »Aber ist es nicht eigen, ich habe mich seit einer Stunde auf einem Spaziergange sehr lebhaft mit dem Könige von Bayern in Gedanken beschäftigt, und nun erfahre ich diese angenehme Nachricht.«
»Es kündigt sich oft etwas in unserm Innern an,« sagte Goethe. »Dort liegt der Brief, nehmen Sie, setzen Sie sich zu mir her und lesen Sie!«
Ich nahm den Brief, Goethe nahm die Zeitung, und so las ich denn ganz ungestört die königlichen Worte. Der Brief war datirt: Rom den 26. März 1829, und mit einer stattlichen Hand sehr deutlich geschrieben. Der König meldete Goethen, daß er sich in Rom ein Besitzthum gekauft und zwar die Villa di Malta mit anliegenden Gärten, in der Nähe der Villa Ludovisi, am nordwestlichen Ende der Stadt, auf einem Hügel gelegen, sodaß er das ganze Rom überschauen könne und gegen Nordost einen freien Anblick von Sankt-Peter habe. ›Es ist eine Aussicht,‹ schreibt er, ›welche zu genießen man weit reisen würde, und die ich nun bequem zu jeder Stunde des Tages aus den Fenstern meines Eigenthums habe.‹ Er fährt fort sich glücklich zu preisen, nun in Rom auf eine so schöne Weise ansässig zu sein. ›Ich hatte Rom in zwölf Jahren nicht gesehen,‹ schreibt er, ›ich sehnte mich danach wie man sich nach einer Geliebten sehnt; von nun an aber werde ich mit der beruhigten Empfindung zurückkehren, wie man zu einer geliebten Freundin geht.‹[65] Von den erhabenen Kunstschätzen und Gebäuden spricht er sodann mit der Begeisterung eines Kenners, dem das wahrhaft Schöne und dessen Förderung am Herzen liegt, und der jede Abweichung vom guten Geschmack lebhaft empfindet. Überall war der Brief durchweg so schön und menschlich empfunden und ausgedrückt, wie man es von so hohen Personen nicht erwartet. Ich äußerte meine Freude darüber gegen Goethe.
»Da sehen Sie einen Monarchen,« sagte er, »der neben der königlichen Majestät seine angeborene schöne Menschennatur gerettet hat. Es ist eine seltene Erscheinung und deshalb um so erfreulicher.« Ich sah wieder in den Brief und fand noch einige treffliche Stellen. ›Hier in Rom,‹ schreibt der König, ›erhole ich mich von den Sorgen des Thrones; die Kunst, die Natur sind meine täglichen Genüsse, Künstler meine Tischgenossen.‹ Er schreibt auch, wie er oft an dem Hause vorbeigehe, wo Goethe gewohnt, und wie er dabei seiner gedenke. Aus den ›Römischen Elegien‹ sind einige Stellen angeführt, woraus man sieht, daß der König sie gut im Gedächtniß hat und sie in Rom, an Ort und Stelle, von Zeit zu Zeit wieder lesen mag.
»Ja,« sagte Goethe, »die ›Elegien‹ liebt er besonders; er hat mich hier viel damit geplagt, ich sollte ihm sagen, was an dem Factum sei, weil es in den Gedichten so anmuthig erscheint, als wäre wirklich was Rechtes daran gewesen. Man bedenkt aber selten, daß[66] der Poet meistens aus geringen Anlässen was Gutes zu machen weiß.«
»Ich wollte nur,« fuhr Goethe fort, »daß des Königs ›Gedichte‹ jetzt da wären, damit ich in meiner Antwort etwas darüber sagen könnte. Nach dem Wenigen zu schließen, was ich von ihm gelesen, werden die Gedichte gut sein. In der Form und Behandlung hat er viel von Schiller, und wenn er nun in so prächtigem Gefäße uns den Gehalt eines hohen Gemüths zu geben hat, so läßt sich mit Recht viel Treffliches erwarten.
Indessen freue ich mich, daß der König sich in Rom so hübsch angekauft hat. Ich kenne die Villa, die Lage ist sehr schön, und die deutschen Künstler wohnen alle in der Nähe.«
Der Bediente wechselte die Teller, und Goethe sagte ihm, daß er den großen Kupferstich von Rom im Deckenzimmer am Boden ausbreiten möge. »Ich will Ihnen doch zeigen, an welch einem schönen Platz der König sich angekauft hat, damit Sie sich die Lokalität gehörig denken mögen.« Ich fühlte mich Goethen sehr verbunden.
»Gestern Abend,« versetzte ich, »habe ich die ›Claudine von Villa Bella‹ gelesen und mich sehr daran erbaut. Es ist so gründlich in der Anlage und so verwegen, locker, frech und froh in der Erscheinung, daß ich den lebhaften Wunsch fühle, es auf dem Theater zu sehen.«[67] »Wenn es gut gespielt wird,« sagte Goethe, »macht es sich gar nicht schlecht.«
»Ich habe schon in Gedanken das Stück besetzt,« sagte ich, »und die Rollen vertheilt. Herr Genast müßte den Rugantino machen, er ist für die Rolle wie geschaffen; Herr Franke den Don Pedro; denn er ist von einem ähnlichen Wuchs, und es ist gut, wenn zwei Brüder sich ein wenig gleich sind; Herr La Roche den Basko, der dieser Rolle durch treffliche Maske und Kunst den wilden Anstrich geben würde, dessen sie bedarf.«
»Madame Eberwein,« fuhr Goethe fort, »dächte ich, wäre eine sehr gute Lucinde, und Demoiselle Schmidt machte die Claudine.«
»Zum Alonzo,« sagte ich, »müßten wir eine stattliche Figur haben, mehr einen guten Schauspieler als Sänger, und ich dächte, Herr Öls oder Herr Graff würden da am Platze sein. Von wem ist denn die Oper componirt, und wie ist die Musik?«
»Von Reichardt,« antwortete Goethe, »und zwar ist die Musik vortrefflich. Nur ist die Instrumentirung, dem Geschmack der frühern Zeit gemäß, ein wenig schwach. Man müßte jetzt in dieser Hinsicht etwas nachhelfen und die Instrumentirung ein wenig stärker und voller machen. Unser Lied: ›Cupido, loser, eigensinniger Knabe‹, ist dem Componisten ganz besonders gelungen.«
»Es ist eigen an diesem Liede,« sagte ich, »daß es[68] in eine Art behaglich träumerische Stimmung versetzt, wenn man es sich recitirt.«
»Es ist aus einer solchen Stimmung hervorgegangen,« sagte Goethe, »und da ist denn auch mit Recht die Wirkung eine solche.«
Wir hatten abgespeist. Friedrich kam und meldete, daß er den Kupferstich von Rom im Deckenzimmer ausgebreitet habe. Wir gingen ihn zu betrachten.
Das Bild der großen Weltstadt lag vor uns; Goethe fand sehr bald die Villa Ludovisi und in der Nähe den neuen Besitz des Königs, die Villa di Malta. »Sehen Sie,« sagte Goethe, »was das für eine Lage ist! Das ganze Rom streckt sich ausgebreitet vor Ihnen hin, der Hügel ist so hoch, daß Sie gegen Mittag und Morgen über die Stadt hinaussehen. Ich bin in dieser Villa gewesen und habe oft den Anblick aus diesen Fenstern genossen. Hier, wo die Stadt jenseits der Tiber gegen Nordost spitz ausläuft, liegt Sanct-Peter, und hier der Vatican in der Nähe. Sie sehen, der König hat aus den Fenstern seiner Villa den Fluß herüber eine freie Ansicht dieser Gebäude. Der lange Weg hier, von Norden herein zur Stadt, kommt aus Deutschland; das ist die Porta del Popolo; in einer dieser ersten Straßen zum Thor herein wohnte ich, in einem Eckhause. Man zeigt jetzt ein anderes Gebäude in Rom, wo ich gewohnt haben soll, es ist aber nicht das rechte. Aber es thut nichts; solche Dinge sind[69] im Grunde gleichgültig, und man muß der Tradition ihren Lauf lassen.«
Wir gingen wieder in unser Zimmer zurück. – »Der Kanzler,« sagte ich, »wird sich über den Brief des Königs freuen.«
»Er soll ihn sehen,« sagte Goethe.
»Wenn ich in den Nachrichten von Paris die Reden und Debatten in den Kammern lese,« fuhr Goethe fort, »muß ich immer an den Kanzler denken, und zwar daß er dort recht in seinem Element und an seinem Platze sein würde; denn es gehört zu einer solchen Stelle nicht allein daß man gescheidt sei, sondern daß man auch den Trieb und die Lust zu reden habe, welches sich doch beides in unserm Kanzler vereinigt. Napoleon hatte auch diesen Trieb zu reden, und wenn er nicht reden konnte, mußte er schreiben oder dictiren. Auch bei Blücher finden wir, daß er gern redete, und zwar gut und mit Nachdruck, welches Talent er in der Loge ausgebildet hatte. Auch unser Großherzog redete gern, obgleich er lakonischer Natur war, und wenn er nicht reden konnte, so schrieb er. Er hat manche Abhandlung, manches Gesetz abgefaßt, und zwar meistentheils gut. Nur hat ein Fürst nicht die Zeit und die Ruhe, sich in allen Dingen die nöthige Kenntniß des Details zu verschaffen. So hatte er in seiner letzten Zeit noch eine Ordnung gemacht, wie man restaurirte Gemälde bezahlen solle. Der Fall war sehr artig; denn wie die Fürsten sind, so hatte er die Beurtheilung der[70] Restaurationskosten mathematisch auf Maß und Zahlen festgesetzt. Die Restauration, hatte er verordnet, soll fußweise bezahlt werden! Hält ein restaurirtes Gemälde zwölf Quadratfuß, so sind zwölf Thaler zu zahlen; hält es vier, so zahlt vier. Dies war fürstlich verordnet, aber nicht künstlerisch; denn ein Gemälde von zwölf Quadratfuß kann in einem Zustande sein, daß es mit geringer Mühe an einem Tage zu restauriren wäre; ein anderes aber von vier kann sich derart befinden, daß zu dessen Restauration kaum der Fleiß und die Mühe einer ganzen Woche hinreichen. Aber die Fürsten lieben als gute Militärs mathematische Bestimmungen und gehen gern nach Maß und Zahl großartig zu Werke.«
Ich freute mich dieser Anekdote. Sodann sprachen wir noch manches über Kunst und derartige Gegenstände.
»Ich besitze Handzeichnungen,« sagte Goethe, »nach Gemälden von Raphael und Dominichin, worüber Meyer eine merkwürdige Äußerung gemacht hat, die ich Ihnen doch mittheilen will.«
›Die Zeichnungen‹, sagte Meyer, ›haben etwas Ungeübtes, aber man sieht, daß derjenige, der sie machte, ein zartes richtiges Gefühl von den Bildern hatte, die vor ihm waren, welches denn in die Zeichnungen übergegangen ist, sodaß sie uns das Original sehr treu vor die Seele rufen. Würde ein jetziger Künstler jene Bilder copiren, so würde er alles weit besser und[71] vielleicht auch richtiger zeichnen; aber es ist vorauszusagen, daß ihm jene treue Empfindung des Originals fehlen, und daß also seine bessere Zeichnung weit entfernt sein würde, uns von Raphael und Dominichin einen so reinen vollkommenen Begriff zu geben.‹
»Ist das nicht ein sehr artiger Fall?« sagte Goethe. »Es könnte ein Ähnliches bei Übersetzungen stattfinden. Voß hat z.B. sicher eine treffliche Übersetzung vom Homer gemacht; aber es wäre zu denken, daß jemand eine naivere, wahrere Empfindung des Originals hätte besitzen und auch wiedergeben können, ohne im ganzen ein so meisterhafter Übersetzer wie Voß zu sein.«
Ich fand dieses alles sehr gut und wahr und stimmte vollkommen bei. Da das Wetter schön und die Sonne noch hoch am Himmel war, so gingen wir ein wenig in den Garten hinab, wo Goethe zunächst einige Baumzweige in die Höhe binden ließ, die zu tief in die Wege herabhingen.
Die gelben Krokus blühten sehr kräftig. Wir blickten auf die Blumen und dann auf den Weg, wo wir denn vollkommen violette Bilder hatten. »Sie meinten neulich,« sagte Goethe, »daß das Grüne und Rothe sich gegenseitig besser hervorrufe als das Gelbe und Blaue, indem jene Farben auf einer höhern Stufe ständen und deshalb vollkommener, gesättigter und wirksamer wären als diese. Ich kann das nicht zugeben. Jede Farbe, sobald sie sich dem Auge entschieden darstellt, wirkt zur Hervorrufung der geforderten gleich kräftig;[72] es kommt bloß darauf an, daß unser Auge in der rechten Stimmung, daß ein zu helles Sonnenlicht nicht hindere, und daß der Boden zur Aufnahme des geforderten Bildes nicht ungünstig sei. Überall muß man sich hüten, bei den Farben zu zarte Unterscheidungen und Bestimmungen zu machen, indem man gar zu leicht der Gefahr ausgesetzt wird, vom Wesentlichen ins Unwesentliche, vom Wahren in die Irre und vom Einfachen in die Verwickelung geführt zu werden.«
Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre in meinen Studien. Indessen war die Zeit des Theaters herangerückt, und ich schickte mich an zu gehen. »Sehen Sie zu,« sagte Goethe lachend, indem er mich entließ, »daß Sie die Schrecknisse der ›Dreißig Jahre aus dem Leben eines Spielers‹1 heute gut überstehen.«
1 Die Enkelin des Philosophen, lebte längere Zeit in Müllers Hause und kam mit Goethe vielfach in Berührung.[73]
1198.*
1829, 10. April.
»In Erwartung der Suppe will ich Ihnen indeß eine Erquickung der Augen geben.« Mit diesen freundlichen Worten legte Goethe mir einen Band vor mit Landschaften von Claude Lorrain.
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[73] »Da sehen Sie einmal einen vollkommenen Menschen,« sagte Goethe, »der schön gedacht und empfunden hat und in dessen Gemüth eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.«
»Ich dächte,« sagte ich, »das wäre ein gutes Wort und zwar ebenso gültig in der Poesie wie in den bildenden Künsten.«
»Ich sollte meinen,« sagte Goethe.
»Indessen,« fuhr er fort, »wäre es wohl besser, Sie sparten sich den fernern Genuß des trefflichen Claude zum Nachtisch, denn die Bilder sind wirklich zu gut, um viele davon hintereinander zu sehen.«
»Ich fühle so,« sagte ich, »denn mich wandelt jedesmal eine gewisse Furcht an, wenn ich das folgende Blatt umwenden will. Es ist eine Furcht eigener Art, die ich vor diesem Schönen empfinde, so wie es uns wohl mit einem trefflichen Buche geht, wo gehäufte kostbare Stellen uns nöthigen innezuhalten, und wir nur mit einem gewissen Zaudern weiter gehen.«
»Ich habe dem König von Bayern geantwortet,«[74] versetzte Goethe nach einer Pause, »und Sie sollen den Brief lesen.«
»Das wird sehr lehrreich für mich sein,« sagte ich, »und ich freue mich dazu.«
»Indeß,« sagte Goethe, »steht hier in der ›Allgemeinen Zeitung‹ ein Gedicht an den König, das der Kanzler mir gestern vorlas, und das Sie doch auch sehen müssen.« Goethe gab mir das Blatt, und ich las das Gedicht imstillen.
»Nun, was sagen Sie dazu?« sagte Goethe.
»Es sind die Empfindungen eines Dilettanten,« sagte ich, »der mehr guten Willen als Talent hat und dem die Höhe der Literatur eine gemachte Sprache überliefert, die für ihn tönt und reimt, während er selber zu reden glaubt.«
»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »ich halte das Gedicht auch für ein sehr schwaches Product: es giebt nicht die Spur von äußerer Anschauung, es ist bloß mental, und das nicht im rechten Sinne.«
»Um ein Gedicht gut zu machen,« sagte ich, »dazu gehören bekanntlich große Kenntnisse der Dinge, von denen man redet, und wem nicht, wie Claude Lorrain, eine ganze Welt zu Gebote steht, der wird, bei den besten ideellen Richtungen, selten etwas Gutes zu Tage bringen.«
»Und das Eigene ist,« sagte Goethe, »daß nur das geborene Talent eigentlich weiß worauf es ankommt,[75] und daß alle übrigen mehr oder weniger in der Irre gehen.«
»Das beweisen die Ästhetiker,« sagte ich, »von denen fast keiner weiß, was eigentlich gelehrt werden sollte, und welche die Verwirrung der jungen Poeten vollkommen machen. Statt vom Realen zu handeln, handeln sie vom Idealen, und statt den jungen Dichter darauf hinzuweisen, was er nicht hat, verwirren sie ihm das, was er besitzt. Wem z.B. von Haus aus einiger Witz und Humor angeboren wäre, wird sicher mit diesen Kräften am besten wirken, wenn er kaum weiß, daß er damit begabt ist; wer aber die gepriesenen Abhandlungen über so hohe Eigenschaften sich zu Gemüthe führte, würde sogleich in dem unschuldigen Gebrauch dieser Kräfte gestört und gehindert werden, das Bewußtsein würde diese Kräfte paralysiren, und er würde, statt einer gehofften Förderung, sich unsaglich gehindert sehen.«
»Sie haben vollkommen recht, und es wäre über dieses Kapitel vieles zu sagen.
Ich habe indeß,« fuhr er fort, »das neue Epos von Egon Ebert gelesen, und Sie sollen es auch thun, damit wir ihm vielleicht von hier aus ein wenig nachhelfen. Das ist nun wirklich ein recht erfreuliches Talent, aber diesem neuen Gedicht mangelt die eigentliche poetische Grundlage, die Grundlage des Realen. Landschaften, Sonnen-Auf- und Untergänge, Stellen wo die äußere Welt die seinige war, sind vollkommen[76] gut und nicht besser zu machen. Das übrige aber, was in vergangenen Jahrhunderten hinauslag, was der Sage angehörte, ist nicht in der gehörigen Wahrheit erschienen, und es mangelt diesem der eigentliche Kern. Die Amazonen und ihr Leben und Handeln sind ins Allgemeine gezogen, in das, was junge Leute für poetisch und romantisch halten und was dafür in der ästhetischen Welt gewöhnlich passirt.«
»Es ist dies ein Fehler,« sagte ich, »der durch die ganze jetzige Literatur geht. Man vermeidet das specielle Wahre, aus Furcht, es sei nicht poetisch, und verfällt dadurch in Gemeinplätze.«
»Egon Ebert,« sagte Goethe, »hätte sich sollen an die Überlieferung der Chronik halten, da hätte aus seinem Gedicht etwas werden können. Wenn ich bedenke, wie Schiller die Überlieferung studirte, was er sich für Mühe mit der Schweiz gab, als er seinen ›Tell‹ schrieb, und wie Shakespeare die Chroniken benutzte und ganze Stellen daraus wörtlich in seine Stücke aufgenommen hat, so könnte man einem jetzigen jungen Dichter auch wohl dergleichen zumuthen. In meinem ›Clavigo‹ habe ich aus den Memoiren des Beaumarchais ganze Stellen.«
»Es ist aber so verarbeitet,« sagte ich, »daß man es nicht merkt, es ist nicht stoffartig geblieben.«
»So ist es recht,« sagte Goethe, »wenn es so ist.«
Goethe erzählte mir sodann einige Züge von Beaumarchais. »Er war ein toller Christ,« sagte er, »und[77] Sie müssen seine Memoiren lesen. Prozesse waren sein Element, worin es ihm erst eigentlich wohl wurde. Es existiren noch Reden von Advocaten aus einem seiner Prozesse, die zu dem Merkwürdigsten, Talentreichsten und Verwegensten gehören, was je in dieser Art verhandelt worden. Eben diesen berühmten Prozeß verlor Beaumarchais. Als er die Treppe des Gerichtshofs hinabging, begegnete ihm der Kanzler, der hinauf wollte. Beaumarchais sollte ihm ausweichen, allein dieser weigerte sich und bestand darauf, daß jeder zur Hälfte Platz machen müsse. Der Kanzler, in seiner Würde beleidigt, befahl den Leuten sei nes Gefolgs, Beaumarchais auf die Seite zu schieben, welches geschah, worauf denn Beaumarchais auf der Stelle wieder in den Gerichtssaal zurückging und einen Prozeß gegen den Kanzler anhängig machte, den er gewann.«
Ich freute mich über diese Anekdote, und wir unterhielten uns bei Tische heiter fort über verschiedene Dinge.
»Ich habe meinen ›Zweiten Aufenthalt in Rom‹ wieder vorgenommen,« sagte Goethe, »damit ich ihn endlich los werde und an etwas anderes gehen kann. Meine gedruckte ›Italienische Reise‹ habe ich, wie Sie wissen, ganz aus Briefen redigirt. Die Briefe aber, die ich während meines zweiten Aufenthalts in Rom geschrieben, sind nicht der Art, um davon vorzüglichen Gebrauch machen zu können: sie enthalten zu viele Bezüge nach Haus, auf meine weimarischen Verhältnisse,[78] und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen innern Zustand ausdrücken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln übereinander zu setzen, und sie so meiner Erzählung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen wird.« Ich fand dieses vollkommen gut und bestätigte Goethe in dem Vorsatz.
»Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt,« fuhr Goethe fort, »man solle trachten sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genügt hat, und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit allem seinem Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er hat zu thun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er bloß wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat. Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten. Was ich aber sagen wollte, ist dieses, daß ich in Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war, um mich selber insoweit zu kennen,[79] daß ich kein Talent zur bildenden Kunst habe, und daß diese meine Tendenz eine falsche sei. Wenn ich etwas zeichnete, so fehlte es mir an genugsamem Trieb für das Körperliche; ich hatte eine gewisse Furcht, die Gegenstände auf mich eindringend zu machen, vielmehr war das Schwächere, das Mäßige nach meinem Sinn. Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen durch die Mittelgründe heran, so fürchtete ich immer, dem Vordergrund die gehörige Kraft zu geben, und so that denn mein Bild nie die rechte Wirkung. Auch machte ich keine Fortschritte ohne mich zu üben, und ich mußte immer wieder von vorn anfangen, wenn ich eine Zeit lang ausgesetzt hatte. Ganz ohne Talent war ich jedoch nicht, besonders zu Landschaften, und Hackert sagte sehr oft: ›Wenn Sie achtzehn Monate bei mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und andere Freude haben.‹«
Ich hörte dieses mit großem Interesse. »Wie aber,« sagte ich, »soll man erkennen, daß einer zur bildenden Kunst ein wahrhaftes Talent habe?«
»Das wirkliche Talent,« sagte Goethe, »besitzt einen angeborenen Sinn für die Gestalt, die Verhältnisse und die Farbe, sodaß es alles dieses unter weniger Anleitung sehr bald und richtig macht. Besonders hat es den Sinn für das Körperliche, und den Trieb, es durch die Beleuchtung handgreiflich zu machen. Auch in den Zwischenpausen der Übung schreitet es fort und[80] wächst im Innern. Ein solches Talent ist nicht schwer zu erkennen, am besten aber erkennt es der Meister.«
»Ich habe diesen Morgen das Fürstenhaus besucht,« fuhr Goethe sehr heiter fort; »die Zimmer der Großherzogin sind höchst geschmackvoll gerathen, und Coudray hat mit seinen Italienern neue Proben großer Geschicklichkeit abgelegt. Die Maler waren an den Wänden noch beschäftigt; es sind ein paar Mailänder; ich redete sie gleich italienisch an und merkte, daß ich die Sprache nicht vergessen hatte. Sie erzählten mir, daß sie zuletzt das Schloß des Königs von Württemberg gemalt, daß sie sodann nach Gotha verschrieben worden, wo sie indeß nicht hätten einig werden können; man habe zur selben Zeit in Weimar von ihnen erfahren und sie hierher berufen, um die Zimmer der Großherzogin zu decoriren. Ich hörte und sprach das Italienische einmal wieder gern, denn die Sprache bringt doch eine Art von Atmosphäre des Landes mit. Die guten Menschen sind seit drei Jahren aus Italien heraus; sie wollen aber, wie sie sagten, von hier direct nach Haus eilen, nachdem sie zuvor im Auftrag des Herrn von Spiegel noch eine Decoration für unser Theater gemalt haben, worüber Ihr wahrscheinlich nicht böse sein werdet. Es sind sehr geschickte Leute; der eine ist ein Schüler des ersten Decorationsmalers in Mailand [San-Quirico], und Ihr könnt also eine gute Decoration hoffen.«
[81] Nachdem Friedrich den Tisch abgeräumt hatte, ließ Goethe sich einen kleinen Plan von Rom vorlegen. »Für uns andere,« sagte er, »wäre Rom auf die Länge kein Aufenthalt; wer dort bleiben und sich ansiedeln will, muß heirathen und katholisch werden, sonst hält er es nicht aus und hat eine schlechte Existenz. Hackert that sich nicht wenig darauf zu gute, daß er sich als Protestant so lange dort erhalten.«
Goethe zeigte mir sodann auch auf diesem Grundriß die merkwürdigsten Gebäude und Plätze. »Dies,« sagte er, »ist der Farnesische Garten.«
»War es nicht hier,« sagte ich, »wo Sie die Hexenscene des ›Faust‹ geschrieben?«
»Nein,« sagte er, »das war im Garten Borghese.«
Ich erquickte mich darauf ferner an den Landschaften von Claude Lorrain, und wir sprachen noch manches über diesen großen Meister. »Sollte ein jetziger junger Künstler,« sagte ich, »sich nicht nach ihm bilden können?«
»Wer ein ähnliches Gemüth hätte,« antwortete Goethe, »würde ohne Frage sich an Claude Lorrain auf das trefflichste entwickeln. Allein wen die Natur mit ähnlichen Gaben der Seele im Stich gelassen, würde diesem Meister höchstens nur Einzelheiten absehen und sich deren nur als Phrase bedienen.«[82]
1199.*
1829, 11. April.
Ich [Eckermann] fand heute den Tisch im langen Saale gedeckt und zwar für mehrere Personen. Goethe und Frau von Goethe empfingen mich sehr freundlich. Es traten nach und nach herein: Madame Schopenhauer, der junge Graf Reinhard von der französischen Gesandtschaft, dessen Schwager Herr von D[iemar], auf einer Durchreise begriffen, um gegen die Türken in russische Dienste zu gehen, Fräulein Ulrike, und zuletzt Hofrath Vogel.
Goethe war in besonders heiterer Stimmung; er unterhielt die Anwesenden, ehe man sich zu Tische setzte, mit einigen guten Frankfurter Späßen, besonders zwischen Rothschild und Bethmann, wie der eine dem andern die Speculation verdorben.
Graf Reinhard ging an Hof, wir andern setzten uns zu Tische. Die Unterhaltung war anmuthig belebt, man sprach von Reisen, von Bädern, und Madame Schopenhauer interessirte besonders für die Einrichtung ihres neuen Besitzes am Rhein, in der Nähe der Insel Nonnenwerth.
Zum Nachtisch erschien Graf Reinhard wieder, der wegen seiner Schnelle gelobt wurde, womit er während der kurzen Zeit nicht allein bei Hofe gespeist, sondern sich auch zweimal umgekleidet hatte.
[83] Er brachte uns die Nachricht, daß der neue Papst gewählt sei, und zwar ein Castiglione, und Goethe erzählte der Gesellschaft die Förmlichkeiten, die man bei der Wahl herkömmlich beobachtet.
Graf Reinhard, der den Winter in Paris gelebt, konnte manche erwünschte Auskunft über bekannte Staatsmänner, Literatoren und Poeten geben. Man sprach über Châteaubriand, Guizot, Salvandy, Béranger, Mérimée und andere.
Nach Tische und als jedermann gegangen war, nahm Goethe mich in seine Arbeitsstube und zeigte mir zwei höchst merkwürdige Skripta, worüber ich große Freude hatte. Es waren zwei Briefe aus Goethes Jugendzeit, im Jahre 1770 aus Straßburg an seinen Freund Dr. Horn in Frankfurt geschrieben, der eine im Juli, der andere im December. In beiden sprach sich ein junger Mensch aus, der von großen Dingen eine Ahnung hat, die ihm bevorstehen. In dem letztern zeigten sich schon Spuren vom »Werther«; das Verhältniß in Sesenheim ist angeknüpft, und der glückliche Jüngling scheint sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und seine Tage halb träumerisch hinzuschlendern.[84]
1200.*
1829, 12. April.
Goethe las mir seine Antwort an den König von Bayern. Er hatte sich dargestellt wie einen, der persönlich die Stufen der Villa hinaufgeht und sich in des Königs unmittelbarer Nähe mündlich äußert. »Es mag schwer sein,« sagte ich, »das richtige Verhältniß zu treffen, wie man sich in solchen Fällen zu halten habe.«
»Wer wie ich,« antwortete Goethe, »sein ganzes Leben hindurch mit hohen Personen zu verkehren gehabt, für den ist es nicht schwer. Das einzige dabei ist, daß man sich nicht durchaus menschlich gehen lasse, vielmehr sich stets innerhalb einer gewissen Convenienz halte.«
Goethe sprach darauf von der Redaction seines »Zweiten Aufenthalts in Rom«, die ihn jetzt beschäftigt.
»Bei den Briefen,« sagte er, »die ich in jener Periode geschrieben, sehe ich recht deutlich, wie man in jedem Lebensalter gewisse Avantagen und Desavantagen in Vergleich zu frühern oder spätern Jahren hat. So war ich in meinem vierzigsten Jahre über einige Dinge vollkommen so klar und gescheidt als jetzt und in manchen Hinsichten sogar besser; aber doch besitze ich jetzt in meinem achtzigsten Vortheile, die ich mit jenen nicht vertauschen möchte.«
[85] »Während Sie dieses reden,« sagte ich, »steht mir die Metamorphose der Pflanze vor Augen, und ich begreife sehr wohl, daß man aus der Periode der Blüthe nicht in die der grünen Blätter, und aus der des Samens und der Früchte nicht in die des Blüthenstandes zurücktreten möchte.«
»Ihr Gleichniß,« sagte Goethe, »drückt meine Meinung vollkommen aus. Denken Sie sich ein recht ausgezacktes Blatt,« fuhr er lachend fort, »ob es aus dem Zustande der freiesten Entwickelung in die dumpfe Beschränktheit der Kotyledone zurück möchte? Und nun ist sehr artig, daß wir sogar eine Pflanze haben, die als Symbol des höchsten Alters gelten kann, indem sie über die Periode der Blüthe und der Frucht hinaus ohne weitere Production noch munter fortwächst.
Das Schlimme ist,« fuhr Goethe fort, »daß man im Leben so viel durch falsche Tendenzen ist gehindert worden, und daß man nie eine solche Tendenz erkannt, als bis man sich bereits davon freigemacht.«
»Woran aber,« sagte ich, »soll man sehen und wissen, daß eine Tendenz eine falsche sei?«
»Die falsche Tendenz,« antwortete Goethe, »ist nicht productiv, und wenn sie es ist, so ist das Hervorgebrachte von keinem Werth. Dieses an andern gewahr zu werden, ist nicht so gar schwer, aber an sich selber, ist ein eigenes Ding und will eine große Freiheit des Geistes. Und selbst das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann sich nicht[86] entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat. Ich sage dieses, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einsah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunst eine falsche sei, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich davon loszumachen.«
»Aber doch,« sagte ich, »hat Ihnen diese Tendenz so vielen Vortheil gebracht, daß man sie kaum eine falsche nennen möchte.«
»Ich habe an Einsicht gewonnen,« sagte Goethe, »weshalb ich mich auch darüber beruhigen kann. Und das ist der Vortheil, den wir aus jeder falschen Tendenz ziehen. Wer mit unzulänglichem Talent sich in der Musik bemüht, wird freilich nie ein Meister werden, aber er wird dabei lernen, dasjenige zu erkennen und zu schätzen, was der Meister gemacht hat. Trotz aller meiner Bestrebungen bin ich freilich kein Künstler geworden, aber indem ich mich in allen Theilen der Kunst versuchte, habe ich gelernt, von jedem Strich Rechenschaft zu geben und das Verdienstliche vom Mangelhaften zu unterscheiden. Dieses ist kein kleiner Gewinn, so wie denn selten eine falsche Tendenz ohne Gewinn bleibt. So z.B. waren die Kreuzzüge zur Befreiung des Heiligen Grabes offenbar eine falsche Tendenz, aber sie hat das Gute gehabt, daß dadurch die Türken immerfort geschwächt und gehindert worden sind, sich zu Herren von Europa zu machen.«[87] Wir sprachen noch über verschiedene Dinge, und Goethe erzählte sodann von einem Werk über Peter den Großen von Ségur, das ihm interessant sei und ihm manchen Aufschluß gegeben. »Die Lage von Petersburg,« sagte er, »ist ganz unverzeihlich, um so mehr wenn man bedenkt, daß gleich in der Nähe der Boden sich hebt, und daß der Kaiser die eigentliche Stadt ganz von aller Wassersnoth hätte freihalten können, wenn er mit ihr ein wenig höher hinaufgegangen wäre und bloß den Hafen in der Niederung gelassen hätte. Ein alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorstellungen und sagte ihm voraus, daß die Population alle siebzig Jahre ersaufen würde. Es stand auch ein alter Baum da mit verschiedenen Spuren eines hohen Wasserstandes. Aber es war alles umsonst; der Kaiser blieb bei seiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit er nicht gegen ihn zeugen möchte.
Sie werden gestehen, daß in diesem Verfahren eines so großen Charakters durchaus etwas Problematisches liege. Aber wissen Sie, wie ich es mir erkläre? Der Mensch kann seine Jugendeindrücke nicht los werden, und dieses geht so weit, daß selbst mangelhafte Dinge, woran er sich in solchen Jahren gewöhnt und in deren Umgebung er jene glückliche Zeit gelebt hat, ihm auch später in dem Grade lieb und werth bleiben, daß er darüber wie verblendet ist und er das Fehlerhafte daran nicht einsieht. So wollte denn[88] Peter der Große das liebe Amsterdam seiner Jugend in einer Hauptstadt am Ausflusse der Neva wiederholen, sowie die Holländer immer versucht worden sind, in ihren entfernten Besitzungen ein neues Amsterdam wiederholt zu gründen.«[89]
1201.*
1829, 13. April.
Heute, nachdem Goethe über Tische mir manches gute Wort gesagt, erquickte ich mich zum Nachtisch noch an einigen Landschaften von Claude Lorrain. »Die Sammlung« [von Boydell], sagte Goethe, »führt den Titel ›Liber veritatis‹, sie könnte ebenso gut Liber naturae et artis heißen, denn es findet sich hier die Natur und Kunst auf der höchsten Stufe und im schönsten Bunde.«
Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude Lorrain, und in welcher Schule er sich gebildet. »Sein nächster Meister,« sagte Goethe, »war Antonio Tasso1; dieser aber war ein Schüler von Paul Brill, sodaß also dessen Schule und Maximen sein eigentliches Fundament ausmachten und in ihm gewissermaßen zur Blüthe kamen; denn dasjenige, was bei diesen Meistern noch ernst und strenge erscheint, hat sich bei Claude[89] Lorrain zur heitersten Anmuth und lieblichsten Freiheit entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht hinaus.
Übrigens ist von einem so großen Talent, das in einer so bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum zu sagen, von wem es gelernt. Es sieht sich um und eignet sich an, wo es für seine Intentionen Nahrung findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule der Carracci ebenso viel wie seinen nächsten namhaften Meistern.
So sagt man gewöhnlich, Julius Roman war ein Schüler von Rafael, aber man könnte ebenso gut sagen, er war ein Schüler des Jahrhunderts. Nur Guido Reni hatte einen Schüler [Cantarini], der Geist, Gemüth und Kunst seines Meisters so in sich aufgenommen hatte, daß er fast dasselbige wurde und dasselbige machte, welches indeß ein eigener Fall war, der sich kaum wiederholt hat. Die Schule der Carracci dagegen war befreiender Art, sodaß durch sie jedes Talent in seiner angeborenen Richtung entwickelt wurde und Meister hervorgingen, von denen keiner dem andern gleich sah. Die Carracci waren zu Lehrern der Kunst wie geboren; sie fielen in eine Zeit, wo nach allen Seiten hin bereits das Beste gethan war und sie daher ihren Schülern das Musterhafteste aus allen Fächern überliefern konnten. Sie waren große Künstler, große Lehrer, aber ich könnte nicht sagen, daß sie eigentlich gewesen was man geistreich nennt. Es ist[90] ein wenig kühn, daß ich so sage, allein es will mir so vorkommen.«
Nachdem ich noch einige Landschaften von Claude Lorrain betrachtet, schlug ich ein Künstler-Lexikon auf, um zu sehen was über diesen großen Meister ausgesprochen. Wir fanden gedruckt: ›Sein Hauptverdienst bestand in der Palette.‹ Wir sahen uns an und lachten. »Da sehen Sie,« sagte Goethe, »wieviel man lernen kann, wenn man sich an Bücher hält und sich dasjenige aneignet, was geschrieben steht!«
1 Der... Nekrolog steht in der ›Allgemeinen Zeitung‹ 1830, Nr. 90-92.[91]
1202.*
1829, 14. April.
Als ich diesen Mittag hereintrat, saß Goethe mit Hofrath Meyer schon bei Tische, in Gesprächen über Italien und Gegenstände der Kunst. Goethe ließ einen Band Claude Lorrain vorlegen, worin Meyer uns diejenige Landschaft aussuchte und zeigte, von der die Zeitungen gemeldet, daß Peel sich das Original für 4000 Pfund angeeignet ..... Es war die Rede, wo das Original sich zeither befunden und in wessen Besitz Meyer es in Italien gesehen.
Das Gespräch lenkte sich sodann auf das neue Besitzthum des Königs von Bayern in Rom. »Ich kenne die Villa sehr gut,« sagte Meyer, »ich bin oft darin gewesen und gedenke der schönen Lage mit Vergnügen.[91] Es ist ein mäßiges Schloß, das der König nicht fehlen wird sich auszuschmücken und nach seinem Sinne höchst anmuthig zu machen. Zu meiner Zeit wohnte die Herzogin Amalie darin, und Herder in dem Nebengebäude; später bewohnte es der Herzog von Sussex und der Graf Münster. Fremde hohe Herrschaften haben es immer wegen der gesunden Lage und herrlichen Aussicht besonders geliebt.«
Ich fragte Hofrath Meyer, wie weit es von der Villa di Malta bis zum Vatican sei. »Von Trinità di Monte, in der Nähe der Villa,« sagte Meyer, »wo wir Künstler wohnten, ist es bis zum Vatican eine gute halbe Stunde. Wir machten täglich den Weg, und oft mehr als einmal.«
»Der Weg über die Brücke,« sagte ich, »scheint etwas um zu sein; ich dächte, man käme näher, wenn man sich über die Tiber setzen ließe und durch das Feld ginge.«
»Es ist nicht so,« sagte Meyer, »aber wir hatten auch diesen Glauben und ließen uns sehr oft übersetzen. Ich erinnere mich einer solchen Überfahrt, wo wir in einer schönen Nacht bei hellem Mondschein vom Vatican zurückkamen. Von Bekannten waren Bury, Hirt und Lips unter uns, und es hatte sich der gewöhnliche Streit entsponnen, wer größer sei, Rafael oder Michel Angelo. So bestiegen wir die Fähre. Als wir das andere Ufer erreicht hatten und der Streit noch in vollem Gange war, schlug ein lustiger Vogel,[92] ich glaube es war Bury, vor, das Wasser nicht eher zu verlassen, als bis der Streit völlig abgethan sei und die Parteien sich vereinigt hätten. Der Vorschlag wurde angenommen, der Fährmann mußte wieder abstoßen und zurückfahren. Aber nun wurde das Disputiren erst recht lebhaft, und wenn wir das Ufer erreicht hatten, mußten wir immer wieder zurück, denn der Streit war nicht entschieden. So fuhren wir stundenlang hinüber und herüber, wobei niemand sich besser stand als der Schiffer, dem sich die Bajocs bei jeder Überfahrt vermehrten. Er hatte einen zwölfjährigen Knaben bei sich, der ihm half und dem die Sache endlich gar zu wunderlich erscheinen mochte. ›Vater‹, sagte er, ›was haben denn die Männer, daß sie nicht ans Land wollen, und daß wir immer wieder zurück müssen, wenn wir sie ans Ufer gebracht?‹ ›Ich weiß nicht, mein Sohn,‹ antwortete der Schiffer, ›aber ich glaube, sie sind toll.‹ Endlich, um nicht die ganze Nacht hin- und herzufahren, vereinigte man sich nothdürftig, und wir gingen zu Lande.«
Wir freuten uns und lachten über diese anmuthige Anekdote von künstlerischer Verrücktheit. Hofrath Meyer war in der besten Laune, er fuhr fort uns von Rom zu erzählen, und Goethe und ich hatten Genuß, ihn zu hören.
»Der Streit über Rafael und Michel Angelo,« sagte Meyer, »war an der Ordnung und wurde täglich geführt, wo genugsame Künstler zusammen trafen,[93] sodaß von beiden Parteien sich einige anwesend fanden. In einer Osterie, wo man sehr billigen und guten Wein trank, pflegte er sich zu entspinnen; man berief sich auf Gemälde, auf einzelne Theile derselben, und wenn die Gegenpartei widerstritt und dies und jenes nicht zugeben wollte, entstand das Bedürfniß der unmittelbaren Anschauung der Bilder. Streitend verließ man die Osterie und ging raschen Schrittes zur Sixtinischen Capelle, wozu ein Schuster den Schlüssel hatte, der immer für vier Groschen aufschloß. Hier, vor den Bildern ging es nun an Demonstrationen, und wenn man lange genug gestritten, kehrte man in die Osterie zurück, um bei einer Flasche Wein sich zu versöhnen und alle Controversen zu vergessen. So ging es jeden Tag, und der Schuster an der Sixtinischen Capelle erhielt manche vier Groschen.«
Bei dieser heitern Gelegenheit erinnerte man sich eines andern Schusters, der auf einem antiken Marmorkopf gewöhnlich sein Leder geklopft. »Es war das Porträt eines römisches Kaisers,« sagte Meyer; »die Antike stand vor des Schusters Thür, und wir haben ihn sehr oft in dieser löblichen Beschäftigung gesehen, wenn wir vorbeigingen.«[94]
1203.*
1829, 15. April.
Wir sprachen über Leute, die, ohne eigentliches Talent, zur Productivität gerufen werden, und über andere, die über Dinge schreiben, die sie nicht verstehen.
»Das Verführerische für junge Leute,« sagte Goethe, »ist dieses. Wir leben in einer Zeit, wo so viele Cultur verbreitet ist, daß sie sich gleichsam der Atmosphäre mitgetheilt hat, worin ein junger Mensch athmet. Poetische und philosophische Gedanken leben und regen sich in ihm, mit der Lust seiner Umgebung hat er sie eingesogen, aber er denkt, sie wären sein Eigenthum, und so spricht er sie als das Seinige aus. Nachdem er aber der Zeit wiedergegeben hat, was er von ihr empfangen, ist er arm. Er gleicht einer Quelle, die von zugetragenem Wasser eine Weile gesprudelt hat, und die aufhört zu rieseln, sobald der erborgte Vorrath erschöpft ist.«[95]
1204.*
1829, April.
Als mein Vater im April 1829 mich [Max] als einen Göttinger Studenten auf einer Reise nach Berlin[95] mitnahm und in Weimar Goethe vorstellte, kam es zu folgendem Dreigespräch:
Goethe. Und was hat denn der junge Herr studirt?
Ich. Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich schwer bequemen.
Goethe. Ich will es Ihnen denn auch nicht übel nehmen. Man kann aber nebenher auch andere Liebhabereien verfolgen, wie ich deren mehrere habe.
Vater. War das eben nicht ein Anklang an den ›Faust‹? O! Sie müssen gestehen, daß Sie dem Teufel darin doch eine gar zu schöne Rolle zugetheilt haben.
Darauf Goethe mit merkwürdig ernstem Blick aus seinen unvergeßlich schönen braunen Augen: »Ja, es ist etwas von der Hölle darin!«
.... [Es] wurde bei dieser Begegnung ferner dann auch folgendes verabredet. Goethe versprach dem Freiherrn Hans v. Gagern sein Bildniß, und zwar ein wohlgetroffenes von einem geschickten Künstler [Schmeller], wohl das ähnlichste, das von ihm angefertigt sei; er verlangte dafür aber, daß Baron Gagern sich für ihn gleichfalls zeichnen lasse. Dabei gebrauchte er den Ausdruck: »ich habe einen geschickten Zeichner zur Hand, der diese Aufgabe zur Zufriedenheit lösen wird.« [Schmeller.][96]
1546.*
1829, April.
An einem Freitage im Monate April rückte ich bei schon beginnender Abenddämmerung in Weimar ein und schickte sogleich einen Lohnbedienten mit meiner zierlich geschriebenen Visitenkarte an Goethe ab und ließ um die Erlaubniß bitten, mich seiner Excellenz vorstellen zu dürfen. »Der Herr Minister läßt Sie bitten, morgen Vormittag um 11 Uhr zu ihm zu kommen« – lautete die Antwort.
Ganz erfüllt von Idealen und phantastischen Vorstellungen... ging ich dem, seit langen Jahren mit Ungeduld erwarteten Augenblicke, nicht ohne ein leises Zittern zu empfinden, entgegen.
– – – – – – – – – – – – – – – – – –
In straffer, fester Haltung, vollendet aufrecht stehend, in vornehmer fast gebietender Stellung stand er vor mir[386] da, der theure Dichtergreis, und über dem vollkräftigen Körper erhob sich das schöne Haupt mit der Fülle schneeweißer Haare, und die klaren klugen Augen sahen mich mit dem Ausdrucke des Wohlwollens und leiser Erwartung freundlich an. Ich hatte nicht daran gedacht, mir vorher einpaar Worte zurechtzulegen, mit denen ich Goethe beim Eintritt hätte begrüßen können, vielmehr hatte ich erwartet, zuerst von ihm angeredet zu werden; Goethe erwartete dagegen wieder seinerseits von mir das erste Wort der Begrüßung, wie dies ja auch eigentlich in jener Situation ganz natürlich war. Indem nun jeder von uns beiden auf die Anrede des andern wartete, entstand eine kurze, für mich etwas peinliche Pause; indessen faßte ich mich bald und brachte einige gesellschaftliche Redensarten, die allenfalls als eine einleitende Begrüßung gelten konnten, hervor. Goethe merkte meine Verlegenheit: er ließ mich nicht ausreden und lud mich freundlich ein, auf einem Sofa (welches ziemlich hart gepolstert war), platzzunehmen, worauf er sich zu mir setzte und eine ganz leichte zwanglose Unterhaltung begann.
Ich hatte auf der überschickten Visitenkarte meine damalige amtliche Stellung, ›Kammergerichts-Referendarius‹, angegeben; mit diesem Umstande mochte es zusammenhängen, wenn Goethe das Gespräch damit anfing, nach einigen juristischen Geschäften zu fragen und sich insbesondere Mittheilungen über die Einrichtung der Testamente von mir machen ließ .... Im weiteren[387] Verlaufe des Gesprächs kam Goethe auf die großen Verkehrsverhältnisse in Berlin zu sprechen und äußerte: wenn man die Berliner Zeitungen lese, müsse man über den großen Waarenumsatz erstaunen, der alltäglich in der Residenz stattfinde; er erinnerte dann an die bedeutende Anregung überhaupt, die man in einem großen Verkehrsleben empfange, und schloß dann mit den Worten: »Es ist ein Vortheil, einem großen Staate anzugehören.«
Nach einer kurzen Pause machte er, im Zimmer umherblickend, auf eine nahe stehende weibliche Büste aufmerksam, bezeichnete sie als die Büste der Sonntag und äußerte: »Rauch hat mir diese kleine Schönheit zum Geschenk gemacht.«
Im Sommer jenes Jahres 1829 fand bekanntlich die Vermählung bey Prinzen Wilhelm von Preußen... mit der Herzogin Auguste von Weimar statt, nachdem zwei Jahre zuvor die Vermählung des Prinzen Karl mit der älteren Herzogin erfolgt war. Mit Bezug auf die in Aussicht stehende Vermählung äußerte nun Goethe: »Nun wird sich auch unsere zweite Prinzessin in das Preußische Königshaus vermählen.« Er verbreitete sich nun über den hellen Verstand der verlobten Fürstin, ihre hohe Bildung, ihr reiches Wissen und beendigte seine Lobrede, indem er mit dem Ausdrucke herzlicher Befriedigung, insbesondere mit einem entsprechenden Kopfnicken sagte: »Ja, sie hat etwas gelernt; sie kann schon mitsprechen in der Welt.«
[388] Die Unterredung, nachdem sie gerade eine halbe Stunde gedauert hatte, ging nun zu Ende; ich stand auf, verneigte mich und ging.[389]
1570.*
1829, Anfang Mai.
Dem Canditaten der Theologie Wolff († als Rektor des St. Katharinenstifts in Stuttgart 1869), und dem Dr. med. Notter (bekannt als Danteübersetzer, † in Stuttgart 1884) hatte Hr. v. Cotta, der in Verhandlungen wegen des Zollvereins gleichzeitig mit jenen seinen jungen Landsleuten in Berlin weilte, versprochen, sie auf der Rückreise durch Weimar bei Goethe anzumelden. Die beiden Schwaben kamen dahin, Anfangs Mai 1829. Sie wurden von dem Greis freundlich empfangen mit den Worten: »Herr v. Cotta ist zwar hier gewesen, hat Sie jedoch nicht annoncirt, da ich aber aus Ihren Zeilen ersehe, daß Sie Landsleute meines großen Freundes Schillers sind, hab' ich das Vergnügen mir nicht versagen wollen, Sie bei mir zu sehen.« Damit wies er uns, erzählt Notter (Staatsanzeiger für Württemberg 1864 Nr. 235), nach einem kleinen, eben für zwei Personen Raum bietenden Divan hinter dem Tische, während er selbst Miene machte, sich auf einen gewöhnlichen Stuhl niederzulassen. Wir zauderten einen Augenblick, solche Bevorzugung anzunehmen, er aber sagte mit einem unendlich vertraulichen, jede Förmlichkeit mit einem Schlag abschneidenden Ton: »Nein, nein, das ist so meine Art«, und wir mußten gehorchen. Damit war de Charakter der ganzen, etwa 3/4 Stunde dauernden Unterredung gezeichnet. Das Gespräch dehnte sich auf die verschiedensten Gegenstände aus, nur wie dies in der Regel bei allen von dem Dichter vorgelassenen, ihm persönlich unbekannten Personen der Fall war, nicht auf die Poesie. Dabei ließ nichts das hohe Alter desselben ahnen, als ein fast nach jedem fünften oder sechsten Wort kommendes langgedehntes M-h-h, das jedoch deutlich mehr aus dem Mund als der Brust kam und eher angenommene Gewohnheit als irgendwie ein Zeichen von Erschöpfung oder sonstiger Beschwerde zu sein schien. Nachdem er sich erst theilnehmend nach Kielmeyer – dem Naturforscher, 1765 bis 1844 – und dessen Angehörigen in Stuttgart erkundigt, fragte er, wohin wir unsern Weg zunächst von Weimar aus nehmen würden, und empfahl uns auf unsere Erwiderung, daß wir zuvörderst den Thüringerwald zu durchstreifen gedächten,[279] besonders den Inselberg, sich umständlich in die geologischen Verhältnisse dieser Gegend einlassend; ehe wir jedoch abgingen, sollten wir einen Besuch auf dem Schloß Belvedere, wo eben die vom Großherzog mit besonderer Vorliebe gehegten Aurikeln im vollsten Flor ständen, nicht versäumen. Später kam das Gespräch auf das Weimarer Theater, das wir noch nicht besucht hatten. Goethe rieth uns sehr, hinzugehen, Fremde, dürften so was nicht unterlassen, indem er beifügte: »Ich selbst gehe ja nicht mehr hin.« Endlich sagte er: »Sie kommen aus Berlin. Erzählen Sie mir etwas davon. Worüber spricht man jetzt dort?« Ich erwiderte, nachdem ich des eben im Bau begriffenen Museums der bildenden Künste und sonstiger neuen Unternehmungen gedacht, sehr häufig bilde der in Aussicht stehende, auch von Hrn. v. Cotta betriebene Anschluß Preußens an den süddeutschen Zollverein den Gegenstand der öffentlichen Unterhaltung. Hier gab nun Goethe die Antwort, die mich in seinem Munde, nachdem er von vielen Seiten als gleichgültig, ja kalt gegen Deutschland geschildert worden, überraschte und um deren Willen dieser ganze Aufsatz geschrieben worden. Er fragte erst theilnehmend, ob wohl Hoffnung für das Zustandekommen des Anschlusses da sei, und auf meine Erwiderung, nach dem, was ich gehört, glaube ich die Frage bejahen zu dürfen, entgegnete er mit freudigem, tief aus der Brust geholtem Tone: »Also doch Ein Band mehr zur Einigung Deutschlands!«
(Mitgetheilt von Prof. Dr. J. Hartmann in Stuttgart.)
1205.*
1829, 17. Mai.
Am 17. Mai 1829, Sonntags, war ich von 4-6 Uhr bei ihm, meist mit Coudray. Goethe war sehr mittheilend und ruhig heiter.
»Die Menge, die Majorität, ist nothwendig immer absurd und verkehrt; denn sie ist bequem, und das Falsche ist stets viel bequemer als die Wahrheit. Letztere will ernst erforscht und rücksichtslos angeschaut und angewendet sein. Das Falsche aber schmiegt sich an jede träge, bequeme oder thörichte Individualität an, ist wie ein Firniß, mit dem man leicht alles übertüncht.«
Er sprach vom Aufgeben seines Journals ›Kunst und Alterthum.‹ »Wenn man in und für die Zeit schreibt, ist es gar zu unangenehm, zu finden, daß man nichts auf sie wirkt. Ja wenn man Schiller's und meinen Briefwechsel liest, da findet man wohl, daß diese Kerls es sich ganz anders sauer werden, ganz höllisch ernst sein ließen. Und man wundert sich, daß sie sich so viele Mühe geben mochten; die albernen Burschen dachten nach, suchten sich Alles klar zu machen, Theorien von dem, was sie geschaffen hatten, zu ergrübeln; hätten es sich leichter machen können und lieber was Frisches schaffen.«
Wir besahen viele Köpfe und Lithographien, besonders[97] die sehr schöne aus München, Helena Forment von Rubens, lithographirt von Flachenecker. Oppenheim's häßliche Susanne ward sehr durchgehechelt. Sodann ward die Gartenkammer mit den Rauch'schen Basreliefs der Blücher-Statue durchforscht.
Als wir auf Cotta und seine ewigen Zögerungen bei der Herausgabe der Goethe'schen Werke kamen, brach er heftig aus: »Die Buchhändler sind alle des Teufels, für sie muß es eine eigene Hölle geben.«[98]
1206.*
1829, 21. Mai.
Als ich im Parkgarten von Sternberg's Kommen sprach, antwortete er: »ich hoffe er kommt nicht. Ich kann es niemand verargen, der sich nicht aus der Stelle bewegen mag und höchstens der Gefahr aussetzt, Besuch zu bekommen. Rochlitz wird ja nun wohl auch sich besinnen zu antworten, etwa ein zehnjähriges Schweigen wird ihm wohl ziemen.« – Als ich sagte: Sternberg werde nun wohl wieder frisch auf sein, bemerkte Goethe: »Unser Kanzler ist ein vortrefflicher Mann, aber er liebt immer die Improprietät der Ausdrücke. Wie soll ein Achtundsiebzigjähriger frisch sein?«[98]
1207.*
1829, 23. Juni.
Welche köstliche Stunden (wahrlich! sie sind die schönsten meines Lebens) habe ich nun nicht zu schildern! Das geht nicht auf einem Blatte; aber anzuzeigen und damit zu veranlassen, daß Du [Frau Rochlitz] darnach fragst, wenn Dir wirklich daran gelegen. Ich wurde erwartet, eingeführt, und der erste Augenblick machte mich über Goethes jetzt wieder erneutes, vollkräftiges Herbstnachblühen erstaunen; im zweiten hatte er mich schon an seine Brust gezogen, wo er mich schweigend festhielt, wie ich schweigend an seinem großen edlen Herzen ruhte, bis er mit seiner noch so kräftigen Stimme ausrief: »Willkommen! Willkommen!« Wir setzten uns; sein erstes Wort war die Frage nach Dir. Nach einer Weile beganner: »Ich meine, wir lassen uns noch frischer aus im Grünen und zu Zweien harsch aneinander. Der Wagen steht bereit. Hab' ich's recht gemacht?« Wir fuhren fast volle zwei Stunden, erst im Park, dann der untergehenden Sonne zu. Unser Gespräch berührte nicht wenige der wichtigsten Angelegenheiten des innern Menschen, ein jeder von seinem Gesichtspunkte aus, ein jeder den des andern ehrend, aber den seinigen festhaltend. Lebenslang vergesse ich dieses Gespräch nicht.
Bei ihm zurückgekommen, wollte ich mich entfernen;[99] er ließ mich nicht. Das Gespräch wendete – erst im Garten, dann auf dem Zimmer – sich (daß ich so sage) irdischer, besonders auf Schiller und dessen innern Lebensgang. Wie liebenswürdig begeistert sprach der große Mann von dem großen Rival! – Dann zeigte er mir köstliche Kunstgeschenke vom König Ludwig von Bayern, und wir ergossen uns darüber. Da ich von neuem zu gehen ansetzte, ließ er seinen Sohn rufen, und wir drei gingen in ein anderes Zimmer zum Abendtisch. Hier wurden wir jugendfröhlich, indem ich von Wien, er von Neapel auskramte. So ward's spät; endlich mußte ich fort. Der Sohn mußte seinen Hut holen, mich zu begleiten, »und bis an's Bett!« sagte der Vater. Zuvor hatte er mich aber noch gedrängt, anzugeben, wen ich morgen Mittag.. an seiner Tafel sehen wollte: wir blieben bei v. Müller, Meyer (den er erst, wie ich nicht wußte, von Belvedere herbeiholen muß), Riemer und Eckermann .....
Zum Schluß... einige spaßhafte Anekdötchen, die des Aufbewahrens nicht unwerth sind. Du hast ohne Zweifel schon oft gehört von Goethes, unter Deutschen höchst seltener Gabe, durch überraschende, geistvoll pikante Schlagworte ein heiteres Gespräch noch mehr zu erheitern. Als wir nach jener Fahrt in seinem Gärtchen am Hause auf und ab gingen, fiel mir ein wunderliches Beet auf: im länglichen Viereck, ohngefähr so groß wie eine unserer ehemaligen Stuben, war es mit nichts bepflanzt – und auf's Allerdichteste, sodaß zur[100] Blüthezeit die Kronen ineinander greifen müssen – mit nichts, sag' ich, als mit weißen Lilien. »Ja,« sagte er, »das war auch so ein Einfall! etwas was mir vor einem halben Jahrhundert in anderer Gestalt nur allzuwohl gefallen hatte: eine wilde Unschuld.« – Als er von der übrigen Königin von Neapel, Caroline, Schwester Antoinettens von Frankreich etwas erzählen wollte, begann er: »Sie war in anderen Umständen, als das Land, in gesegneten nämlich.«[101]
1208.*
1829, 24. Juni.
Gestern Mittag, wie schon gemeldet, war bei Goethe zu meiner Ehre ein »Freundschaftstisch« und niemand gegenwärtig als die schon Genannten, nicht einmal der Sohn. Um 2 Uhr wird gegessen, aber nach Verabredung sandte Goethe schon um 12 Uhr seinen Wagen (er läßt mich hier nicht auf den Boden kommen; ich mag wollen oder nicht, so muß ich mich seines Wagens bedienen), damit wir zwei zuvor ganz allein uns beschäftigen könnten. Das geschah nun mit Kunstgegenständen und Gesprächen darüber.
Über Tisch kreiste das Gespräch nur um bedeutende, ja die bedeutendsten, aber weltliche Dinge. »Nur keine Politik, ich bitt' Euch!« rief Goethe, als es sich dahin lenken wollte, und wir folgten ihm gern. Der treffliche[101] alte Meyer gab mir die unerwartetsten Beweise treuer Anhänglichkeit .....
Nach Tisch wurden meine mitgebrachten Zeichnungen vor- und durchgenommen, und das mit großer Freude und unter wahrhaft lehrreichen Gesprächen. Was haben diese beiden alten Herren für Augen! Und wie treffen sie bei ihrer ungeheuern Geübtheit überall sogleich den rechten Fleck, den unsereiner erst nach manchem Prüfen und Erwägen herausfindet!
Indessen war auch Müller aus der Loge herzugekommen. Goethe wollte mit mir und ihm nach Belvedere fahren, da es aber (gegen 7 Uhr) fortgehen sollte, sagte er freundlichst: »Fahret hin, aber laßt mich hier! Der Achtzigjährige hat heute genug.« Und so ließen wir ihn.
Von morgen (Freitag) weiß ich nur noch, daß Goethe mir eine »Ehrentafel« halten will, was er sehr selten thut.[102]
1209.*
1829, 25. Juni.
Der Tag war köstlich, Vater Goethe ganz besonders traulich gegen mich, z.B. über sein Jugendleben im Zusammenhange (dem innern, geistigen) mit dem spätern, was nun zu sehr ernsten Betrachtungen über den Zusammenhang menschlichen Lebens überhaupt Anlaß[102] gab, und wo wir beide, zwar von den verschiedensten Ansichten ausgehen, doch endlich in einem, dem großen Mittelpunkte alles Lebens und Wirkens freudig und hoffnungsvoll zusammentrafen.[103]
1210.*
1829, 6. Juli.
»Ich las in Delavigne's ›Marino Falieri‹ und bewunderte, wie er sich von seinem Vorbilde, der Tragödie Byron's so völlig losgemacht und das Ganze aus dem innern Anschaun in ein äußeres Theaterschauen verwandelt habe.«[103]
1211.*
1829, 2. August.
Voigt and I left Jena before seven, and in three hours were at Weimar. Having left our cards at Goethe's dwelling-house, we proceeded to the gardenhouse in the park, and were at once admitted to the great man, I was aware, by the present of medals from him, that I was not forgotten, and I had heard from Hall and others that I was expected. Yet I was oppressed by the kindness of his reception. We found the old man in his cottage in the[103] park, to which he retires for solitude from his town house, where are his son, his daughter-in-law, and three grandchildren ..... Twenty-seven years ago ..... he never honoured me with a look after the first haughty bow; now he was all courtesy. »Well, you are come at last,« he said, »we have waited years for you. How is my old friend Knebel? You have given him youth again; I have no doubt.« In his room .... hung two large engravings: one, the well-known panoramic view of Rome; the other, the old square engraving, an imaginary restoration of the ancient public buildings ..... He spoke of the old engraving as what delighted him, as showing what the scholars thought in the fifteenth century. The opinion of scholars is now changed. In like manner he thought favourably of the panoramic view, though it is incorrect, including objects which cannot be seen from the same spot.
I had a second chat with him late in the evening. We talked much of Lord Byron, and the subject was renewed afterwards. To refer to detached subjects of conversation, I ascertained that he was unacquainted with Burns's »Vision«. This is most remarkable, on account of its close resemblance to the Zueignung (dedication) to his own works, because the whole logic of the two poems is the same. Each poet confesses his infirmities; each is consoled by the Muse – the hollyleaf of the[104] Scotch poet being the ›veil of dew and sunbeams‹ of the German. I pointed out this resemblance to Frau von Goethe, and she acknowledged it.
This evening I gave Goethe an account of de Lamennais, and quoted from him a passage importing that all truth comes from God, and is made known to us by the Church. He held at the moment a flower in his hand, and a beautiful butterfly was in the room. He exclaimed: »No doubt all truth comes from God; but the Church! There's the point. God speaks to us through this flower and that butterfly; and that's a language these Spitzbuben don't understand.« – Something led him to speak of Ossian with contempt. I remarked: »The taste for Ossian is to be ascribed to you in a great measure. It was Werter that set the fashion.« He smiled and said: »That's partly true; but it was never perceived by the critics that Werter praised Homer while he retained his senses, and Ossian when he was going mad. But reviewers do not notice such things.« I reminded Goethe that Napoleon loved Ossian »It was the contrast with his own nature,« Goethe replied. »He loved soft and melancholy music. ›Werter‹ was among his books at St. Helena.«
We spoke of the emancipation of the Catholics. Goethe said: »My daughter will be glad to talk about it; I take no interest in such matters.« On[105] leaving him the first evening, he kissed me three times .... Voigt never saw him do so much to any other. He pressed me to spend some days at Weimar on my return.[106]
1212.*
1829, erste Hälfte August.
Es war im August des Jahres 1829. Er kam mit drei Fremden, welche er mir, [Sckell] als ich herbeigeeilt war, freundlich die Hand bietend, mit den Worten vorstellte: »Ich komme hier mit diesen drei Herren, welche aus Berlin sind.« Die Namen derselben, welche mir Goethe nannte, sind mir entfallen. Darauf wandte er sich mit den Worten an die Fremden: »Sehen Sie, meine Herren! dies ist der freundliche junge Mann, von welchem ich Ihnen sagte, daß er mich so gut verpflegt und mir so wohl gefallen habe.« Da er wünschte, mit seinen Gästen bei mir zu speisen, so hatte ich dafür zu sorgen, daß am Mittage die Küche möglichst gut bestellt sei. Er übernahm es daher selbst, die Fremden im Garten herumzuführen. Das Mahl, in dem alten Zimmer Goethes servirt, behagte nach ihrer Aussage allen. Als sie gegen 4 Uhr abreisten, dankte Goethe wiederholt auf's Verbindlichste, beschenkte mich von neuem reichlich und wiederholte seine Einladung, ihn, wenn ich einmal nach Weimar komme, doch ja zu besuchen.[106]
1213.*
1829, 13. bis 19. August.
I was there [in Weimar] from the 13th of August till the 19th.
I cannot pretend to set down our conversations in the order in which they occurred. On my return from Jena, I was more aware than before that Goethe was grown old; perhaps because he did not exert himself so much. His expression of feeling was, however, constantly tender and kind. He was alive to his reputation in England, and apparently mortified at the poor account I gave of Lord Leveson Gower's translation of ›Faust‹, though I did not choose to tell him that his noble translator, as an apology, said he did it as an exercise while learning the language. On my mentioning that Lord Leveson Grower had not ventured to translate the ›Prologue in Heaven‹ he seemed surprised. »How so? that is quite unobjectionable. The idea is in Job.« He did not perceive that that was the aggravation, not the excuse. He was surprised, when I told him, that the ›Sorrows of Werter‹ was a mistranslation – sorrow being Kummer – Leiden is sufferings.
I spoke with especial admiration of his ›Carnival at Rome‹. »I shall be there next winter, and shall be glad if the thing gives me half the pleasure[107] I had in reading the description.« – »Ay, mein Lieber, but it wont do that! To let you into a secret, nothing can be more wearisome (ennuyant) than that Carnival. I wrote that account really to relieve myself. My lodgings were in the Corso. I stood on the balcony, and jotted down everything I saw. There is not a single item invented.« And then, smiling, he said: »We poets are much more matter-of-fact people than they who are not poets have any idea of, and it was the truth and realty which made such writing so popular.« .... Speaking this evening of the travels in Switzerland, he said that he still possessed all that he has in print called his, ›Actenstücke‹ (documents); that is tavernbills, accounts, advertisements &c. And he repeated his remark, that it is by the laborious collection of facts that even a poetical view of nature is to be corrected and authenticated. I mentioned Marlowe's ›Faust‹. He burst out into an exclamation of praise. »How greatly is it all planned!« He had thought of translating it. He was fully aware that Shakespeare did not stand alone.
This, and indeed every evening, I believe, Lord Byron was the subject of his praise. He said: »Es sind keine Flickwörter im Gedichte.« (There is no padding in his poetry.) And he compared the brilliancy and clearness of his style to a metal wire drawn trough to a steal plate. In the complete[108] edition of Byrons works, including the ›Life‹ by Moore, there is a statement of the connection between Goethe and Byron. At the time of my interviews with Goethe, Byron's ›Life‹ was actually in preparation. Goethe was by no means indifferent to the account which was to be given to the world of his own relations to the English poet, and was desirous of contributing all in his power to its completeness. For that purpose he put into my hands the lithographic dedication of ›Sardanapalus‹ to himself, and all the original papers which had passed between them. He permitted me to take these to my hotel, and to do with them what I pleased; in other words, I was to copy them, and add such recollections as I was able to supply of Goethe's remarks on Byron. These filled a very closely-written folio letter, which I despatched to England; but Moore afterwards assured me that he had never received it.
One or two of the following remarks will be found as significant as anything Goethe has written of Byron. It was a satisfaction to me to find that Goethe preferred to all the other serious poems of Byron, the ›Heaven and Earth‹, though it seemed almost satire when he exclaimed, »A bishop might have written it!« He added, »Byron should have lived to execute his vocation.« – »And that was?« I asked. »To dramatize the Old Testament. What[109] a subject under his hands would the Tower of Babel have been!« He continued: »You must not take it ill; but Byron was indebted for the profound views he took of the Bible to the ennui he suffered from it at school.« Goethe, it will be remembered, in one of his ironical epigrams, derives his poetry from ennui (Langeweile); he greets her as the Mother of the Muses. It was with reference to the poems of the Old Testament that Goethe praised the views which Byron took of Nature; they were equally profound and poetical. »He had not,« Goethe said, ›like me, devoted a long life to the study of Nature, and yet in all his works I found by two or three passages I could have wished to alter.‹
I had the courage to confess my inability to relish the serious poems of Byron, and to intimate my dissatisfaction with the comparison generally made between Manfred and Faust. I remarked: »Faust had nothing left but to sell his soul to the devil when he had exhausted all the resources of science in vain; but Manfred's was a poor reason – his passion for Astarte.« He smiled, and said, »That is true.« But then he fell back on the indomitable spirit of Manfred. Even at the last he was not conquered. Power in all its forms Goethe had respect for. This he had in common with Carlyle. And the impudence of Byron's satire he felt and enjoyed. I pointed out ›The Deformed[110] Transformed‹ as being really an imitation of ›Faust‹, and was pleased to find that Goethe especially praised this piece. I read to him the ›Vision of Judgment‹, explaining the obscurer allusions. He enjoyed it as a child might, but his criticisons scarcely went beyond the exclamations – »Too bad!« »Heavenly!« »Unsurpassable!« He praised, however, especially the speeches of Wilkes and Junius, and the concealment of the countenance of the latter. »Byron has surpassed himself.« Goethe praised Stanza IX for its clear description. He repeated Stanza X, and emphatically the last two lines, recollecting that he was himself eighty years of age. Stanza XXIV he declared to be sublime:
But bringing up the rear of this bright host,
A spirit of a different aspect waved
His wings, like thunder-clouds above some coast
Whose barren beach with frequent wrecks is paved;
His brow was like the deep when tempest-tossed;
Fierce and unfathomable thoughts engraved
Eternal wrath on his immortal face,
And where he gazed a gloom pervaded space.
Goethe concurred in my suggested praise of Stan zas Xlll, XIV, XV. Indeed Goethe was in this like Coleridge, that he was by no means addicted to contradiction. This encourages those who might not otherwise venture on obtruding a sentiment. He did not reject the preference I expressed for[111] Byron's satirical poems, nor my suggestion that to ›Don Juan‹ a motto might have been taken from Mephistopheles' speech aside to the student who asked his opinion of medicine:
Ich bin des trockenen Zeugs doch satt,
Ich will den ächten Teufel spielen.
Byron's verses on George IV, he said, where the sublime of hatred. I took an opportunity to mention Milton, and found Goethe unacquainted with ›Samson Agonistes‹. I read to him the first part, to the end of the scene with Delilah. He fully conceived the spirit of it, though he did not praise Milton with the warmth with which he eulogized Byron, of whom he said that the like would never come again; he was inimitable. Ariosto was not so daring as Byron in the ›Vision of Judgement‹.
Goethe said Samson's confession of his guilt was in a better spirit than anything in Byron. »There is fine logic in all the speeches.« On my reading Delilah's vindication of herself, he exclaimed: »That is capital; he has put her in the right.« To one of Samson's speeches he cried out, »Oh, the parson!« He thanked me for making him acquainted with this poem, and said, »It gives me a higher opinion of Milton than I had before. lt lets me more into the nature of his mind than any other of his works.«
I read to him Coleridges »Fire, Famine, and[112] Slaughter;« his praise was faint. I inquired whether he knew the name of Lamb. »Oh, yes! – Did he not write a pretty sonnet on his own name?« ....
I informed Goethe of my possession of Wieland's bust by Schadow. He said: »It is like a lost child found. The Duchess Amelia sent for Schadow to do it, and when done, gave it to Wieland. He died when the French were here, and we were all away.[?] Wieland's goods were sold by auction, and we heard that the bust was bought by an Englishman. Vestigia nulla retrorsum!« I related to him how I had bought it at the recommandation of Flaxman, who deemed it ›a perfect work.‹ Goethe then said: »You must be sensible that it ought to be here. A time will come when you can no longer enjoy it. Take care that it comes here hereafter. This I promised. And I have in my will given it to the Grand Duke, in trust, for the public library at Weimar. Goethe expressed to me his pleasure that I had retained so lively a recollection of Weimar at its ›schöne Zeit‹, when Schiller, Herder and Wieland all lived. I remember no other mention of Herder, nor did I expect it. Goethe spoke of Wieland as a man of genius, and of Schiller with great regard. He said that Schiller's rendering of the witch-scenes in ›Macbeth‹ was ›detestable‹. But it was his way; you must let every man have his own character.«
This was a tolerance characteristic of Goethe.[113]
I have already mentioned Goethe's fondness for keeping portrait memorials, and can only consider it as an extreme instance of this that I was desired to go to one Schmeller to have my portrait taken – a head in crayons, frightfully ugly, and very like. The artist told me that he had within a few years done for Goethe more than threehundred. It is the kind of Andenken he preferred. They are all done in the same style – full face .....
In this way I spent five evenings with Goethe. When he took leave of me, it was very kindly, and he requested me to write every three or four months, when I came to an interresting place ..... I saw much of his daughter-in-law; he is said to have called her »Ein verrückter Engel« (a crazy angel), and the epithet is felicitous.[114]
1547.*
1829, um Mitte August und später.
Stackelberg war auf das Freudigste überrascht durch die achtungsvolle Freundlichkeit, mit der Goethe ihm entgegenkam. Fünf Tage verweilte er in Weimar als täglicher Gast und Tischgenosse des großen Dichters. Jeden Morgen trat er schon um 10 Uhr in Goethes Studirstube, blieb bei ihm zum Frühstück, Mittag- und Abendessen, und jeden Abend, wenn er Abschied nahm, hörte er immer wieder das ermunternde Wort: »Nicht wahr, Sie bleiben noch?«
Goethe ließ sich viel von Stackelberg erzählen, auch einige antike Fragmente erklären, besprach mit ihm Entstehung und Ausführung des Phigalischen Frieses, den er »ein Wunder von Herrlichkeit« nannte. Zeichnungen, Kupferstiche und Antikensammlung wurden angeschaut, über Creuzer's neueste Ansichten der Mythologie discutirt. Zu Stackelberg's großem Leidwesen ward dieses Gespräch über sein Lieblingsthema durch den Kanzler Müller unterbrochen und später nicht wieder aufgenommen. Goethe lehrte ihn auch das Herz seiner Schwiegertochter gewinnen, die mit gleicher Begeisterung[389] für die Britten wie für die Griechen schwärmte, und der er viel und genau von Griechenland und seiner Bekanntschaft mit Lord Byron berichten mußte. – Stackelberg zu ehren, wurde jeden Tag ein Fräulein v. Gersdorfs zu Tische geladen ›die hübscheste junge Dame aus Weimar, sanft und jungfräulich, von hoher schlanker Gestalt und einem Paar der schönsten Augen.‹ Mit Goethe allein oder in Gesellschaft der liebenswürdigen Schwiegertochter wurde nach Belvedere hinausgefahren, wurden Schlösser und Gärten besucht, belebte Stunden am Hofe der vortrefflichen alten Großherzogin1 verbracht und im Gartenhause an der Ilm unter den Bäumen gewandelt, die Goethe selbst gepflanzt hatte. In dieser Zeit verbrachte der Dichter seine Tage zum größten Theile in dem kleinen Landhause am Parke, dort erschien er Stackelberg wie Rousseau, abgeschieden von der Welt, nur sich selbst lebend, durch Journale und Zeitungen aus allen Gegenden dem Laufe der Begebenheiten, der Entwicklung des Geistes zusehend. Im Frühjahre pflanzte Goethe mit eigener Hand die Malven in seinem kleinen Garten, die, wie er sagte, in ihren bunten Röcken, an hohen Stöcken hinaufgezogen, Schildwacht hielten bei seinen Spaziergängen. ›So schlicht und einfach ist Goethe in seinen Reden,‹ schreibt Stackelberg an Kestner, ›so ungekünstelt und ungewählt sind seine Worte, und[390] immer treffend. Er hat die Natursprache in seinem Besitze. Es war eine Lust, ihn mit Kindern, die immer ab und zu bei ihm vorkamen, sprechen zu hören; denn er hat eine rührende Art sich mit ihnen zu unterhalten, spricht dann in ihrem Sinne, darum sie auch an ihm hängen und ganz mit ihm vertraut sind. Ich möchte nicht aufhören, von ihm zu reden, so hat er mich bezaubert. Ich war froh, wenn ich allein sein und über ihn nachdenken konnte. Den festen, ernsten Charakterausdruck abgerechnet, ist Goethes Gesicht nicht mehr schön zu nennen: die Nase ist sehr stark, die äußeren Augenwinkel haben sich gesenkt, die Augensterne sind kleiner geworden, weil sich durch eine staarartige Vorbildung ein weißer Rand umher ergossen hat. Noch ging er ungestützt und ohne den Arm eines Begleiters anzunehmen die Treppe hinab.‹...
Beim Abschied wechselten sie Gastgeschenke: Goethe gab ihm vier Medaillen mit seinem Bildniß und die Zeichnung einiger antiken Fragmente. Stackelberg verehrte ihm seine schöne Zeichnung von Taormina und ein Blatt aus den Trachten. (Nr. 24.) »Sie haben erreicht, wonach ich strebte,« sagte Goethe bei ihrem Anblick.
Schmerzlich empfand Stackelberg den Abschied von dem großen Manne, dessen Geist und Liebenswürdigkeit ihn tief ergriffen hatten. Auch Goethe bedauerte sein Fortziehen. ›Als er bald darauf Frau v. Savigny, seine langjährige Freundin, bei sich zu Tische sah,‹[391] schreibt Bardeleben, ›und der herrliche Greis ungewöhnlich mittheilend war, erwähnte er zum öfteren des Baron Otto Magnus v. Stackelberg und war ganz komisch böse, daß er nicht länger bei ihm verweilt hatte.‹
1 Die regierende Großherzogin Marie war nicht anwesend.[392]
1214.*
1829, 19. (?) August.
[David war nach Weimar gereist um Goethes Bildniß plastisch aufzunehmen, dort hatte er sich bei Goethe unter Übersendung von Empfehlungsschreiben anmelden lassen.]
En effet, l'honnête messager reparut le jour suivant à l'heure dite et informa le maître, que son Excellence, après quelques hésitations, avait cédé devant les lettres d'Ampère et de Cousin. Goethe attendait David.
[114] La présentation ne fut pas longue. David offrit au poête les medaillons de Cousin, de Victor Hugo et de Delacroix. Goethe parut prendre intérêt à l'examen de ces profils, puis il laissa échapper un petit gloussement qui lui était propre et sur la signification duquel il n'y avait point à se méprendre. Aussitôt, le poête engagea le dialogue en questionnant le maître sur les écrivains et les artistes français, et tout en parlant, Goethe faisait les honneurs de sa maison.
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A peine avaient-ils échangé quelques pensées, que déja Goethe et David s'étaient compris. La mise sévère du sculpteur, l'aisance de sa tenue, son grand oeil bleu, sa parole simple, ses aperçus élevés, une jeunesse d'âme qui lui donnait d'être promptement ému, tout en lui devait plaire à l'auteur de ›Faust‹. Ce fut Goethe qui fixa de lui même le jour et l'heure de la première séance. Le mouleur apporta la terre et l'armature, et le buste fut commencé.[115]
1215.*
1829, 19. August.
Gestern, genau zu Mittag, hielt ein eleganter Wagen der Frau Ottilie [v. Goethe] vor unserem Hôtel, und eine Viertelstunde später stiegen wir aus demselben bei[115] der Gartenpforte des Landhauses Goethes aus, wo uns schon ein alter Diener Goethes erwartete, der uns durch den Garten führte, die Thüre des Salons öffnete, uns einließ und fortging ..... Wir warteten, halblaut sprechend, beinahe eine Viertelstunde. Adam fragte, ob mir das Herz poche. In der That war das eine Erwartung, wie die irgend einer übernatürlichen Erscheinung. Er selber erinnerte daran, wie er vordem die Frau S[zymanowska] darum beneidet hatte, daß sie Goethe gesehen und mit ihm gesprochen. Da hörten wir oben Schritte. Adam citirte mit Nachdruck den Vers aus Zgierski's ›Kiszka‹: Man hört ein Gehen und ein hohes Schreiten – und kaum, daß wir dieses, im Augenblicke passendsten Citates uns erkühnten, öffnete sich die Thüre, und herein trat – Jupiter! Mir wurde heiß. Und ohne Übertreibung: es ist etwas Jupiterhaftes in ihm. Der Wuchs hoch, die Gestalt kolossal, das Antlitz würdig, imponirend, und die Stirne – gerade dort ist die Jupiterhaftigkeit. Ohne Diadem strahlt sie von Majestät. Das Haar, noch wenig weiß, ist nur über der Stirne etwas grauer. Die Augenbrauen klar, lebhaft, zeichnen sich noch durch eine Eigenthümlichkeit aus, nämlich durch eine lichtgraue, wie emaillirte Linie, welche die Iris beider Augen am äußeren Rande rings umfaßt. Adam verglich sie dem Saturnusringe; wir sahen bisher bei niemand etwas Ähnliches. Er trug einen dunkelbraunen, von oben bis herab zugeknüpften Überrock; auf dem Halse ein[116] weißes Tuch, das durch eine goldene Nadel kreuzweise zusammengehalten wurde; keinen Kragen. Wie ein Sonnenstrahl aus Gewölke verklärte ein wunderbar liebliches, wohlwollendes Lächeln die Strenge dieser Physiognomie, als er schon beim Eintritte uns mit Verbeugung und Händedruck begrüßte und dazu sprach: »Pardon Messieurs que je vous ai fait attendre. Il m'est très agréable de voir les amis de Mme. Szymanowska qui m'honore aussi de son amitié.« Du [Korsak] mußt nämlich wissen, daß Goethe ein großer Verehrer der Frau S. war und über sie sprechend äußerte: »Elle est charmante comme elle est belle, et gracieuse comme elle est charmante.« Sodann, als wir uns gesetzt hatten, wandte er sich zu Adam und versicherte ihm: er wisse, daß er an der Spitze der neuen Richtung stehe, welcher sich die Literatur bei uns wie in ganz Europa zukehre. »Ich weiß es aus eigener Erfahrung,« fügte er hinzu, »was das für eine schwere Sache ist, gegen den Strom zu schwimmen.« »Auch wir wissen es,« antwortete Adam, »nach den Erfahrungen Ew. Excellenz, wie große Genien beim Übergange durch sie die Strömung sich nach umlenken.« Goethe nickte einwenig dazu, wie zum Zeichen, daß er das Compliment fühle, und weitersprechend beklagte er, daß er nur wenig von der polnischen Literatur kenne und keine slawische Sprache verstehe. »Mais l'homme a tant à faire dans cette vie.« Er fügte aber hinzu, daß er Adam schon aus[117] den Journalen kenne, sowie auch Fragmente aus seiner neuen Dichtung (›Wallenrod‹), welche ihm Frau S. freundlichst in einer deutschen Übersetzung (von Fräulein Caroline Janisch, einer Freundin Adam's in Moskau) zugesendet, oder welche er später in den Leipziger Jahrbüchern [?] gelesen hatte. Dorther wisse er auch, wie er, sich zu mir wendend, versicherte, von dem von mir herausgegebenen Almanach (Melitela), welcher Productionen aller jetzt lebenden polnischen Dichter enthält, habe auch dort die Übersetzung meiner Dichtung »Die Gefangene des Litauers« gelesen, und lobte die Lebendigkeit der Handlung und des Stiles »autant que je puis en juger par la traduction.« Ich erröthete mächtig, ob aus Beschei denheit oder Freude weiß ich nicht, gewiß aber aus mächtiger Erregung. Adam warf inzwischen einige Worte über meine Übersetzungen aus Bürger hin. Im Blicke Goethes, welchem meine erhobenen Augen begegneten, glaubte ich den Ausdruck wohlwollender Güte zu sehen. Als ihm dann Adam auf sein Verlangen den ganzen Gang der polnischen Literatur wunderbar concis und klar vorführte, und zwar von der ältesten bis zu der neuesten Zeit, wobei er denselben mit den historischen Epochen zusammenhielt und verglich, war in den auf ihn unverwandt gerichteten Augen Goethes nicht bloß eine tiefe Würdigung, sondern auch ein lebhaftes Interesse an dem Erzählten zu gewahren. Die Fingerbewegung seiner auf das Knie gestützten Hand schien[118] dasselbe zu bezeugen. Nota bene: ich vergaß zu sagen, daß Goethe im Beginne dieses Gesprächs sich des Deutschen bediente; kaum hatte ihm aber Adam, und zwar auch deutsch gesagt, daß er zwar des Deutschen immerhin mächtig sei, aber es nicht wage, sich dessen in seiner Gegenwart zu bedienen, so kehrte er gleich zu dem Französischen zurück. Im weiteren Laufe des Gespräches behauptete Goethe, daß bei dem immer schärfer hervortretenden Streben nach allgemeiner Wahrheit auch die Poesie und überhaupt die Literatur einen immer allgemeineren Character annehmen müsse, gestand aber Adam zu, daß sie nie besondere nationale Züge verlieren würde. Von da ging das Gespräch auf die Volkslieder über, und mit lebendigem Interesse fragte Goethe und hörte zu, was Adam und zumtheil auch ich ihm über die Verschiedenheit im Character und den Tonweisen unserer provinciellen Gesänge erzählte, und wiederholte das alles später selber beim Mittagessen für die andern. Damit endigte unser literarisches Gespräch.
Dann sich zuerst zu Adam, dann zu mir wendend, fragte er um unsere weiteren Reiseprojecte, indem er sich gefühlvoll Italiens und Roms erinnerte, wobei er uns, wie er sagte, darum beneidete, daß wir dorthin gingen, woher er einst in seiner Jugend die liebsten Erinnerungen zurückgebracht habe. Weiter sprach er mit Adam über seine Bekannten in Berlin, die jener auf der Durchreise kennen gelernt hatte, und zwar besonders[119] über Professor Gans; dann kehrte er wieder zu Frau S. zurück und that einiger anderen ihm einst bekannt gewordenen Polen Erwähnung, namentlich Johann Potocki's und der Fürstin Lubomirski, denen beiden er großes Lob spendete. Als wir, uns empfehlend, aufstanden, bedauerte er sehr, daß er wegen des eben strömenden Regens uns nicht sein Gärtchen (son petit jardin) zeigen könne. »Mais j'aurai le plaisir de jouir encore de votre société à diner chez ma bellefille;« und, sich lächelnd zu mir wendend, fügte er hinzu: »Et nous aurons quelques jolies dames et demoiselles; j'espère que ça vous fera plaisir.« Wir lachten beide und er wandte sich auch lachend schnell zu Adam, ihn gleichsam vertraulich fragend: »N'est ce pas?« Darauf reichte er uns die Hand, und als wir schon auf der Stiege waren, öffnete er nochmals die Salonthüre und wiederholte: »Au revoir!«
»Wie zum Teufel gescheidt ist der!« Das war das erste Wort Adam's, als wir die Treppe hinabgingen. Und auch ich habe einen Beweis an mir, wie schnell er findet, was jemandem gefällt oder gefallen möchte; denn könnte mir's einfallen, daß an diesem Tage und neben Goethe irgend ein anderer Stern über meinem Geisteshorizonte aufgehen könne? Und der alte Seher prophezeite das. – Inmitten der Gäste, die wir, um ein Viertel vor drei kommend, bei Frau Ottilie antrafen, waren auch Vogels, Er Hofrath und Leibarzt des Großherzogs und Sie eine Schönheit in[120] der vollen Bedeutung des Wortes. Es ist schwer, neben ihrer, den Grazien eigenen Gestalt und Bewegung, noch über ihre Züge zu sprechen – über diese ›Musik im Antlitz‹, wie es Lord Byron bezeichnet, aber überlese Dir die Beschreibung Theresens (sie selber heißt Rosa) in seiner Dichtung ›Mazeppa‹ und Du wirst beinahe die ähnlichste Vorstellung von ihr bekommen.
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Goethe kam Punkt drei Uhr in einem, wie mir schien neuerem Überrocke, aber von derselben Farbe, mit einem weißeren Halstuche, als zu Hause, sonst aber wie dort gekleidet und, wie es schien, heiteren Humors. Die sämmtlichen Damen gingen ihm entgegen, und er begrüßte jede mit einem Händedrucke und sprach lächelnd mit ihr. Die Reihe kam dann an uns. Goethe fragte seinen Sohn, ob er uns mit den anwesenden Gästen bekannt gemacht habe, und, auf das Fräulein hinweisend, sagte er: »c'est la petite-fille1 de notre Schiller.« Ich weiß aber nicht, ob in gerader Linie und habe mir ihren Zunamen nicht gemerkt; ich weiß nur, daß sie anders heißt und so muß sie wohl eine Enkelin von der Tochter her sein. Doch gestehe, daß das immerhin etwas bedeutet, eine Enkelin Schiller's im Hause Goethes zu sehen.
[121] Bei Tische saß Adam zwischen Goethe und Frau Ottilie; ich hatte von der Einen Seite die angenehme Nachbarschaft der Frau Vogel, von der anderen die des Fräuleins Pappenheim. Das Gespräch war lebhaft, ..... das ich selbstverständlich, ob gern oder ungern, nach beiden Seiten hin führen mußte und überdies mein Ohr so viel möglich nach dem Sprechen Goethes mit Adam hin richtete. Trotzdem konnte ich selten etwas erhaschen, außer wenn Goethe seine Stimme erhob, sei es, daß er zu entfernteren sprach, sei es, daß er seine Worte an alle richtete, wo dann auch alle schweigend zuhörten. Und so erzählte er unter anderm von den alten deutschen Stadtsoldaten, deren er in seiner Jugend in Straßburg [?] kennen gelernt hatte, wie sie, auf den Festungswällen Wache stehend, ihr Gewehr auf die Erde legten und Strümpfe strickten. Und er erzählte das so launig, daß es unmöglich war, dabei nicht zu lachen. Im allgemeinen schien er heiteren und scherzhaften Humors zu sein, doch gab es auch Momente, in denen er sich gravitätischer äußerte. So entgegnete er Herrn Vogel auf seine Behauptung, die Theorie müsse immer der Praxis vorangehen, mit Nachdruck, daß sie immer mit der Praxis zusammengehe; »denn es ist den Menschen unmöglich, körperlose Seelen zu schaffen.« Herrn Eckermann dagegen, der ihm gegenüber saß, wiederholte er Wort für Wort das, was er von Adam über die Volkslieder vernommen. Dieses Wiederholen fremder[122] Worte muß seine Gewohnheit sein, und sicher um der Artigkeit willen; denn als er nach dem Essen beim Kaffee mit der Schale in den Händen neben mir stehend mich heiter auf deutsch fragte: »Nun, wie gefallen denn Ihnen unsere Damen?« und ich, durch diesen Ton ermuthigt, mich verneigend und lächelnd »Paradiesischer Vogel, Excellenz!« zur Antwort gab, lachte Goethe laut auf und bewegte sich mit großen Schritten zu den Damen, um ihnen diese Worte zu wiederholen. Frau Ottilie und die anderen sahen lächelnd nach mir herüber; Frau Rosa wurde purpurroth, aber ihr Blick beruhigte mich auf's schnellste, daß das nicht aus Zorn geschah. – Später, als uns Herr August eine Sammlung Büsten großer Männer und sein Mineraliencabinet zeigte, und darin namentlich viele sehr gut erhaltene versteinerte Zähne verschiedener Thiere, machte Adam die Bemerkung, daß kein vorsündfluthlicher Dentist schönere besitzen konnte. Goethe gefiel dieser Scherz, wie es schien, so gut, daß er sich sogleich zu den Damen wendete und es ihnen lächelnd wiederholte.
Vor 6 Uhr ging Goethe in seine Zimmer, die er oben bewohnt und nahm von jedem mit einem »au revoir« Abschied.
1 Das gemeinte Schauspiel hieß: ›Drei Tage aus dem Leben eines Spielers‹, von Theodor Hell nach dem Französischen.[123]
1765.*
1829, 20. (?) August.
Das Ziel meiner Reise war damals Weimar und unser berühmter Bildhauer David mein Reisegefährte. Er kam in der Absicht, um Goethe, dem Patriarchen der deutschen Literatur, seine Büste, die er eben vollendet hatte1, und ich, um ihm ein Exemplar meines Stücks »Heinrich III.« zu überreichen, das gerade damals zur ersten Aufführung gelangt war. Diese Zusammenkunft wurde von Goethe nicht vergessen; er spricht von ihr in seinem Briefwechsel, und ich fand daselbst die Vorhersage wieder, welche er mir nach Lesung meines »Heinrich III.« machte, daß ich nämlich eines Tages einer der ersten dramatischen Schriftsteller werden würde, – doch, wohlverstanden, nur unter meinen französischen Zeitgenossen.
Übrigens haben wir – ich, der junge Mann und er, der Greis – viel über unsere Anschauungen und moderne Kunst discutirt. Ich machte ihn nachdenklich, als ich ihm sagte: wir hätten in Frankreich einen viel[172] gründlicheren Faust, als der seinige ist, und einen viel diabolischeren Mephistopheles, als seinen: jener Faust sei Napoleon, der stets das Unmögliche begehre, jener Mephisto sei Talleyrand, ein hinkender Dämon, ähnlich dem Teufel der Deutschen. Er hat alle Katastrophen überlebt und blieb der Held der Pariser Salons, als Napoleon schon ein Gefangener des Oceans war. Wie oft mochte wol sein satanisches Lachen den Besiegten von Waterloo auf St. Helena vor Zorn haben erleben lassen! – Das Gespräch auf seinen eigenen »Faust« bringend, fragte er mich um meine Ansicht über diese Tragödie; denn er habe bemerkt, fügte er hinzu, daß ich inbezug auf das Theater, was den Bau anbelangt, technische Grundsätze entwickelt habe, die von den seinigen ganz verschieden sind. Er irrte sich auch inderthat nicht, und indem er einen Blick auf meine dramatische Vergangenheit warf, die damals nur in einem einzigen Drama bestand, hatte sein Kennerblick in meinen, inderfolge zu schaffenden sechzig Dramen gelesen, daß meine zwei Haupteigenschaften als Theaterdichter in der Geschicklichkeit inbezug auf den Bau und in der Wahrheit der Leidenschaften beständen, zwei Dinge, die ihm fast vollständig abgingen. Hierauf entwickelte ich dem erstaunten großen Meister der Dichtkunst, der mich mit liebenswürdigem Wohlwollen bis zu Ende anhörte, daß, wenn es nicht ein Verstoß gegen die Pietät wäre, an dem Meisterwerke der deutschen dramatischen Philosophie zu rütteln, ich einen Faust[173] mit all demjenigen machen würde, was in dem seinigen nicht enthalten ist, indem ich den Mephistopheles ließe wie er ist, aber, von einem richtigeren Gesichtspunkte ausgehend, die Rolle des Faust dramatischer und jene der Margarethe materiell um's Doppelte vergrößert gestalten würde; denn so, wie letztere jetzt ist, erscheint sie zwischen Mephistopheles, der einem Ribera, und Faust, der einem Albrecht Dürer gleicht, wie ein verbleichtes Pastellbild. Ich erklärte ihm alle die Vortheile, die ich aus den Zweifeln und der Zaghaftigkeit Gretchens in dem Augenblicke, wo sie ihre Mutter bloß einzuschläfern meint, in Wahrheit aber vergiftet, gezogen hätte, wie ich die Angst des Mädchens, als sie sich Mutter fühlt, entwickelt, und all die Peripetien des Wahnsinns jenes unschuldigen Mädchens, welches die Leidenschaft der Liebe zum Kindermord und zur Schmach führt, aufgefaßt haben würde. – Ich sagte es bereits, daß Goethe mich mit großem Wohlwollen anhörte. »Ja,« antwortete er mir, »ich begreife: erst die Leidenschaft, dann die Philosophie. Es mögen beiläufig fünfzig Jahre sein, daß ich diesen Gegenstand bereits mit Schiller besprochen habe.« Fast hätte ich leise hinzugefügt: und leider haben Sie ihn überzeugt, daß die Philosophie über die Leidenschaft den Sieg davontragen müsse.
Hierauf wendete sich das Gespräch. Er befragte mich um Details über Talma, Mlle. Mars und Mlle. Georges, welche er in Erfurt kennen gelernt hatte ..... Er fragte auch, welches wol nach meiner[174] Ansicht die für Talma geeigneten Rollen in seinen eigenen Dramen gewesen wären; ich antwortete: die des Faust, in welcher Talma ebenso bewunderungswürdig gewesen wäre wie im Hamlet, aber nicht in jenem von Ducis, sondern im Originalstücke, aus welchem ich ihn mit staunenswerthem Genie einige Hauptscenen im Englischen spielen sah.
1216.*
1829, 20. August bis Anfang September.
Tous deux ils vécurent ainsi dans le tête-à-tête de séances journalières pendant une semaine. Ce qu'ils dirent? David va nous l'apprendre.
»Goethe,« écrit-il, »aime jusqu'à la passion lord Byron. Un jour il est sorti de son calme impassible devant un compatriote du poète anglais qui s'était permi de blasphémer la mémoire du chantre de ›Childe Harold‹.
Chateaubriand, d'après lui, n'est que le continuateur de Bernardin de Saint-Pierre. Goethe estime beaucoup Guizot. Il m'a dit être heureux de recevoir directement chacun de ses cours dans la semaine qui suit leur lecture, parcequ'ils n'ont pas encore été déflorés par la critique.
›Je m'applaudis d'avoir écrit mes ›Mémoires‹, me dit-il un jour avec une nuance d'ironie, puisqu'ils ont été de quelque secours à M. Beyle qui a daigné s'emparer de plusieurs traits que j'avais racontés et qu'il a reproduits comme s'ils étaient son oeuvre.‹
Napoléon avait reproché à Goethe d'avoir traduit ›Mahomet‹, ainsi que plusieurs autres pièces de Voltaire. Le poète répondit, qu'il avait été bien aise de donner aux Allemands quelque idée de la tragédie française au dixhuitième siècle. – »J'espérais[124] de la sorte,« ajouta-t-il, »amener mes compatriotes à de certaines choses que je voulais faire.« En ce moment sa fille entra dans notre atelier, et je n'ai pu en savoir davantage.
Quand la conversation tomba sur lady Morgan: »Ah! l'espion!« s'ecria Goethe, »le corsaire! le journaliste de salon!«
Comme-nous parlions de la lutte maladroite de Lemercier contre les Romantiques, Goethe témoigna sa surprise de ce que Lemercier agît ainsi. »Lui qui dans ses premiers ouvrages avait donné l'impulsion, pourquoi n'a-t-il pas fait un bon travail au lieu de ce mauvais petit drame ›La mort d'Abel‹ qui vient de paraître?« – Goethe me dit encore à propos des Romantiques: »Ils ne travaillent pas. Moi, j'ai brûlé bien des essais, et je ne voulais pas livrer mon ›Werther‹ au public; c'est un de mes amis qui me dit: Il faut imprimer cela!« – Aux causeries littéraires succédaient les reflexions sans lien. Goethe estime que le séjour de Paris peut nuire à l'originalité parce qu'on y est influencé par le milieu. C'est une opinion que j'ai depuis bien longtemps.
Goethe approuve mon idée, qu'il est bien difficile de juger les hommes autrement que sur l'apparence, car ils ont bien soin de se tenir en garde sur leurs penchants intimes. »Tous les hommes aiment à entendre prononcer leur nom,« lui disais-je un jour,[125] »et ce fut un grand moyen de plaire chez l'Empereur que cette faculté qui lui était familière de retenir le nom de chaque personne qu'il avait rencontrée.« »Hum!« replica Goethe, »il en faut rabattre; Napoléon avait des souffleurs chargés de lui nommer à propos ceux qui se présentaient.«...
Je dis un jour à Goethe que l'auteur du Laocoon était bien heureux d'avoir fixé sa pensée sur une aussi sublime tragédie. »Certes,« répondit Goethe, »car dans ce groupe la cause et l'effet sont admirablement indiqués.« – Goethe approuvait beaucoup l'idée que j'ai de faire Prométhée délivré, le vautour mort à ses pieds, et lui, l'oeil au ciel, portant sur ses traits l'expression du mepris, temperée par une nuance de douleur, dernier vestige de ses souffrances passées. – Il me parla souvent d'une Eurydice; il estimait qu'un pareil sujet convient particulièrement à la sculpture, parce que, disait il, la cause et l'effet, ainsi que dans le Laocoon, y seraient facilement saisis. – Goethe pensait que les Métamorphoses d'Ovid furent inspirées à ce poète par les peintures apportées de Grèce et placées à Rome sous les portiques.
»Pourquoi ne faites-vous pas graver vos ouvrages?« me dit il un jour; »l'Europe les connaitrait.« Je lui repondis que j'avais toujours l'espoir de mieux faire ....
Pendant que je modelais son buste, Goethe avait[126] fait placer à coté de moi, sur une table, le crâne de Raphaêl, entouré d'une couronne de laurier. Goethe aime beaucoup les couronnes; il me faisait observer comme le crâne de Raphaël est uni, comme les bosses en sont peu sensibles. Goethe a fait mouler aussi le crâne de Schiller .....
Goethe aimait à me surprendre aux heures, où je l'attendais le moins. Je voyais tout à coup cette figure colossale s'approcher sans le plus léger bruit, car il semble glisser; ses pieds posent à peine sur le sol. Il me disait: ›Eh bien! vous travaillez toujours votre vieil ami?‹ Il ne fait jamais de geste; sa physionomie annonce seule avec expression ce qui se passe dans son âme. Sa lèvre inférieure, qui avance légèrement, prend un caractère singulier que vient compléter un certain clignotement des yeux lorsqu'on parle devant lui d'un homme qui s'est trompé en quelque chose. Goethe paraît avoir le sentiment de sa supériorité. Il a l'air de quelqu'un qui a tout prévu, et, le dirai-je, il semble bien aise de l'échec d'autrui ..... Lorsqu'il éprouve une émotion vive, il se retire dans son cabinet ou va voir ses antiques. Cela le refraîchi, dit-il, et il reparaît le visage calme. – Je l'ai vu quelquefois sous le coup d'une idée soudaine qui semblait l'agiter; il passait plusieurs fois la main sur son front, alors tous les sourcils disparaissaient.
[127] Odyniec écrit, dans une lettre datée d'Heidelberg, 12 septembre 1829: David m'a raconté qu'après notre départ Goethe lui a dit d'Adam: »On voit que c'est un homme de génie.«[128]
1217.*
1829, 24. August.
Goethe, der nicht länger als eine Stunde blieb, stand fortwährend in der Mitte des Salons wie eine Bildsäule von Stein, und die Herren standen um ihn herum wie eine Gruppe von Stein. Auch die Damen saßen unbeweglich wie Galatheen im weiteren Kreise und sprachen nur stille untereinander. Und sie verloren durchaus nichts bei diesen verständigen Gesprächen über die Gesteine, welche von Büsten, Bildsäulen, Denkmälern zu Thürmen, Domen, Obelisken, Pyramiden und endlich bis zum Thurme Babel geriethen, über den Goethe sagte, daß, wenn man ihn hätte endigen können, er nach allen Natur- und Kunstgesetzen hätte spitzig, das heißt mit einem culminirenden Punkte abschließen müssen. Seine Hauptmitsprecher waren David und Adam; Herr Coudray, ein stilles und bescheidenes Männchen, beantwortete nur Anfragen. David, lebhaft und belebt, ergriff häufig die Initiative; Adam weckte wieder von neuem meine Verwunderung über die Menge[128] seiner Kenntnisse auch über diesen Gegenstand. Goethe schien dasselbe anzuerkennen; denn als Adam unter anderm über die in Amerika entdeckten Pyramiden und ihre Ähnlichkeit mit den ägyptischen sprach und daraus die Folgerung zog, daß die Bildhauerei als die am meisten plastische Kunst am deutlichsten die Geistesentwickelung eines Volkes kennzeichne, hörte ihm Goethe mit großem Interesse zu und bemerkte nur, daß außer der Geistesentwickelung auch noch die Beschaffenheit des Materials, das den Künstlern zu Gebote steht, einen wesentlichen Einfluß auf den Character ihrer Schöpfungen üben müsse, wie denn z.B. die übermäßige Härte des ägyptischen Granits ohne Zweifel mit Ursache sei, daß alle daraus verfertigten Bildsäulen stets die Hände am Leibe anliegen haben .....
Goethe kam mir nur einmal näher, und das, um David beim Lampenscheine das Modell irgend eines Monumentes aus den Römerzeiten zu zeigen, das noch heute irgendwo in Luxemburg zu sehen ist. Während des ganzen Abends sprach Goethe nur ein einziges Mal von etwas anderem, als von Steinen und zwar mit mir, indem er mich sehr freundlich fragte, wie ich mich in Weimar unterhalte, und ob ich schon das Vogelschießen gesehen habe. Dabei ließ er sich herab, mir zu erzählen, daß man anderwärts mit dem Bogen schieße (was ich auch ohne ihn gewußt hatte), und fügte hinzu: »Il faut que je vous fasse voir cela.« Ich bin neugierig, auf welche Art? aber zu fragen[129] wagte ich nicht. Herr August und Frau Ottilie meinen, er sei gegen mich überaus freundlich, und mir selber scheint es so; denn heute z.B. richtete er an Herrn Victor Pavie, der sich in einer ähnlichen Lage wie ich befindet, nicht ein einziges Mal das Wort, sondern beantwortete seine – freilich unbedeutenden und kecken – Anreden trocken und mit einer Art Widerwillen.[130]
1218.*
1829, 25. August.
Ein prächtiger Indian mit Trüffeln auf dem heutigen Mittagstische! Beinahe wie ein Symbol der Gespräche Goethes beim Essen. Auch der Gegenstand war darnach. David, dabei möglicherweise nichts denkend, erhob oder berührte vielmehr die Frage der nationalen Sympathien und Antipathien, indem er darlegte, welchen Einfluß die Dichtungen Byron's, Goethe's und Schiller's auf die gebildeten Classen in Frankreich hinsichtlich ihrer Anschauungen über die Engländer und Deutschen geübt hätten. Goethe sagte darauf freilich nichts derartiges, was das Blut und den Athem zum Stocken gebracht hätte, – was bei Adam's Reden häufig der Fall ist – aus allem aber, was er sprach, war ein so tiefer, durchgebildeter und klarer Geist zu spüren, daß man vom bloßen Anhören ganz bestimmt an Weisheit zunahm. Er wies nämlich nach, wie die angebornen[130] Verschiedenheiten der Begriffe und Gefühle, oder, besser gesagt, der Weise zu begreifen und zu fühlen, welche sowohl ganzen Stämmen, als einzelnen Menschen eigenthümlich und die Folge von Neigungen und Stolz, oder verkehrten Ansichten, oder leidenschaftlichen Überhebungen sind, sich mit der Zeit bei der blinden Menge zu unübersteiglichen Gränzen gestalten, welche die Menschheit so zertheilen, wie Gebirge oder Meere die Landschaften abgränzen. Daraus gehe nun für die Höhergebildeten und Besseren die Pflicht hervor, ebenso mildernd und versöhnend auf die Beziehungen der Völker einzuwirken, wie die Schifffahrt zu erleichtern, oder Wege über Gebirge zu bahnen. Der Freihandel der Begriffe und Gefühle steigere ebenso wie der Verkehr in Producten und Bodenerzeugnissen den Reichthum und das allgemeine Wohlsein der Menschheit. Daß das bisher nicht geschehen sei, liege an nichts anderem, als daran, daß die internationale Gemeinsamkeit keine festen moralischen Gesetze und Grundlagen habe, welche doch im Privatverkehre die unzähligen individuellen Verschiedenheiten zu mildern und in ein mehr oder minder harmonisches Ganze zu verschmelzen vermögen. Goethe gab freilich nicht an, woher diese Grundlagen und Gesetze kommen sollen, für mich aber war's klar, daß nirgends anderswoher, als aus dem Glauben – dem Glauben an einen gemeinsamen Vater im Himmel – und aus der Nächstenliebe auf Erden .....
[131] Aus diesem Gespräche entspann sich ein zweites, über die jetzige Lage der Welt und namentlich Europas. Goethe meint, daß unser neunzehntes Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Aera bestimmt scheine; denn solche große Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, könnten nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenngleich diese wie das Getreide aus der Saat langsam wachsen und reifen. Goethe erwartet sie nicht früher, als im Herbste des Jahrhunderts, das ist: in seiner zweiten Hälfte, wenn nicht sogar erst in seinem letzten Viertel. Er behauptete dabei, die Vergangenheit zum Zeugen nehmend, daß alle großen weltgeschichtlichen Begebenheiten, alle großen Weltentdeckungen und Erfindungen, endlich die großen Männer meist nach der zweiten Hälfte, oder zum Schlusse eines Jahrhunderts gekommen wären. Goethe wurde in demselben Jahre und zwar einige Monate nach der Erfindung der Blitzableiter geboren. Es ist schwer anzunehmen, daß er, das sagend, sich selber als einen großen Mann bezeichnen wollte, im Gegentheil muß man eher zugeben, daß ihm so etwas gar nicht in den Sinn kam.[132]
1219.*
1829, kurz vor 28. August.
J'eus l'honneur de recevoir de cet illustre vieillard un accueil plein de bienveillance; il m'admit obligeamment à ses réunions particulières, et je profitai avec empressement de cette faveur qui comblait tous mes désirs .....
Après s'être informé avec bonté du but de mon voyage, il témoigna le désir de voir l'appareil avec lequel j'observais l'intensité magnétique; il eut par suite l'obligeance de m'offrir, pour faire mes expériences, le jardin qu'il occupait près du parc de Weimar et qu'il a rendu célèbre à jamais par les brillantes compositions que son génie y a fait naître; il m'envoya même sa voiture, en m'invitant à lui faire connaître ensuite le résultat de mes observations. J'acceptai avec reconnaissance, non moins, je l'avoue, dans un but scientifique que par un sentiment bien naturel de curiosité et de vénération ..... Mes expériences, comme on peut le penser, ne furent pas faites avec tout le calme nécessaire; il fallut retourner encore au jardin, et j'allai faire la troisième fois mes expériences dans un endroit isolé du parc.
Lorsque Goethe sut que je m'occupais aussi d'expériences d'optique, il me montra avec une complaisance extrême ce qu'il avait fait sur cette[133] partie intéressante de la physique; il eut même la bonté de me donner plusieurs verres pour les expériences de la polarisation et un ouvrage dans lequel il a consigné ses idées sur les divers phénomènes qui en dépendent et sur la théorie des couleurs.[134]
1220.*
1829, 27. August.
Der heutige Abend bei Frau Ottilie war ein Ballabend, der Polterabend des morgigen Festes [von Goethes Geburtstag]. Die ganze Gesellschaft Weimars und die von allen Seiten hergekommenen Gäste füllten die reichbeleuchteten Salons. Man sprach die Gratulationen noch nicht formell aus, man spürte sie aber in allem: alle Damen in glänzender Toilette, die Herren mit weißen Halsbinden, auf den Tischen große Bouquets, überall festliche Kleidung und Drappirung. Goethe war als Sonne und Idol des Festes der Centralpunkt, gegen den alles gravitirte. Die Menge folgte ihm; bei seiner Annäherung verstummte das Gespräch, und lauschte man nur auf seine Worte. Er betheilte damit, langsam den Salon umschreitend, wohlwollend alle. Mich [Odyniec], oder vielmehr uns – denn man wußte nicht, auf wen es gezielt sei – traf eine räthselhafte, sphinxartige Frage, deren Sinn ich mir bisher nicht auslegen kann. Ich sprach nämlich mit Frau Rosa,[134] als Goethe an uns herantrat und mit heiterem Lächeln fragte: »Nun, wie geht's im Paradies?« Ich gerieth in Verwirrung; denn ich wußte nicht, was es zu bedeuten habe. War das eine Anspielung auf den Paradiesvogel? oder darauf, daß ich einmal zu Herrn August gesagt, mir gehe es hier so gut wie im Paradiese? Oder errieth das der alte Seher selber. Oder endlich – wie ich es später meiner Nachbarin verdolmetschte – fragte er sie um Neuigkeiten aus jener Sphäre, in deren Himmelblau sie gekleidet war? Genug, ich antwortete nichts darauf und die Antwort ihrerseits war ein lebhaftes Erröthen. Goethe lächelte noch bedeutsamer und, mir die Hand reichend, sagte er: »Es ist schön, daß Sie uns geblieben.« »Wir danken dem Himmel,« erwiederte ich, »daß uns dies Glück zutheil wurde.« Goethe nickte freundlich mit dem Kopfe und fragte meine Nachbarin, wie Ihre Blumen gedeihen, indem er dabei erwähnte, daß er die seinigen im Gärtchen fremder Obhut übergeben mußte. – Ich hatte nicht Zeit dem zu folgen, was er mit andern sprach, ich weiß nur von Adam, daß er ihm sehr artig dafür dankte, daß er noch diesen Tag hier geblieben sei. Trotz des wohlwollenden Sprechens und Lächelns konnte man aber unschwer erkennen, daß es nur eine angenommene Rolle sei, die er nur aus Zwang und des Anstandes wegen spielte. Auf seinem Statuengesichte war weder Bewegung noch Lebhaftigkeit zu gewahren. Auch seine Gegenwart wirkte durchaus[135] nicht belebend. Solange er im Salon verweilte, bewegte sich das Gespräch wie in Fesseln; erst als er sich incognito auf seine Zimmer zurückzog (das war etwa um 10 Uhr), wurde das Gemurmel allmälig lauter, bis zuletzt der ganze Salon davon erfüllt wurde.[136]
1221.*
1829, 28. August.
Es war schon nach halb ein Uhr, als wir (Mickiewicz und Odyniec)... an Goethes Schwelle standen .... Sobald er uns eintreten sah, ging er aus dem ihn umgebenden Männerkreise auf uns zu, reichte uns die Hand und erwiederte auf unsere wenigen glückwünschenden Worte: »Je vous remercie, Messieurs; je vous remercie sincèrement.« Darauf mischten wir uns in den Schwarm von Gästen beiderlei Geschlechts, die den Salon in Goethes eigenem Appartement füllten und sich darin umherbewegten. Auf einem Tische unterhalb des Spiegels lagen verschiedene Damenarbeiten und ein großer Stoß schriftlicher Gratulationen, Gedichte und Briefe, welche der Gefeierte heute erhalten hatte. Doch der Hauptgegenstand des Interesses und Gespräches war der Brief des König-Dichters, welcher namentlich bei den Damen von Hand zu Hand ging, und den mir erst Frau Rosa freundlich zum Überlesen reichte. Er beginnt mit den Worten »Herr Minister!«[136] erinnert an die für den Schreibenden denkwürdige Stunde, in welcher er selbst Goethe vor zwei Jahren besuchte, wünscht ihm, hundert Jahre zu erleben, und bittet ihn, als Angebinde eine mitfolgende Copie der neuentdeckten alterthümlichen Bildsäule, welche einen Sohn der Niobe vorstellen solle, anzunehmen. Er schließt mit der Bitte um Bezeichnung des Hauses das Goethe in seiner Jugendzeit während seines Aufenthaltes in Rom, wohin auch der König zu reisen sich anschicke, bewohnte; »denn selbst die geringfügigsten Dinge, wenn sie auf große Männer Bezug haben, sind wichtig.« Die Unterschrift: »Ihr bewundernder Ludwig.« Die erwähnte Bildsäule stand, mit einer Blumenguirlande geschmückt, auf einem schönen Postamente in dem anstoßenden Büstensaale gerade der offenen Salonthüre gegenüber, damit sie alle von dort aus sehen könnten. Doch begnügte sich niemand damit, sondern alle gingen der Reihe nach, sie in der Nähe zu besehen. David und uns mit ihm führte Goethe selber hin, entzückt von der harmonischen Schönheit der Einzelheiten und des Ganzen. Später sah ich von weitem, wie er allein wieder hinzutrat, sie mit Aufmerksamkeit betrachtete und dabei die Hände und Finger bewegte, als wenn er mit jemandem spräche. Im Allgemeinen war heute bei ihm unvergleichlich mehr Leben und Gefühl zu gewahren, als gestern.[137]
1222.*
1829, 29. August.
Kaum waren wir aus dem Theater draußen [nach der Aufführung des ›Faust‹] so fragte ich [Odyniec] ihn gleich: »Was nun?« Er hörte es aber nicht, oder wollte es nicht hören – genug, er sagte kein Wort. Ich konnte mich aber nicht halten und begann mich auszusprechen. Auf dem ganzen Wege vom Theater zur Soirée hörte er zwar zu, blieb aber stumm wie eine Mauer. Das verwirrte mich einwenig und kühlte meinen Eifer ab. Und als ihn Goethe fragte, welchen Eindruck er vom ›Faust‹ auf der Bühne, für die er doch nicht geschrieben wurde, erhalten habe, erging er sich zwar über die einzelnen Scenen, erwähnte aber des Ganzen mit keinem Worte. Und Goethe mochte darüber wohl betroffen sein; denn er sah ihn mit durchdringendem Blicke an, als erwarte er noch etwas und fragte nicht weiter. Auch mich haben einzelne Scenen ungemein interessirt. So lachte ich zum Bersten über die Liebeleien zwischen Mephistopheles und Martha, und die Scene Faust's mit Gretchen im Kerker er schütterte mich so sehr, daß ich trotz alles Schämens und mächtigen Bemühens (ich war nämlich in der Loge bei Herrn Vogel) nicht imstande war nicht nur die Thränen, sondern, was noch schlimmer war, ein lautes Schluchzen zurückzuhalten, was sich mir[138] zum Ärger gewaltsam aus der Brust vordrängte. Frau Rosa hatte nichts Angelegentlicheres, als es bei der Soirée Goethe sogleich zu erzählen, was mir ein solches dankbares Anblicken und Lächeln und zuletzt ein Gespräch (zwar nicht über den ›Faust‹, sondern über das Klima bei uns und in Italien, über den Einfluß, den das Klima auf ihn einst übte und auf jeden Ankömmling aus dem Norden üben muß) verschaffte.[139]
1223.*
1829, 29. August.
Bei Tische bewegte sich das Gespräch, welches vorzugsweise von Goethe und Herrn Quetelet unterhalten wurde, hauptsächlich, ja ausschließlich um die Naturwissenschaften. Er selber sagte, das sei für ihn das interessanteste Thema und sollte es auch für jeden denkenden Menschen sein; denn niemand könne es jemals völlig ergründen oder erschöpfen. »La nature a l'attrait et le charme de l'infini.« – »Man muß consequent im Forschen sein und die Natur täuscht niemanden.« – »Die Schätze der Natur sind verzauberte Schätze, welche kein Spaten, sondern das Wort bloßlegt.« – »Wenn ich an alle die neuen Entdeckungen und Erfindungen denke, welche während meines Lebens gemacht wurden, und welche ich langsam kennen lernte, bedauere ich die Jugend, welche das alles in wenigen[139] Jahren erlernen muß; freilich ist auch die Unterrichtsmethode eine bessere.« – »Ich war öfters mit der Natur im Streite, mais j'ai fini toujours par lui demander pardon.« – »Wenn ich mit einem Menschen disputire, so bin ich niemals ganz sicher, wer von uns beiden recht hat, mais en disputant avec la nature, je sais d'avance que c'est elle qui a raison.« – Da hast Du [Korsak] einige Aphorismen Goethes, deren ich mich schnell erinnern kann. Und wenn Du etwa darüber betroffen wirst, daß in denselben immer nur der Natur Erwähnung geschieht, was sagst Du dann dazu, daß dies wenigstens zweihundertmal der Fall war und das Wort Gott nicht ein einziges Mal vorkam?[140]
1224.*
1829, Ende August.
Die Aufführung des ›Faust‹ [in Tieck's Bearbeitung] anlangend, fand dieselbe in acht Acten und in einer seltsam gestellten Anordnung statt. Manches von dem, was ich in meiner (verschmähten) Bearbeitung weggelassen und weglassen zu dürfen, ja zu müssen geglaubt, war stehen geblieben und machte, wie ich's vorausgesehen, auf den Bretern keine, oder eine verfehlte Wirkung. Manches aber, was mir wichtig, ja unentbehrlich scheint, war gestrichen. So z.B. Faust's erstes Gespräch mit Wagner, welches seine Stellung[140] zur gelehrten Welt bezeichnet; dann jene Worte des alten Bauers und was darauf folgt, wodurch sein Verhältniß als praktischer Arzt und die daraus entspringenden skeptischen Zweifel angedeutet werden sollen; und dergleichen mehr. In den Liebesscenen war denn auch richtig das ewige Hin und Hergelaufe, was jede Einheit theatralischer Sammlung zerreißt, ungeändert verblieben. Kurz es war halt eben nichts gethan, sondern nur gestrichen, und ich hatte den Muth, meine Kritik der Excellenz deutsch und ehrlich in den Bart zu werfen, auch nicht zu verschweigen, daß ich meine Umarbeitung für ungleich dramatischer, concentrirter, besser und wirksamer hielte, worauf denn ein: »Ihr junges Volk versteht es freilich viel besser!« – doch sonder Groll – und am Schlusse das obligate: »Nun, nun! Das ist ja ganz schön« lächelnd erfolgte.[141]
1225.*
1829, Ende bis 31. August.
Goethe avait l'habitude de recevoir gracieusement les nombreux étrangers qui s'arrêtaient à Weimar et qui lui étaient adressées des différents pays avec le désir, de le voir et de le saluer. On conçoit qu'une obligeance semblable pouvaient donner lieu à de graves inconvénients et provoquer des indiscrétions. Le célèbre poète voulut bien me citer à ce sujet[141] quelques exemples qui froissaient toutes les règles des convenances.
Cependant la plupart des hommes distingués qui étaient alors à Weimar auraient désiré l'entendre; mais ils concevaient sa répugnance à parler, pour ainsi dire, publiquement, quoique placé au milieu de son salon. Plusieurs d'entre eux m'engagèrent à entrer dans leurs vues et à les seconder: ma jeunesse et le désir de les obliger me fit oublier peut-être ce que je devais à notre illustre Mécène. Je lui parlai successivement de différentes circonstances de ses voyages et de ses écrits les plus estimés, mais sans trop exciter son attention et sans lui donner l'envie de prendre une partie active à l'entretien; cependant, lorsque je vins à parler de Venise, de sa jeunesse et de ses premières compositions, je compris que j'avais touché un sujet qui l'intéressait: bientôt je pus m'arrêter, et je vis successivement tous les conviés s'arrêter autour de nous. L'illustre auteur avait sans doute compris le désir de son jeune admirateur et celui de toute l'assemblée. Goethe, dont la noble figure faisait naître le respect et dont le langage avait quelque chose de brillant et d'inspiré, parla avec une éloquence réelle des premiers souvenirs de sa jeunesse, de ces premiers temps qui lui permettaient de rappeler ce que sa carrière avait eu de plus brillant et de plus animé: il était vraiment poète et il était aisé de voir que[142] les sentiments qu'il exprimait avaient pénétré dans les coeurs de tous ses auditeurs.
Outre ses soirées, auxquelles étaient invités les nombreux étrangers qui visitaient Weimar, Goethe avait des réunions du soir où quelques personnes étaient plus particulièrement admises. Dans ces petits comités, l'illustre poète voulait bien me parler encore des travaux de l'optique et des recherches qui l'avaient spécialement occupé. A la fin de la soirée, il me disait avec bonté: »Demain nous verrons tel ou tel point scientifique.« J'étais venu à Weimar pour y passer un jour, et je m'y trouvais dèja depuis une semaine, sans que j'eusse pu songer à lui répondre que je me proposais de partir pour assister au congrès scientifique qui allait s'ouvrir à Heidelberg. Je crus cependant devoir lui parler de mon prochain départ, et quand il vit qu'il y avait nécessité de m'eloigner, il me demanda de passer un instant avec lui dans un salon voisin.
»Hé bien!« me dit-il en souriant et quand nous fûmes seuls, »je vous dirai la vérité tout entière; si je voulais vous la déguiser, vous seriez assez clairvoyant pour vous en apercevoir. Comme poète, mon chemin est fait; je puis le parcourir avec assurance; mais comme physicien, il n'en est pas de même, et les opinions peuvent varier beaucoup au sujet de mes recherches.« Puis, après un moment de silence: »Vous allez donc à Heidelberg pour assister à ce[143] grand bazar scientifique (le congrès): chacun y viendra étaler sa marchandise, la prisera fort et dépréciera peut-être celle du voisin. Or, je suis un voisin, moi; et j'avoue que je serais assez curieux de savoir ce qu'on pense de cette marchandise et si on lui donne quelque estime. – Me promettez-vous de me dire la vérité«. Je lui repondis qu'il pouvait l'attendre pleine et entière. »Cela me suffit,« dit-il, »je compte sur votre promesse.«
Nous rentrâmes ensuite au salon. »Je veux vous donner avant votre départ,« me dit-il alors, »la preuve d'un talent qu'on ne me suppose certainement pas. Je mets un amour-propre tout particulier,« ajouta-t-il en souriant, »à savoir faire un paquet.« Et, en effet, il s'occupa de ranger les pièces qu'il me destinait, ainsi qu'à ma femme, sous une enveloppe que j'ai toujours conservée soigneusement depuis, comme un des présents les plus précieux que je tiens de lui. Qu'on pardonne ces petits details, que le souvenir du grand poète fera peut-être excuser. Sur un carton de format in-8° il déposa d'abord l'intéressant ouvrage Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie, Stuttgart und Tübingen 1820; et, sur la couverture, il écrivit ces mots pleins d'amitié: »Herrn Director Quetelet, zu geneigtem Andenken des 28. August 1829. – Der höchst erfreulichen Unterhaltungen nicht zu vergessen. – Goethe.«
[144] Entre les feuillets du livre, il plaça six verres colorés plans de 7 centimètres de hauteur sur quatre de largeur pour les expériences lumineuses et pour démontrer ses idées sur des effets de polarisation, qu'il considérait d'une manière toute particulière et avec des expressions qui lui étaient propres: puis les quatre vers français suivants qu'il destinait à ma femme. Ils étaient tracés de sa main, avec une écriture ferme qui semblait appartenir au burin bien plus qu'à la plume d'un octogénaire:
Chaque jour est un bien que da ciel je reçoi,
Profitons aujourd'hui de celui qu'il nous donne;
Il n'appartient pas plus aux jeunes gens qu'à moi,
Et celui de demain n'appartient à personne.1
Goethe.
Goethe replia ensuite son paquet; il y apposa son cachet et remplit toutes les formalités voulues, pour me donner, disait-il gaiement, une idée de son savoir en fait d'expédition .....
Quand il fallut le quitter, vers la fin de la même soirée, et lui faire mes derniers adieux, les paroles me manquèrent: le bon vieillard s'en aperçut et il m'embrassa avec la tendresse d'un père.
1 Der Vierzeiler ist von Maucroux, der aber »Jouissons« statt »Profitons« schrieb.[145]
1226.*
1829, 31. August.
Abends bei Frau Ottilie kam Papa Goethe nach 8 Uhr und verweilte beinahe zwei Stunden. Während der ganzen Zeit sprach er meist mit Adam, doch bekam ich [Odyniec] auch mein Theil und zwar immer in demselben sehr wohlwollenden, halb scherzhaften Tone wie gewöhnlich. Er verbürgte sich sogar für mich bei Frau Rosa mit den Worten: »Er wird nicht so leicht uns vergessen.« Ich benützte die Gelegenheit, um mit Nachdruck – versteht sich, es auf ihn anwendend – dasselbe auszusprechen, und durch seinen liebevollen Blick ermuthigt, wagte ich, ihm dieselbe Bitte vorzutragen, welche früher Adam durch die Vermittelung von Frau Ottilie vorgebracht hatte, ihn nämlich um eine eigenhändige Namensunterschrift und um zwei gebrauchte Federn anzugehen. Er lächelte und neigte das Haupt, und der daneben stehende Adam fügte hinzu: es werde das theuerste Andenken für unser Leben sein. Lächeln und zustimmendes Kopfnicken – darauf sprach er von anderem. Als er mir dann zum letzten Abschiede die Hand reichte, er griff ich sie mit lauterer Rührung, und indem ich sie unterhalb des Ellbogens küßte, bat ich ihn um seinen Segen. Es mußte ihn nicht beleidigt haben; denn er faßte mich darauf an den Achseln und küßte mich auf die[146] Stirne, und nahm auf dieselbe Art von Adam Abschied, der ihn auf die Achseln geküßt hatte. Frau Ottilie sagte, es sei dies eine ganz besondere Gunstbezeugung, und sie erinnere sich derselben bei keinem Fremden. Im Fortgehen nahm er die Kerze vom Tische und, an der Thüre stehen bleibend, wandte er sich nochmals um und neigte die Hand wie vom Munde zu uns. Die Thür schloß sich, und wir werden ihn gewiß nie wiedersehen.
Nach etwa zehn Minuten brachte uns der ältere Enkel zwei goldgeränderte, wie für ein Stammbuch bestimmte Blättchen, auf deren jedem sichtlich früher geschriebene Verse in deutschen Buchstaben standen mit der Unterschrift »Goethe«, der noch das heutige Datum frisch zugefügt worden war; dann zwei ihrer Fahnen beraubte Federn, welche sorgfältig nach Art einer Nadel mit dem dünneren Ende durch die auseinandergerissene Mitte derselben gesteckt waren. Die vier Verse auf meinem Blättchen lauten:
Diese Richtung ist gewiß:
Immer schreite, schreite!
Finsterniß und Hinderniß
Bleiben Dir bei Seite –1
was ich mir dann schnell in's Polnische zu übersetzen trachtete.[147]
Als ich sie durchgelesen, bat ich Frau Rosa, sie wolle Goethe sagen, daß ich die Worte »Immer schreite, schreite!« von nun an zu meiner Devise erwähle, und sie als den magischen Spruch des Meisters betrachte, den ich sorgfältiger im Gedächtnisse bewahren würde, als sein Zauberlehrling in der Ballade. Frau Rosa versprach mir, es zu thun, da sie der Rücksichtnahme des alten Schönheitsverehrers sicher, dadurch kühner und zuversichtlicher, als andere ist – versteht sich mit Ausnahme von Frau Ottilie, welche den Papa, wie man sagt, bloß durch ihre Anmuth und Schmiegsamkeit ganz allein zu lenken weiß.
1 Vielmehr: Agostino Tassi.[148]
1227.*
1829, 1. September.
Ich erzählte Goethe von einem Durchreisenden, der bei Hegeln ein Collegium über den Beweis des Daseins Gottes gehört. Goethe stimmte mir bei, daß dergleichen Vorlesungen nicht mehr an der Zeit seien.
»Die Periode des Zweifels,« sagte er, »ist vorüber; es zweifelt jetzt so wenig jemand an sich selber als an Gott. Zudem sind die Natur Gottes, die Unsterblichkeit, das Wesen unserer Seele und ihr Zusammenhang mit dem Körper ewige Probleme, worin uns die Philosophen nicht weiter bringen. Ein französischer Philosoph der neuesten Tage fängt sein Capitel ganz getrost[148] folgendermaßen an: ›Es ist bekannt, daß der Mensch aus zwei Theilen besteht, aus Leib und Seele. Wir wollen demnach mit dem Leibe anfangen und sodann von der Seele reden.‹ Fichte ging doch schon ein wenig weiter und zog sich etwas klüger aus der Sache, indem er sagte: ›Wir wollen handeln vom Menschen als Leib betrachtet, und vom Menschen als Seele betrachtet.‹ Er fühlte zu wohl, daß sich ein so engverbundenes Ganzes nicht trennen lasse. Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und daß er die unauflöslichen Probleme liegen ließ. Was hat man nicht alles über Unsterblichkeit philosophirt! und wie weit ist man gekommen? Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestiren, muß man auch eine sein.
Während aber die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Declamationen gegen den Sclavenhandel, und während sie uns weismachen wollen, was für humane Maximen solchem Verfahren zu Grunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Object sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie thun, und welches man[149] hätte wissen sollen. An der westlichen Küste von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Besitzungen, und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort ausführe. In Amerika haben sie selbst große Negerkolonien angelegt, die sehr productiv sind und jährlich einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen versehen sie die nordamikanischen Bedürfnisse, und indem sie auf solche Weise einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die Einfuhr von außen ihrem mercantilischen Interesse sehr im Wege, und sie predigen daher nicht ohne Object gegen den inhumanen Handel. Noch auf dem Wiener Congreß argumentirte der englische Gesandte [Lord Castlereagh] sehr lebhaft dagegen; aber der portugiesische [Graf Palmella] war klug genug, in aller Ruhe zu antworten, daß er nicht wisse, daß man zusammengekommen sei, ein allgemeines Weltgericht abzugeben oder die Grundsätze der Moral festzusetzen. Er kannte das englische Object recht gut, und so hatte auch er das seinige, wofür er zu reden und welches er zu erlangen wußte.«[150]
1228.*
1829, Anfang September.
»La veille de mon départ,« nous apprend l'artiste, »Goethe m'écrivit son nom pour que je pusse le graver sur son médaillon. Je remarquai qu'il posa[150] sa plume aupres de moi comme s'il eût désiré que je l'emportasse en souvenir, mais un sentiment de timidité et l'émotion vive que j'éprouvais en me séparant de cet homme illustre m'empêchèrent de répondre à cette obligeante attention.«
Goethe voulut avoir le portrait de son statuaire. Un jeune dessinateur vint, au nom du poète, recueillir le profil du maître. Celui-ci, charmé de la na?veté du dessin, exprimera le désir d'en emporter une copie.
»Je viens de voir pour la dernière fois le grand homme,« écrit le maître. »Après avoir causé longtemps avec lui, il me dit: ›Vous avez laissé des traces profondes de votre séjour ici, tenez-nous donc au courant de tout ce qui pourra vous intéresser: nous y prendrons toujours une part bien vive.‹ Après cela, il me pria de remettre à son adresse en France un paquet renfermant plusieurs médailles d'argent. Je voulus embrasser sa main, mais il m'attira dans ses bras et me dit avec une émotion visible en faisant allusion à son grand âge: ›Nous nous reverrons, il faut que nous nous revoyons. Tenons fermes!‹«
Goethe, en se séparant da statuaire, lui offrit un dessin qu'il avait terminé le matin même.1
1 Selbstverständlich Irrthum; es kann nur eine Tochter Schiller's gewesen sein und, da sie nicht Schiller hieß, nur Emilie Freifrau v. Gleichen.[151]
1229.*
1829, Herbst.
Im Herbste des Jahres 1829 wurde ich wieder von Goethe empfangen. Da ich imbegriff war, nach Paris abzureisen, um dort unter der Leitung eines der berühmtesten Orientalisten dieses Jahrhunderts, Sylvestre de Sacy, meine Studien für Arabisch und Persisch zu erweitern, und bei Chézy Sanskrit zu lernen, schien es mir geziemend, mich bei Goethe zu verabschieden. Im Laufe des Gesprächs erwähnte ich eines chinesischen Buchs, das ich mitnehmen würde, um mir über dessen Inhalt von dem Sinologen Abel Rémusat Auskunft zu erbitten, und ich fügte noch hinzu, daß es unter den Trümmern eines alten Hauses in Weimar aufgefunden worden. »Lassen Sie es mich doch einmal sehen!« hob er an. Solches Verlangen erregte mir zwar einige Besorgniß, ob ich das Buch noch rechtzeitig zurückerhalten werde, allein was war zu thun? Dem Verlangen wurde entsprochen, und ich fügte nur bei der Überreichung die Bemerkung hinzu: das Buch gehöre einem Studirenden, einem meiner Zuhörer, der es für jenen Zweck mit nach Paris gesendet haben wolle. Exzellenz schien zu ahnen, was[152] in mir vorging; ein »hm! hm!« drang leise aus ihm hervor; es wurde mir eine Stunde des folgenden Tages bestimmt für mein Wiederkommen.
Erwartungsvoll stand ich zur bestimmten Zeit im Empfangszimmer. Bald darauf trat Goethe herein, in der Hand die Papierrolle, in welche ich das chinesische Buch eingehüllt hatte. Er begann: »Aber mein Lieber, wie unbesonnen ist die Jugend! Da haben Sie ein so seltenes, merkwürdiges Werk bloß in einem Papierumschlag! Da müssen Sie zu einem Buchbinder gehen, zwei Pappdeckel nehmen, es sorgsam dazwischen legen und wohl verwahren.«
Noch hielt er ein Blättchen in Form und Größe eines Stammbuchblattes in der Hand; das reichte er mir dar mit den Worten: »Nehmen Sie es, und zeigen Sie es meinen Freunden in Paris; es wird Ihnen manche Thür öffnen.« – Von seiner Hand geschrieben, enthält es die Stelle des ›Westöstlichen Diwan‹ als meinen Talisman: ›Gottes ist der Orient etc.‹ – Dieses Blättchen, bis heute von mir als Kleinod bewahrt, hat das einzige Mal, als ich davon Gebrauch machte, wie ein Zauberschlüssel in Paris gewirkt.[153]
1548.*
1829, Anfang October.
D'une autre nature sont les mémoires de Saint-Simon qui sont ici [Paris] dans toutes les mains et que j'ai trouvés aussi entre les mains de Goethe qui en est enchanté. Lui faisant lire ma correspondance sur ma mise en retraite1 pendant qu'il faisait dessiner mon portrait pour sa collection; il m'a dit, que l'ayant lue entre deux chapitres de St. Simon, il avait crû en lire un autre chapitre.
1 Dieses Wort ist nur das wahrscheinlichste, es ist unleserlich.[392]
1766.*
1829, 2. October.
Kozmian hatte Besuch bei Ottilie v. Goethe gemacht, die ihn aufgefordert hatte, abends 7 Uhr zu ihrem Schwiegervater zu kommen, wo große Gesellschaft sei. Dann fährt er fort:
Zur festgesetzten Zeit stand ich mit dem Herrn v. Vatowski vor dem Hause des Verfassers des »Faust«. Es befand sich damals gerade in Weimar Graf Reinhard mit seiner jungen und schönen Gemahlin, der französischer Gesandter beim Deutschen Bunde war, einer der ältesten Freunde Goethe's ..... Graf Reinhard war bloß deshalb nach Weimar gekommen, um seinen hohen Freund zu besuchen. Diesem Gaste zu Ehren versammelte Goethe alle Abende einen zahlreichen Kreis geladener Gäste um sich. Als wir in den Saal eintraten, fanden wir die Gesellschaft schon zumtheil versammelt und wurden von Frau v. Goethe bewillkommt.[175] Nachdem wir etwas gewartet hatten, öffnete sich die Thür des Nebenzimmers; der Diener an der Thür rief mit lauter Stimme: Herr von Goethe! und es zeigte sich in der Thür die hohe, edle, ehrfurchtgebietende Gestalt des Dichters. Alle erhoben sich, während er langsamen Schritts zu uns herankam. Der Eindruck, den ich erfuhr, war ein mächtiger und mir bis dahin unbekannter; einen ähnlichen habe ich nur noch einmal später gehabt, als ich das Meer erblickte.
Als wir ihm vorgestellt wurden, bewillkommte er uns freundlich, aber mit der ihm eigenen Würde eines Herrschers. Die Deutschen haben die Schönheit seiner Jugend sowie die seines Alters bewundert und gerühmt, daß er in seiner Vollkraft der Apollo von Belvedere, im Alter der olympische Zeus gewesen sei. Inderthat: es war der schönste Greis, den ich in meinem Leben zu sehen Gelegenheit hatte, schon sowol wegen seiner majestätischen Gestalt, als durch sein ausdrucksvolles Gesicht. Wundersame Geisteskraft leuchtete aus seinen Zügen, zumal aus den Augen und von der Stirn. Die drei Falten, die seine Stirn durchfurchten und sich bis zu den Augen hinzogen, waren der deutlichste Ausdruck des Genius; aus ihnen schienen die Funken seines Geistes zu sprühen.
Als wir uns setzten, begann die Unterhaltung, die französisch geführt wurde. Er sprach gut, doch drückte er sich langsam aus. Will man wirklich Goethe hören, so muß man mit ihm in seiner Muttersprache reden.[176] Den Gegenstand des Gesprächs bildete die französische Literatur, das Werk Wilhelm Schlegels über die dramatische Poesie und Micklewicz; dieser war vor uns in Weimar gewesen, und hatte Goethe und seine Schwiegertochter kennen gelernt, war auch mehrere Male ihr Gast gewesen, und hatte in hohem Grade ihre Aufmerksamkeit erregt. Etwas Trauriges und Geheimnißvolles, das in seinen Zügen lag, rief das Gefühl der Theilnahme und des Interesses bei allen hervor, die ihn kennen lernten; man fragte uns nach seinen Schriften und nach Details von seinem Leben.
Leider waren wir an diesem Abend noch zu Hofe gebeten, und so konnten wir trotz des besten Willens bei dem Dichter nicht länger verweilen. Es kamen immer noch mehr Gäste, seine Aufmerksamkeit ward getheilt, da ihn der Empfang derselben abzog; so verabschiedeten wir uns denn von ihm, ihm Danksagend, daß er uns den Zutritt zu sich verstattet habe. Er nahm unsern Dank freundlich an und forderte uns auf, bei der Rückreise aus Paris Weimar nicht zu umgehen und ihn wieder zu besuchen.[177]
1767.*
1829, 3. October.
In Weimar angelangt .... wurden alsbald die Empfehlungsbriefe, die mir Geheimrath Thiebaut an[177] Goethe und die Räthin Schlosser an Goethe und seine Schwiegertochter gegeben, abgesendet. Auf 12 Uhr des folgenden Tages ward ich beschieden.
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Man führte mich durch ein Zimmer in ein zweites. Überall Kunstwerke verschiedener Art, Gemälde, Kupferstiche, Büsten, Statuen, auf Repositorien große Mappen, Zeichnungen enthaltend. Das Ameublement stand hiermit in Widerspruch; es war geschmacklos, alt, fast ärmlich zu nennen. Ich wartete einige Minuten; dann sah ich durch eine offen stehende Thür des Zimmers, in welchem ich mich befand, Goethe in das anstoßende Gemach kommen, ziemlich rasch in sehr aufgerichteter Haltung, die Lippen bewegend, manchmal selbst leise redend, hindurchschreiten und zu mir eintreten. Sein Äußeres entsprach imganzen meiner Erwartung nicht. Nach den vielfachen glänzenden Beschreibungen, die ich gehört und gelesen, hatte ich mir ihn noch größer und weniger gealtert vorgestellt; nur sein lebhaftes, mitunter feuriges Auge und seine aufrechte Haltung, die er während unserer ganzen Unterredung beizubehalten suchte, und von Zeit zu Zeit, wenn der Oberkörper unwillkührlich vorsank, wieder herstellte, bezeugte auch im Äußeren noch die Herrschaft des gewaltigen Geistes über den achtzigjährigen Körper. Höchst merkwürdig aber, ja wahrhaft erstaunenswürdig war die Art, wie er sprach. Es war der reinste, ununterbrochenste Fluß der Rede, die höchste Mannigfaltigkeit und Gewandtheit[178] des Ausdrucks, über welchen Gegenstand er auch sprechen mochte. Da, wo sich's um tiefere Dinge handelte und wo selbst die Gebildeten, selbst die geübten Denker in der Regel die Worte suchen müssen, da bewegte er sich mit derselben Leichtigkeit, als wenn er über das Wetter ober eine Stadtneuigkeit spräche. Man sah überall, wie ihm, der sein ganzes Leben der Beschäftigung mit Ideen und Idealen gewidmet, diese Dinge, die uns nur Zuckerbrod sind, zur gewöhnlichen Speise geworden. Es war mit einem Worte unsere deutsche Sprache in der Gestalt, wie man sie sich, von überirdischen Wesen geredet, denken möchte.
Nachdem wir uns niedergelassen, fragte er zunächst, in welcher Beziehung Thibaut, der Verfasser meines Empfehlungsschreibens, mich seinen Collegen nenne, und als ich die Bewandtniß der Sache erklärt, sprach er einiges zum Lob des Standes der Gelehrten, indem er meinte: theils sei es angenehm, an einem Orte zu leben, wo man stets dem Gang der Wissenschaft genau folgen könne, theils erfreulich das, was man erlernt und erforscht, nun den Jüngeren durch mündliche Lehre wieder mitzutheilen; insbesondere habe das Studium der Geschichte viel Anziehendes. Er erkundigte sich hierauf nach dem neuen Universitätsgebäude, seiner Einrichtung und Bauart, und erwähnte dann rühmend einiger Professoren, namentlich Thibaut's, Creuzer's, Schlosser's und Paulus'. Von Schlosser pries er das neueste Buch, [Universalhistorische Übersicht der Geschichte[179] der alten Welt und ihrer Cultur] hinzufügend, daß es freilich noch manches zu wünschen übrig lasse, allein man müsse sich bei solchen Werken an die vorzüglicheren Seiten halten. Ich sprach von Paulus' Einfluß auf die Theologie und meinte, es sei gut, daß ein so kräftiger Vertheidiger der Denkfreiheit noch vorhanden sei, allein er scheine mir doch zu weit zu gehen, wenn er, wie mir berichtet worden, den jungen Leuten geradezu sage, es gebe keine Unsterblichkeit. »Freilich, freilich!« erwiderte er. »Und es ist ja lächerlich, so etwas zu behaupten: was weiß er denn davon?« Er sprach dann ausführlicher von theologischen Streitigkeiten der jüngsten Zeit [zwischen Voß und Creuzer] und meinte, daß solche Parteiungen wol stets bestehen würden, weil sie stets bestanden hätten. »Wie sich's mit der Dreieinigkeit verhalte, und ob der Mensch von Natur gut oder böse sei, und ob er durch Christum erlöst und von seinen Sünden befreit worden, oder ob er durch eigene Kraft oder nur durch Gottes Gnade selig und von der Verdammniß befreit werden könne, oder« – fügte er herzlich lachend hinzu – »ob er sich gar selig preisen soll, daß er verdammt ist, darüber wird wol, solange es Menschen giebt, mit Eifer gestritten werden.« Amschönsten, meinte er, sei es jetzt in einer Stadt Nordamerikas, von der er neulich gelesen, daß in ihr an die sechzig Kirchen seien, in deren jeder ein anderes Glaubenssystem gepredigt werde; da könne man also an jedem Sonntag im Jahr sich in einer andern Confession[180] erbauen. Die Menschen verließen in diesen Dingen viel zu sehr den einfachen Weg; die Kinder könnten darin gar wol unsre Lehrmeister sein. Ich erinnerte an sein kleines Gedicht »Katechisation«. Er lachte und sagte: »Ja, ja, so ist's!«
Über sein Verhältniß zu Stolberg befragt, sprach er von ihm, besonders aber von seiner Schwester und überhaupt von dem Kreise der Menschen, die sich damals um die Fürstin Galitzin in Westfalen versammelten, mit großem Lob. Es seien Menschen von ausgezeichneter Bildung gewesen, bei denen er immer gerne verweilt, und die auch den alten Heiden immer recht wol in ihrer Mitte geduldet hätten. Über das Schlossersche Ehepaar befragt, berichtete ich, was mir bekannt war, rühmte ihre Gastfreiheit, ihren schönen Wohnort in der Nähe von Heidelberg und fügte hinzu: es sei unbegreiflich, daß zwei Menschen von so klarem Verstand in diesen Bigottismus hätten verfallen können. »Wol ist das schwer zu begreifen,« erwiderte er; »ja wenn sie noch vielleicht eine große Sünde begangen hätten, die sie nur im Schooße der allein seligmachenden Kirche abzubüßen hätten hoffen können! Aber so sind sie die besten unschuldigsten Menschen von der Welt, die niemals etwas Böses gethan haben.« Er sprach dann von ihrem letzten Aufenthalt bei ihm, und als ich sagte, daß er doch in religiösen Punkten sehr schwer mit ihnen werde harmonirt haben, entgegnete er: imallgemeinen mache der Unterschied von Protestanten und Katholiken ihn niemals[181] irre; er frage gar nicht darnach, er bemerke es nicht einmal und wisse kaum, wer von seiner Umgebung zu den einen oder andern gehöre. Allein freilich habe eine so scharf hervortretende Bigotterie immer verhindert, zu einem vollen inneren Verständniß zu kommen.
Ich wandte das Gespräch auf seine literarischen Productionen, insbesondere auf »Faust« und die »Italienische Reise«. Er äußerte sich darüber mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit. Die »Italienische Reise« seien Briefe, die er an seine Freunde geschrieben und die er sich habe zurückgeben und drucken lassen, weil er geglaubt, sie möchten wol für manche interessant sein. In der eben erscheinenden neuen Ausgabe seiner Werke wolle er jetzt noch Nachträge liefern. In seinem »Faust« habe er das unruhige Wogen und Treiben im Menschen einmal schildern wollen. Ich sagte, es habe mich sehr gelächert, am Schlusse [des zuerst veröffentlichten Bruchstückes] des zweiten Theils des »Faust« die Worte »Ist fortzusetzen« zu finden, da bekanntlich immer soviel darüber gestritten worden, ob das Gedicht überhaupt fortgesetzt werden könne oder nicht, ob Faust der Teufel geholt habe oder nicht; nun seien die armen Leute doch in Zweifel und Ungewißheit geblieben. »Freilich,« erwiederte er mit der lieblichsten Schalkheit, »könnte das nun noch lange Zeit so fortgehen. Ja, man muß es wol einem alten Mann verzeihen, wenn er sich manchmal so einen kleinen Scherz erlaubt.«
[182] Ich entledigte mich der vom Grafen Sternberg aufgetragenen Empfehlungen. Er sagte einiges zu seinem Lobe und erkundigte sich nach der Medaille, die gerade jetzt ihm zu seinem Gedächtniß geprägt werde, bemerkend, daß wenn sie von geschickter Hand ausgeführt werde, man etwas Schönes zu erwarten berechtigt sei, da das Profil des Mannes bedeutende Formen zeige. Meine Frage, ob er noch immer sich hauptsächlich mit Naturwissenschaften beschäftige, bejahte er, hinzufügend: »Die Naturwissenschaften sind die einzigen, die uns auf einen sichern festen Grund führen, oder vielmehr, die uns nicht täuschen.« Der Sinn dieses mir damals etwas dunkeln Ausspruches ist mir später durch die Lectüre von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« klar geworden. Von der Naturforscherversammlung, die gerade damals wieder zusammentrat, sprach er mit Achtung: alles derart sei schon gut, weil es überhaupt zustande habe kommen können, ersprießliche Folgen für Wissenschaft und Gelehrte könnten da nicht ausbleiben.
Es war geraume Zeit während unserer Unterredung verstrichen; ich bemerkte, daß er sie beendigt wünsche, und stand auf. Er empfahl mir schließlich den Besuch der Großherzogin-Mutter, ihre hohen Eigenschaften rühmend und entließ mich.[183]
1230.*
1829, gegen Mitte October.
Bei einem Besuche im Herbst 1829 fand ich ihn wieder an einer Augenentzündung leidend, mit einem[153] grünseidenen Schirm gegen Tages- und Lampenlicht geschützt. »Das hohe Alter« – sagte er – »fordert so manchen Tribut von uns. Verdunkelung des Augenlichts – wir haben ja mit gutem Grunde das Auge ›sonnenhaft‹ genannt – ist vor allem der empfindlichste für mich, da ich dadurch an mancher, mir lieben Gewohnheit und Beschäftigung verhindert werde.«[154]
1231.*
1829, 16. October und w.
»Wenn mich auch« – äußerte Goethe heute zu mir – »keine andere Nation mit Besuchern so belästigt und mitunter auch durch die bloße Neugier langweilt, wie die englische, so muß ich doch auch zugeben, und hab' es auch schon selbst oft erfahren, daß kein anderer Landsmann, was splendide Schicklichkeit betrifft, es dem Engländer zuvorthut. Mir hatte vor sechs bis acht Wochen ein mit unserer Literatur sich beschäftigender Engländer eine Übersetzung meines ›Faust‹ in zierlicher Reinschrift mit dem Ersuchen zugesendet, mich einer Begutachtung derselben zu unterziehen. Mit höflichster Entschuldigung, daß ein Augenleiden mir es nicht gestatte, Handschriftliches zu lesen, bat ich zu entschuldigen, wenn ich seinem Wunsche in nächster Zeit zu entsprechen nicht imstande sein würde. Da erhalte ich nun gestern von dem edlen Lord ein eigens für[154] mich mit splendiden großen Lettern auf Velin gedrucktes Exemplar mit dem Wunsche, daß es mir möglich sein werde, diese Schrift lesen zu können, ohne dadurch meinen Augen zu schaden. Dr. Vogel, der mich heute beim Lesen dieses großartigen Geschenkes fand, will mir nicht gestatten, vor vier bis fünf Wochen meine noch immer entzündete Netzhaut in Versuchung zu führen. Nun möchte ich aber doch dem edlen Lord über seine Arbeit und die mir bewiesene Aufmerksamkeit einige freundliche Worte sagen, und bitte Sie daher, die Übersetzung mit sich zu nehmen, und mir, was Sie darin Bemerkenswerthes finden, mitzutheilen und die betreffenden Stellen vorzulesen.«[155]
1232.*
1829, 17. October und folgends.
Am folgenden Tage fand ich mich zu der mir bestimmten Stunde ein, las zuerst die ›Zueignung‹ vor, welche Goethe sehr gelungen fand und derselben den Vorzug vor einer, ihm ebenfalls in diesen Tagen zugeschickten französischen Übersetzung [von Stapfer] (mit lityhgraphirten Illustrationen in Folio [von Delacroix]) zuerkannte. Als ich ferner mittheilte, wie es mich im hohen Grade befremdet habe, daß die prachtvolle Eröffnungsscene im Himmel in der Übersetzung fehle, da sie mir doch zum Verständniß der Tragödie von[155] höchster Bedeutung, ja unerläßlich zu sein scheine und außerdem als das Erhabenste und Heiligste, was jemals gedichtet worden sei, bewundert werde, mir auch die Schwierigkeit der Übertragung in's Englische nicht unüberwindlich erscheine, bemerkte Goethe: »Nicht die Schwierigkeit der Übersetzung wird den edlen Lord behindert haben, es sind religiöse, oder vielmehr hoch-kirchliche Scrupel; vielleicht nicht seine eigenen, aber die seiner vornehmen Gesellschaft. Nirgendwo giebt es soviel Heuchler und Scheinheilige, wie in England; zu Shakespeare's Zeit mag das doch wohl anders gewesen sein.«
Weiter hatte ich mitzutheilen, daß mir Gretchens Lied ›Es war ein König in Thule‹ nicht ganz getreu wiedergegeben zu sein scheine.
Die Stelle:
Und als er kam zu sterben,
Zählt' er seine Städt' im Reich,
Könnt alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich
hat Mylord übersetzt
He called for his confessor,
Left all to his successor –
(Auf dem Sterbebette ließ er seinen Beichtvater – confessor – rufen), wahrscheinlich nur wegen des Reimes auf successor – Nachfolger. Goethe lachte herzlich: »Ließ seinen Beichtvater rufen!« wiederholte[156] er; »wir wollen dem edlen Lord bemerklich machen, daß der König von Thule vor der Sündfluth regierte; Beichtväter gab es damals nicht.«
Auch über die französische Übersetzung Bericht zu erstatten, übertrug er mir, und da gab es denn auch der Curiosa viele. »Die neueren und neuesten Übersetzer des ›Faust‹« – bemerkte Goethe – »sind, was die Unkunde unserer Sprache betrifft, nicht hinter ihrer geistreichen und berühmten Landsmännin, der Frau v. Stael, zurückgeblieben, welche sich doch ein unbestreitbares Verdienst um die deutsche wie um die französische Nation erworben, indem sie durch ihr Buch Sur la litérature allemande ihren Landsleuten Bekanntschaft mit unseren Leistungen, den Deutschen Anerkennung bei den Franzosen verschafft hat. Wenn man aber einem, mit der französischen und deutschen Sprache vollkommen vertrauten Literatoren den Vers der Madame Stael aufgäbe,
Ne m'interprète pas mal, charmante créature!
so würde er schwerlich übersetzen, wie es bei mir heißt:
Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht!
Auch hätte Freund August Wilhelm v. Schlegel das lächerliche Mißverständniß beseitigen können, welches dadurch veranlaßt wird, daß Frau v. Stael die Worte Gretchens, als sie in der Kirche ohnmächtig niedersinkt und ausruft:
Nachbarin, Euer Fläschchen![157]
übersetzt:
Ma voisine, une goutte!
als ob Gretchen die Nachbarin um ihre Branntweinflasche anspräche, nicht um das Riechfläschchen.«
Das gab Veranlassung, noch anderer dergleichen belustigender Übersetzungen zu gedenken.
Faust: Heiße Magister, heiße Doctor gar!
ist übersetzt worden:
On me nomme Maître – Docteur Gar.
Von Gretchen sagt Faust:
Und wie sie kurz angebunden war,
Das ist nun zum Entzücken gar!
Hierbei läßt der Übersetzer das ›gar‹ unberücksichtigt, allein das ›kurz angebunden‹ – d.h. schnippisch – nimmt er für kurz aufgeschürzt und übersetzt:
Et sa robe courte, juste,
Vraiment, c'était à ravir!
Ein Engländer sprach seine Verwunderung darüber aus, daß der Vater in der Romanze ›Erlkönig‹ so übermäßig besorgt um den Knaben geschildert werde, da er doch mit einer so zahlreichen Familie gesegnet gewesen. Auf die Bemerkung, daß hiervon in dem Gedichte nichts erwähnt werde, recitirt er mit kaum geöffneten Lippen:
Dem Vater grauset, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das achtzehnte Kind[158]
... Auch durch Druckfehler sind sehr sinnentstellende Worte dem Dichter angedichtet worden. In einer, und noch dazu Cotta'schen Ausgabe der Werke hat der Setzer die Worte der an die Lieben in der Heimath denkenden Iphigenia –
Zu den Geliebten schweist der Blick-
zu verbessern gemeint und gesetzt: zu dem Geliebten u.s.w.1 – Aus irgend einem Nachdrucke und noch dazu in Musik gesetzt hörte ich singen im ›König von Thule‹:
Die Augen gingen ihm über,
So oft trank er daraus.
... »Bei alledem« – bemerkte ich zu Goethe – »darf es uns Deutschen zu großer Genugthuung gereichen, wenn wir sehen, wie das tiefsinnigste Werk der deutschen Dichtkunst – der ›Faust‹ – wie ein Evangelium durch die ganze Welt seine Völkerwanderung angetreten hat, und wie Dichter und Philosophen der fremden Nationen sich bemühen, in den Geist desselben einzudringen.« – Mit zustimmendem Kopfnicken äußerte Goethe: »Nun ja! wir sind so etwas deutscher Sauerteig gewesen; das fängt schon an zu gähren; sie mögen es draußen und drüben mit ihrer Masse durchkneten und sich daraus ein Backwerk nach[159] ihrem Geschmack zurechtmachen. Unterdessen werden wir zuhaus uns nach und nach in diesem wunderlichen Labyrinthe zurechtfinden lernen.«
Die dem Dichter zuletzt zugesandte französische Übersetzung war in Folio und mit Lithographien illustrirt. »Lassen Sie nun einmal die Auffassung eines Franzosen mit der eines Deutschen und zwar eines, wie sich diese Herren zu sein rühmen dürfen, von ächtem Schrot und Korn vergleichen.« Er bat seinen Hausfreund Schuchardt, die Mappe mit Cornelius' Zeichnungen zum ›Faust‹ aus dem Schranke zu nehmen, und wir legten die Scenen, welche gleichmäßig von den französischen und deutschen Künstlern gewählt worden waren, nebeneinander. »Ich sollte wohl« – äußerte Goethe, »mich hierbei eines Urtheils enthalten; denn dasselbe könnte leicht als captivirt erscheinen durch das sinnig und poetisch concipirte, fleißig und correct ausgeführte Blatt, mit welchem der ehrenwerthe Künstler mir sein Werk zugeeignet hat. Nur diese eine Bemerkung will ich mir erlauben, daß in einigen Zeichnungen der Franzos für einen Deutschen und umgekehrt der Deutsche in einigen seiner Zeichnungen für einen Franzosen gelten könnte. So z.B. sogleich das erste Blatt, wo beide die Scene illustriren, in welcher Faust dem, aus der Kirche sittsam nachhaus gehenden Gretchen seinen Arm anbietet. Cornelius' Faust würde weit eher für einen französischen Cavalier der Pariser Boulevards, als für einen deutschen Doctor der Philosophie[160] gelten können, während wir dem Faust des Franzosen etwa vor dem Münster in Straßburg zu der Zeit, als es noch zu Deutschland gehörte, zu begegnen meinen.« – Als einer der Anwesenden hierbei in Anregung brachte, daß der Dichter doch dem so vielfach an ihn gerichteten Ansuchen, seinen ›Faust‹ für die Darstellung auf der Bühne einzurichten, nachkommen möchte, unterbrach ihn Goethe mit der sehr bestimmt ausgesprochenen Erwiederung, daß er hierzu nie rathen2 und noch weniger seine Hand dazu bieten werde. »Von meinem lieben Freunde Zelter« – sagte Goethe – »habe ich ausführliche und befriedigende Nachrichten über die Compositionen des Fürsten Radziwill und über die Proben und ersten Versuche, später auch über die gelugenen Aufführung in Euren königlichen Schlössern und fürstlichen Palästen erhalten, die mich wohl verlocken könnten; indessen wollen wir es noch weiter bedenken.«
1 Mickiewicz erhielt das gedrucke Gedicht »Am achtundzwanzigsten August 1826« handschriftlich unterzeichnet: »Weimar, 28. Aug. 1829. J. W. v. Goethe.«
2 C'est un sépia représentant un Paysage au centre duquel est l'entrée d'une hutte de bûcheron. Un cours d'eau, quelques arbres, des accidents de terrain, un coin de ciel disputé, répandant sur cette composition vivement touchée un caractère de violence qui n'est pas sans grandeur.[161]
1233.*
1829, 6. December.
Heute nach Tische las Goethe mir die erste Scene vom zweiten Act des ›Faust‹.
– – – – – – – – – – – – – – – – –
[161] Ich freute mich an der jugendlich productiven Kraft und wie alles so knapp beisammen war. »Da die Conception so alt ist,« sagte Goethe, »und ich seit funfzig Jahren darüber nachdenke, so hat sich das innere Material so sehr gehäuft, daß jetzt das Ausscheiden und Ablehnen die schwere Operation ist. Die Erfindung des ganzen zweiten Theils ist wirklich so alt wie ich sage. Aber daß ich ihn erst jetzt schreibe, nachdem ich über die weltlichen Dinge so viel klarer geworden, mag der Sache zu gute kommen. Es geht mir damit wie einem, der in seiner Jugend sehr viel kleines Silber und Kupfergeld hat, das er während dem Lauf seines Lebens immer bedeutender einwechselt, sodaß er zuletzt seinen Jugendbesitz in reinen Goldstücken vor sich sieht.«
Wir sprachen über die Figur des Baccalaureus. »Ist in ihm,« sagte ich, »nicht eine gewisse Classe ideeller Philosophen gemeint?«
»Nein,« sagte Goethe, »es ist die Anmaßlichkeit in ihm personificirt, die besonders der Jugend eigen ist, wovon wir in den ersten Jahren nach unserm Befreiungskriege so auffallende Beweise hatten. Auch glaubt jeder in seiner Jugend, daß die Welt eigentlich erst mit ihm angefangen, und daß alles eigentlich um seinetwillen da sei. Sodann hat es im Orient wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen seine Leute um sich versammelte und sie nicht eher an die Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen[162] aufzugehen. Aber hierbei war er so klug, diesen Befehl nicht eher auszusprechen, als bis die Sonne wirklich auf dem Punkt stand, von selber zu erscheinen.«
Wir sprachen noch vieles über den ›Faust‹ und dessen Composition sowie über verwandte Dinge.
Goethe war eine Weile in stilles Nachdenken versunken; dann begann er folgendermaßen:
»Wenn man alt ist,« sagte er, »denkt man über die weltlichen Dinge anders, als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, daß jeder nach ihnen strebt, und so groß, daß niemand sie erreicht. So stellten sie den Rafael hin, bei dem Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne treffliche Nachkommen haben sich ihm genähert, aber erreicht hat ihn niemand. So stellten sie den Mozart hin als etwas Unerreichbares in der Musik. Und so in der Poesie Shakespeare. Ich weiß, was Sie mir gegen diesen sagen können, aber ich meine nur das Naturell, das große Angeborene der Natur. So steht Napoleon unerreichbar da. Daß die Russen sich gemäßigt haben und nicht nach Konstantinopel hineingegangen sind, ist zwar sehr groß, aber auch ein solcher Zug, findet sich in Napoleon, denn auch er hat sich gemäßigt und ist nicht nach Rom gegangen.«[163]
1234.*
1829, 14. December.
Gestern bin ich bald nach Empfang des an mich Gesendeten zu Herrn Staatsminister v. Goethe gegangen, habe ihm Ihren [der Frau v. Wolzogen] Brief übergeben, sowie auch das Billet der verwittweten Frau Großherzogin an Sie und das Manuscript. Er hat in meiner Gegenwart alles gelesen und sich mit mir weitläufig über die ganze Angelegenheit unterhalten. Das Resultat des Gesprächs war ungefähr folgendes: Es ergebe sich aus dem Brief des Großherzogs an Sie [aus Mai 1801] offenbar, daß derselbe aus Gründen, welche in dem Brief nicht enthalten sind, die Aufführung der ›Jungfrau von Orleans‹ auf der hiesigen Bühne vermeiden wollte, daß er dieses recht gefällig einkleidete und überhaupt seine aufrichtige Achtung und gütige Gesinnung gegen Schiller geäußert, aber doch immer den Wunsch gegen die Aufführung des Stücks vorwalten lasse. Aus dem Billet der Frau Großherzogin-Wittwe ersehe man ebenfalls, daß es ihr nicht angenehm sein würde, den Brief ihres hochseligen Gemahls durch den Druck dem Publicum bekannt werden zu lassen, und so trage er, Herr v. Goethe, Bedenken, Ihnen den Druck des Briefes anzurathen, vielmehr sei er nach Überlegung der gesammten Umstände geneigt zu glauben, daß es besser sei, solchen[164] wegzulassen. In der Correspondenz zwischen ihm und Schiller hätten sich auch manche Stellen befunden, welche von Ähnlichem gehandelt hätten, und er habe solche im Druck auszulassen für gut befunden .....
Noch muß ich bemerken, daß Goethe meint: Sie müßten freilich in der Druckschrift angeben, warum ›Die Jungfrau von Orleans‹ zuerst in Leipzig und nicht in Weimar aufgeführt worden, allein man könnte sich in der Anzeige dieses Umstandes kurz fassen und allenfalls nur sagen, daß Theaterverhältnisse daran schuldgewesen seien.[165]
1235.*
1829, 16. December.
Heute nach Tische las Goethe mir die zweite Scene des zweiten Actes von ›Faust‹, wo Mephistopheles zu Wagner geht, der durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist. Das Werk gelingt, der Homunculus erscheint in der Flasche als leuchtendes Wesen und ist sogleich thätig. Wagner's Fragen über unbegreifliche Dinge lehnt er ab, das Raisonniren ist nicht seine Sache; er will handeln, und da ist ihm das Nächste unser Held Faust, der in seinem paralysirten Zustande einer höhern Hilfe bedarf. Als ein Wesen, dem die Gegenwart durchaus klar und durchsichtig ist, sieht der Homunculus das Innere des schlafenden Faust,[165] den ein schöner Traum von der Leda beglückt, wie sie in anmuthiger Gegend badend von Schwänen besucht wird. Indem der Homunculus diesen Traum ausspricht, erscheint vor unserer Seele das reizendste Bild. Mephistopheles sieht davon nichts, und der Homunkulus verspottet ihn wegen seiner nordischen Natur.
»Überhaupt,« sagte Goethe, »werden Sie bemerken, daß der Mephistopheles gegen den Homunculus in Nachtheil zu stehen kommt, der ihm an geistiger Klarheit gleicht und durch seine Tendenz zum Schönen und förderlich Thätigen so viel vor ihm voraus hat. Übrigens nennt er ihn Herr Vetter; denn solche geistige Wesen wie der Homunculus, die durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählte man zu den Dämonen, wodurch denn unter beiden eine Art von Verwandtschaft existirt.«
»Gewiß,« sagte ich, »erscheint der Mephistopheles hier in einer untergeordneten Stellung, allein ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß er zur Entstehung des Homunculus heimlich gewirkt hat, so wie wir ihn bisher kennen und wie er auch in der Helena immer als heimlich wirkendes Wesen erscheint. Und so hebt er sich denn imganzen wieder und kann sich in seiner superioren Ruhe im einzelnen wohl etwas gefallen lassen.«
»Sie empfinden das Verhältniß sehr richtig,« sagte Goethe; »es ist so, und ich habe schon gedacht, ob ich[166] nicht dem Mephistopheles, wie er zu Wagner geht und der Homunculus im Werden ist, einige Verse in den Mund legen soll, wodurch seine Mitwirkung ausgesprochen und dem Leser deutlich würde.«
»Das könnte nicht schaden,« sagte ich. »Angedeutet jedoch ist es schon, indem Mephistopheles die Scene mit den Worten schließt:
Am Ende hängen wir doch ab
Von Creaturen, die wir machten.«
»Sie haben recht,« sagte Goethe, »dies könnte dem Aufmerkenden fast genug sein; indeß will ich doch noch auf einige Verse sinnen.«
»Aber,« sagte ich, »jenes Schlußwort ist ein großes, das man nicht so leicht ausdenken wird.«
»Ich dächte,« sagte Goethe, »man hätte eine Weile daran zu zehren. Ein Vater, der sechs Söhne hat, ist verloren, er mag sich stellen wie er will. Auch Könige und Minister, die viele Personen zu großen Stellen gebracht haben, mögen aus ihrer Erfahrung sich etwas dabei denken können.«
Faust's Traum von der Leda trat mir wieder vor die Seele, und ich übersah dieses im Geist als einen höchst bedeutenden Zug in der Composition.
»Es ist wunderbar,« sagte ich, »wie in einem solchen Werke die einzelnen Theile aufeinander sich beziehen, aufeinander wirken und einander ergänzen und heben. Durch diesen Traum von der Leda hier im zweiten[167] Act gewinnt später die Helena erst das eigentliche Fundament. Dort ist immer von Schwänen und einer Schwanerzeugten die Rede, aber hier erscheint diese Handlung selbst, und wenn man nun mit dem sinnlichen Eindruck solcher Situation später zur Helena kommt, wie wird dann alles deutlicher und vollständiger erscheinen!«
Goethe gab mir recht, und es schien ihm lieb, daß ich dieses bemerkte. »So auch,« sagte er, »werden Sie finden, daß schon immer in diesen frühern Acten das Classische und Romantische anklingt und zur Sprache gebracht wird, damit es, wie auf einem steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beide Dichtungsformen entschieden hervortreten und eine Art von Ausgleichung finden.«
»Die Franzosen,« fuhr Goethe fort, »fangen nun auch an über diese Verhältnisse richtig zu denken. ›Es ist alles gut und gleich,‹ sagen sie, ›Classisches wie Romantisches, es kommt nur darauf an, daß man sich dieser Formen mit Verstand zu bedienen und darin vortrefflich zu sein vermöge. So kann man auch in beiden absurd sein, und dann taugt das eine so wenig wie das andere.‹ Ich dächte, das wäre vernünftig und ein gutes Wort, womit man sich eine Weile beruhigen könnte.«[168]
1236.*
1829, 20. December.
Bei Goethe zu Tische. Wir sprachen vom Kanzler [v. Müller], und ich fragte Goethe, ob er ihm bei seiner Zurückkunft aus Italien keine Nachricht von Manzoni mitgebracht. »Er hat mir über ihn geschrieben,« sagte Goethe. »Der Kanzler hat Manzoni besucht, er lebt auf seinem Landgute in der Nähe von Mailand und ist zu meinem Bedauern fortwährend kränklich.«
»Es ist eigen« sagte ich, »daß man so häufig bei ausgezeichneten Talenten, besonders bei Poeten findet, daß sie eine schwächliche Constitution haben.«
»Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten,« sagte Goethe, »setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine solche Organisation im Conflict mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht, wie Voltaire, mit großer Sensibiliät eine außerordentliche Zähheit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen. Schiller war noch beständig krank. Als ich ihn zuerst kennen lernte, glaubte ich, er lebte keine vier Wochen. Aber auch er hatte eine gewisse Zähheit; er hielt sich noch die vielen Jahre und hätte sich bei gesunderer Lebensweise noch länger halten können.«
[169] Wir sprachen vom Theater, und inwiefern eine gewisse Vorstellung gelungen sei.
»Ich habe Unzelmann in dieser Rolle gesehen,« sagte Goethe, »bei dem es einem immer wohl wurde, und zwar durch die große Freiheit seines Geistes, die er uns mittheilte. Denn es ist mit der Schauspielkunst wie mit allen übrigen Künsten: was der Künstler thut oder gethan hat, setzt uns in die Stimmung, in der er selber war, da er es machte. Eine freie Stimmung des Künstlers macht uns frei, dagegen eine beklommene macht uns bänglich. Diese Freiheit im Künstler ist gewöhnlich dort, wo er ganz seiner Sache gewachsen ist, weshalb es uns denn bei niederländischen Gemälden so wohl wird, indem jene Künstler das nächste Leben darstellten, wovon sie vollkommen Herr waren. Sollen wir nun im Schauspieler diese Freiheit des Geistes empfinden, so muß er durch Studium, Phantasie und Naturell vollkommen Herr seiner Rolle sein, alle körperlichen Mittel müssen ihm zu Gebote stehen, und eine gewisse jugendliche Energie muß ihn unterstützen. Das Studium ist indessen nicht genügend ohne Einbildungskraft, und Studium und Einbildungskraft nicht hinreichend ohne Naturell. Die Frauen thun das meiste durch Einbildungskraft und Temperament, wodurch denn die Wolff so vortrefflich war.«
Wir unterhielten uns ferner über diesen Gegenstand, wobei die vorzüglichsten Schauspieler der weimarischen[170] Bühne zur Sprache kamen und mancher einzelnen Rolle mit Anerkennung gedacht wurde.
Mir trat indeß der ›Faust‹ wieder vor die Seele, und ich gedachte des Homunculus, und wie man diese Figur auf der Bühne deutlich machen wolle. »Wenn man auch das Persönchen selber nicht sähe,« sagte ich, »doch das Leuchtende in der Flasche müßte man sehen, und das Bedeutende, was er zu sagen hat, müßte doch so vorgetragen werden, wie es von einem Kinde nicht geschehen kann.«
»Wagner,« sagte Goethe, »darf die Flasche nicht aus den Händen lassen, und die Stimme müßte so kommen, als wenn sie aus der Flasche käme. Es wäre eine Rolle für einen Bauchredner, wie ich deren gehört habe, und der sich gewiß gut aus der Affaire ziehen würde.«
So auch gedachten wir des großen Carnevals, und inwiefern es möglich, es auf der Bühne zur Erscheinung zu bringen. »Es wäre doch noch ein wenig mehr,« sagte ich, »wie der Markt von Neapel.«
»Es würde ein sehr großes Theater erfordern,« sagte Goethe, »und es ist fast nicht denkbar.«
»Ich hoffe es noch zu erleben,« war meine Antwort. »Besonders freue ich mich auf den Elefanten, von der Klugheit gelenkt, die Viktoria oben, und Furcht und Hoffnung in Ketten an den Seiten. Es ist doch eine Allegorie wie sie nicht leicht besser existiren möchte.«[171] »Es wäre auf der Bühne nicht der erste Elefant,« sagte Goethe. »In Paris spielt einer eine völlige Rolle; er ist von einer Volkspartei und nimmt dem einen König die Krone ab und setzt sie dem andern auf, welches freilich grandios sein muß. Sodann, wenn am Schlusse des Stücks der Elefant herausgerufen wird, erscheint er ganz allein, macht seine Verbeugung und geht wieder zurück. Sie sehen also, daß bei unserem Carneval auf den Elefanten zu rechnen wäre. Aber das Ganze ist viel zu groß und erfordert einen Regisseur, wie es deren nicht leicht giebt.«
»Es ist aber so voller Glanz und Wirkung,« sagte ich, »daß eine Bühne es sich nicht leicht wird entgehen lassen. Und wie es sich aufbaut und immer bedeutender wird! Zuerst schöne Gärtnerinnen und Gärtner, die das Theater decoriren und zugleich eine Masse bilden, sodaß es den immer bedeutender werdenden Erscheinungen nicht an Umgebung und Zuschauern mangelt; dann, nach dem Elefanten, das Drachengespann aus dem Hintergrunde durch die Lüfte kommend, über den Köpfen hervor; ferner die Erscheinung des großen Pan, und wie zuletzt alles in scheinbarem Feuer steht und schließlich von herbeiziehenden feuchten Nebelwolken gedämpft und gelöscht wird! Wenn das alles so zur Erscheinung käme, wie Sie es gedacht haben, das Publicum müßte vor Erstaunen dasitzen und gestehen, daß es ihm an Geist und Sinnen fehle, den Reichthum solcher Erscheinungen würdig aufzunehmen.«
[172] »Geht nur,« sagte Goethe, »und laßt mir das Publicum, von dem ich nichts hören mag. Die Hauptsache ist, daß es geschrieben steht; mag nun die Welt damit gebaren, so gut sie kann, und es benutzen, so weit sie es fähig ist.«
Wir sprachen darauf über den Knaben Lenker.
»Daß in der Maske des Plutus der Faust steckt, und in der Maske des Geizes der Mephistopheles, werden Sie gemerkt haben. Wer aber ist der Knabe Lenker?« Ich zauderte und wußte nicht zu antworten. »Es ist der Euphorion!« sagte Goethe.
»Wie kann aber dieser,« fragte ich, »schon hier im Carneval erscheinen, da er doch erst im dritten Act geboren wird?«
»Der Euphorion,« antwortete Goethe, »ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personificirt, die an keine Zeit, an keinen Ort und an keine Person gebunden ist. Derselbige Geist, dem es später beliebt Euphorion zu sein, erscheint jetzt als Knabe Lenker, und er ist darin den Gespenstern ähnlich, die überall gegenwärtig sein und zu jeder Stunde hervortreten können.«[173]
1237.*
1829, 27. December.
Heute nach Tische las Goethe mir die Scene vom Papiergelde.
[173] »Sie erinnern sich,« sagte er, »daß bei der Reichsversammlung das Ende vom Liede ist, daß es an Geld fehlt, welches Mephistopheles zu verschaffen verspricht. Dieser Gegenstand geht durch die Maskerade fort, wo Mephistopheles es anzustellen weiß, daß der Kaiser in der Maske des großen Pan ein Papier unterschreibt welches, dadurch zu Geldeswerth erhoben, tausendmal vervielfältigt und verbreitet wird.
In dieser Scene nun wird die Angelegenheit vor dem Kaiser zur Sprache gebracht, der noch nicht weiß, was er gethan hat. Der Schatzmeister übergiebt die Banknoten und macht das Verhältniß deutlich. Der Kaiser, anfänglich erzürnt, dann bei näherer Einsicht in den Gewinn hoch erfreut, macht mit der neuen Papiergabe seiner Umgebung reichliche Geschenke und läßt im Abgehen noch einige tausend Kronen fallen, die der dicke Narr zusammenrafft und sogleich geht, um das Papier in Grundbesitz zu verwandeln.«
Indem Goethe die herrliche Scene las, freute ich mich über den glücklichen Griff, daß er das Papiergeld von Mephistopheles herleitet und dadurch ein Hauptinteresse des Tages so bedeutend verknüpft und verewigt.
Kaum war die Scene gelesen und manches darüber hin- und hergesprochen, als Goethes Sohn herunterkam und sich zu uns an den Tisch setzte. Er erzählte uns von Coopers letztem Roman, den er gelesen und den er in seiner anschaulichen Art auf das beste referirte.[174] Von unserer gelesenen Scene verriethen wir nichts, aber er selbst fing sehr bald an viel über preußische Tresorscheine zu reden, und daß man sie über den Werth bezahle. Während der junge Goethe so sprach, blickte ich den Vater an mit einigem Lächeln, welches er erwiederte, und wodurch wir uns zu verstehen gaben, wie sehr das Dargestellte an der Zeit sei.[175]
1238.*
1829, 30. December.
Heute nach Tische las Goethe mir die fernere Scene.
»Nachdem sie nun am kaiserlichen Hofe Geld haben,« sagte er, »wollen sie amüsirt sein. Der Kaiser wünscht Paris und Helena zu sehen, und zwar sollen sie durch Zauberkünste in Person erscheinen. Da aber Mephistopheles mit dem griechischen Alterthum nichts zu thun und über solche Figuren keine Gewalt hat, so bleibt dieses Werk Fausten zugeschoben, dem es auch vollkommen gelingt. Was aber Faust unternehmen muß, um die Erscheinung möglich zu machen, ist noch nicht ganz vollendet, und ich lese es Ihnen das nächste Mal. Die Erscheinung von Paris und Helena selbst aber sollen Sie heute hören.«[175]
1239.*
1829.
Sie erhielt zuerst von ihm einen Besuch, den sie erwiederte; sie kam dann noch einmal wie auch er, wobei er dann die [Weimarer Jubiläums-] Medaillen überbrachte. »Ich kann« – sagte er – »mich nicht erinnern, daß seit Langem etwas solchen Eindruck und solch Vergnügen mir gemacht hätte, wie Ihr Spiel« – und ließ sich aus über Musik und Vortrag. Zu Müller hatte er gesagt: er hätte wieder eine jener Künstlerinnen zu hören erwartet, welche die größte Mühe darauf verwenden, schwere Passagen durchzuführen; denn das sei man von den Virtuosen gewohnt; allein er habe sich darin getäuscht und seelenvolle, tiefe, gemüthreiche Musik gehört.
Goethe hatte in seinem Hause auch einen Flügel, da mußte Caroline öfters spielen – einmal ganze drei Viertelstunden lang, indeß Goethe dasaß, die Rechte in die Brust gelegt und still in sich gekehrt.
[Bei Überreichung der gedachten Medaillen sprach Goethe:]
»Nehmen Sie das! und wenn ich einmal nicht mehr bin, erlangt es vielleicht für sie einen Werth in den Erinnerungen, die es Ihnen zurückrufen soll.«[176]
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