Jean-Jacques d'Ortous de Mairan

[595] geboren 1678, gestorben 1771


Ein Mann, gleichsam von der Natur bestimmt, mit Fontenellen zu wetteifern, unterrichtet, klar, scharfsinnig, fleißig, von einer sozialen und höchstgefälligen Natur. Er folgte Fontenellen im Sekretariat bei der Akademie, schrieb einige Jahre die erforderlichen Lobreden, erhielt sich die Gunst der vornehmen und rührigen Welt bis in sein Alter, das er beinahe so hoch als Fontenelle brachte. Uns geziemt nur, desjenigen zu gedenken, was er getan, um die Farbenlehre zu fördern.[595]

Schon mochte bei den Physikern vergessen sein, was Mariotte für diese Lehre geleistet; der Weg, den er gegangen, den er eingeleitet, war vielleicht zum zweitenmal von einem Franzosen nicht zu betreten. Er hatte still und einsam gelebt, so daß man beinahe nichts von ihm weiß, und wie wäre es sonst auch möglich gewesen, den Erfahrungen mit solcher Schärfe und Genauigkeit bis in ihre letzten notwendigsten und einfachsten Bedingungen zu folgen. Von Nuguet und demjenigen, was er im Journal von Trevoux geäußert, scheint niemand die mindeste Notiz genommen zu haben. Ebenso wenig von De la Hires richtigem Aperçu wegen des Blauen und Roten. Alles das war für die Franzosen verloren, deren Blick durch die magische Gewalt des englischen Gestirns fasziniert worden. Newton war Präsident einer schon gegründeten Sozietät, als die französische Akademie in ihrer ersten Bildungsepoche begriffen war; sie schätzte sich's zur Ehre, ihn zum Mitglied aufzunehmen, und von diesem Augenblick an scheinen sie auch seine Lehre, seine Gesinnungen adoptiert zu haben.

Gelehrte Gesellschaften, sobald sie, vom Gouvernement bestätigt, einen Körper ausmachen, befinden sich in Absicht der reinen Wahrheit in einer mißlichen Lage. Sie haben einen Rang und können ihn mitteilen; sie haben Rechte und können sie übertragen; sie stehen gegen ihre Glieder, sie stehen gegen gleiche Korporationen, gegen die übrigen Staatszweige, gegen die Nation, gegen die Welt in einer gewissen Beziehung. Im einzelnen verdient nicht jeder, den sie aufnehmen, seine Stelle; im einzelnen kann nicht alles, was sie billigen, recht, nicht alles was sie tadeln, falsch sein: denn wie sollten sie vor allen andern Menschen und ihren Versammlungen das Privilegium haben, das Vergangene ohne hergebrachtes Urteil, das Gegenwärtige ohne leidenschaftliches Vorurteil, das Neuauftretende ohne mißtrauische Gesinnung und das Künftige ohne übertriebene Hoffnung oder Apprehension zu kennen, zu beschauen, zu betrachten und zu erwarten.[596]

So wie bei einzelnen Menschen, um so mehr bei solchen Gesellschaften, kann nicht alles um der Wahrheit willen geschehen, welche eigentlich ein überirdisches Gut, selbständig und über alle menschliche Hülfe erhaben ist. Wer aber in diesem irdischen Wesen Existenz, Würde, Verhältnisse jeder Art erhalten will, bei dem kommt manches in Betracht, was vor einer höheren Ansicht sogleich verschwinden müßte.

Als Glied eines solchen Körpers, der sich nun schon die Newtonische Lehre als integrierenden Teil seiner Organisation angeeignet hatte, müssen wir Mairan betrachten, wenn wir gegen ihn gerecht sein wollen. Außerdem ging er von einem Grundsatze aus, der sehr löblich ist, wenn dessen Anwendung nur nicht so schwer und gefährlich wäre, von dem Grundsatze der Einförmigkeit der Natur, von der Überzeugung, es sei möglich, durch Betrachtung der Analogien ihrem Gesetzlichen näher zu kommen. Bei seiner Vorliebe für die Schwingungslehre erfreute ihn deswegen die Vergleichung, welche Newton zwischen dem Spektrum und dem Monochord anstellte. Er beschäftigte sich damit mehrere Jahre: denn von 1720 finden sich seine ersten Andeutungen, 1738 seine letzten Ausarbeitungen.

Rizzetti ist ihm bekannt, aber dieser ist schon durch Desaguliers aus den Schranken getrieben; niemand denkt mehr an die wichtigen Fragen, welche der Italiener zur Sprache gebracht; niemand an die große Anzahl von bedeutenden Erfahrungen, die er aufgestellt: alles ist durch einen wunderlichen Zauber in das Newtonische Spektrum versenkt und an demselben gefesselt, gerade so, wie es Newton vorzustellen beliebt.

Wenn man bedenkt, daß Mairan sich an die zwanzig Jahre mit dieser Sache wenigstens von Zeit zu Zeit abgegeben, daß er das Phänomen selbst wieder hervorgebracht, das Spektrum gemessen und die gefundenen Maße auf eine sehr geschickte, ja künstlichere Art als Newton selbst auf die Moll-Tonleiter angewendet; wenn man sieht, daß er in nichts weder an Aufmerksamkeit, noch an Nachdenken, noch an Fleiß[597] gespart, wie wirklich seine Ausarbeitung zierlich und allerliebst ist, so darf man es sich nicht verdrießen lassen, daß alles dieses umsonst geschehen, sondern man muß es eben als ein Beispiel betrachten, daß falsche Annahmen so gut wie wahre auf das genauste durchgearbeitet werden können.

Beinahe unbegreiflich jedoch bleibt es, daß Mairan, welcher das Spektrum wiederholt gemessen haben muß, nicht zufällig seine Tafel näher oder weiter vom Prisma gestellt hat, da er denn notwendig hätte finden müssen, daß in keinem von beiden Fällen die Newtonischen Maße treffen. Man kann daher wohl behaupten, daß er in der Dunkelheit seines Vorurteils immer erst die Tafel so gerückt, bis er die Maße nach der Angabe richtig erfunden. So muß auch sein Apparat höchst beschränkt gewesen sein: denn er hätte bei jeder größern Öffnung im Fensterladen und beibehaltner ersten Entfernung abermals die Maße anders finden müssen.

Dem sei nun, wie ihm wolle, so scheinet sich durch diese, im Grunde redlichen, bewundernswürdigen, und von der Akademie gebilligten Bemühungen die Newtonische Lehre nur noch fester gesetzt und den Gemütern noch tiefer eingeprägt zu haben. Doch ist es sonderbar, daß seit 1738, als unter welchem Jahre die gedachte Abhandlung sich findet, der Artikel Farbe aus dem Register der Akademie verschwindet und kaum späterhin wieder zum Vorschein kommt.

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 595-598.
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