Algarotti

[602] geboren 1712, gestorben 1774


Stammend aus einem reichen venezianischen Kaufmannshause, erhielt er bei sehr schönen Fähigkeiten seine erste Bildung in Bologna, reiste schon sehr jung, und kam im[602] zwanzigsten Jahre nach Paris. Dort ergriff auch er den Weg der Popularisation eines abstrusen Gegenstandes, um sich bekannt und beliebt zu machen. Newton war der Abgott des Tages, und das siebenfarbige Licht ein gar zu lustiger Gegenstand. Algarotti betrat die Pfade Fontenelles, aber nicht mit gleichem Geist, gleicher Anmut und Glück.

Fontenelle steht sowohl in der Konzeption als in der Ausführung sehr viel höher. Bei ihm geht ein Abbé mit einer schönen Dame, die aber mit wenig Zügen so geschildert ist, daß einem kein Liebesverhältnis einfallen kann, bei sternhellem Himmel spazieren. Der Abbé wird über dieses Schauspiel nachdenklich; sie macht ihm Vorwürfe, und er macht ihr dagegen die Würde dieses Anblicks begreiflich. Und so knüpft sich das Gespräch über die Mehrheit der Welten an. Sie setzen es immer nur abends fort und der herrlichste Sternhimmel wird jedesmal für die Einbildungskraft zurückgerufen.

Von einer solchen Vergegenwärtigung ist bei Algarotti keine Spur. Er befindet sich zwar auch in der Gesellschaft einer schönen Marchesina, an welche viel Verbindliches zu richten wäre, umgeben von der schönsten italienischen Gegend; allein Himmel und Erde mit allen ihren bezaubernden Farben bieten ihm keinen Anlaß dar, in die Materie hinein zu kommen; die Dame muß zufälligerweise in irgendeinem Sonett von dem siebenfachen Lichte gelesen haben, das ihr denn freilich etwas seltsam vorkommt. Um ihr nun diese Phrase zu erklären, holt der Gesellschafter sehr weit aus, indem er, als ein wohlunterrichteter Mann, von der Naturforschung überhaupt und über die Lehre vom Licht besonders manches Historische und Dogmatische recht gut vorbringt. Allein zuletzt, da er auf die Newtonische Lehre übergehen will, geschieht es durch einen Sprung, wie denn ja die Lehre selbst durch einen Sprung in die Physik gekommen. Und wer ein Buch mit aufmerksamer Teilnahme zu lesen gewohnt ist, wird sogleich das Unzusammenhängende des Vortrags empfinden. Die Lehre kommt von nichts und geht zu nichts. Er[603] muß sie starr und steif hinlegen, wie sie der Meister überliefert hat.

Auch zeigt er sich nicht einmal so gewandt, die schöne Dame in eine dunkle Kammer zu führen, wohin er ja allenfalls, des Anstands und selbst des bessern Dialogs wegen, eine Vertraute mitnehmen konnte. Bloß mit Worten führt er ihr die Phänomene vor, erklärt sie mit Worten, und die schöne Frau wird auf der Stelle so gläubig als hundert andre. Sie braucht auch über die Sache nicht weiter nachzudenken; sie ist über die Farben auf immer beruhigt. Denn Himmelblau und Morgenrot, Wiesengrün und Veilchenblau, alles entspringt aus Strahlen und noch einmal Strahlen, die so höflich sind, sich in Feuer, Wasser, Luft und Erde, an allen lebendigen und leblosen Gegenständen, auf jede Art und Weise spalten, verschlucken, zurückwerfen und bunt herumstreuen zu lassen. Und damit glaubt er sie genugsam unterhalten zu haben, und sie ist überzeugt, genugsam unterrichtet zu sein.

Von jener Zeit an wird nun nicht leicht ein Dichter oder Redner, ein Verskünstler oder Prosaist gefunden, der nicht einmal oder mehreremal in seinem Leben diese farbige Spaltung des Lichts zum Gleichnis der Entwicklung des Ungleichartigen aus dem Gleichartigen gebraucht hätte; und es ist freilich niemand zu verargen, wenn einmal so eine wunderliche Synthese zum Behuf einer so wunderlichen Analyse gemacht worden, wenn der Glaube daran allgemein ist, daß er sie auch zu seinem Behuf, es sei nun des Belehrens und Überzeugens oder des Blendens und Überredens, als Instanz oder Gleichnis beibringe.

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 602-604.
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