Achtes Kapitel

[875] Als Sachar am nächsten Tag das Zimmer aufräumte, fand er auf dem Schreibtisch einen kleinen Handschuh, betrachtete ihn lange, lächelte und reichte ihn dann Oblomow.

»Wahrscheinlich hat ihn das Iljinskysche Fräulein vergessen«, sagte er.

»Zum Teufel!« donnerte Ilja Iljitsch ihn an, ihm den Handschuh aus den Händen reißend, »du lügst! Was für ein Iljinskysches Fräulein? Das gehört der Näherin aus dem Geschäft, die mir die Hemden zur Anprobe gebracht hat. Wie wagst du es, dir solche Sachen auszudenken?«

»Warum schimpfen Sie mich! Was denke ich mir denn aus? Man spricht ja schon bei der Hausfrau davon ...«

»Wovon spricht man

»Daß das Iljinskysche Fräulein mit ihrem Stubenmädchen hier war ...«

»Mein Gott!« rief Oblomow entsetzt aus, »woher kennen sie denn das Iljinskysche Fräulein? Du oder Anissja haben es ausgeplaudert ...«

Plötzlich schob sich Anissja bis zur Hälfte durch die Vorzimmertür.

»Wie, schämst du dich nicht, solchen Unsinn zu reden, Sachar Trofimitsch? Hören Sie ihm nicht zu, Väterchen, niemand hat das gesagt, weiß das und, bei Gott ...«

»Nun, nun, nun!« krächzte Sachar sie an, mit dem Ellbogen auf ihre Brust zielend, »warum steckst du überall deine Nase herein, wenn du gar nicht gefragt wirst!«[876]

Anissja verschwand. Oblomow drohte Sachar mit beiden Fäusten und öffnete dann rasch die Tür in die Zimmer der Hausfrau. Agafja Matwejewna saß auf dem Fußboden und durchsuchte den Kram in einem alten Koffer; neben ihr lagen Haufen von Fetzen, Watte, alten Kleidern, Knöpfen und Pelzstückchen.

»Hören Sie«, begann Oblomow freundlich, aber aufgeregt, »meine Dienstboten plaudern lauter dummes Zeug; glauben Sie ihnen um alles in der Welt nicht!«

»Ich habe nichts gehört«, sagte die Hausfrau. »Was plaudern sie

»Bezüglich des gestrigen Besuches«, fuhr Oblomow fort, »sie sagen, daß bei mir ein Fräulein war ...«

»Was geht es uns an, wer unsere Mietspartei besucht?« sagte die Hausfrau.

»Glauben Sie, bitte, nicht daran; das ist nichts als Verleumdung! Es war gar kein Fräulein da; es ist nur die Näherin hier gewesen, die mir Hemden näht. Sie hat sie mir zur Anprobe gebracht ...«

»Wo haben Sie Ihre Hemden bestellt? Wer näht Ihnen?« fragte die Hausfrau lebhaft.

»Im französischen Geschäft ...«

»Zeigen Sie sie mir, wenn man sie Ihnen bringt; ich kenne zwei Mädchen, die so nähen und so steppen, wie es keine Französin machen kann. Ich habe es gesehen, sie haben für den Grafen Metlinskij genäht und haben ihre Arbeit hergebracht, um sie mir zu zeigen; niemand kann das so machen. Die Hemden, die Sie tragen, sind bei weitem nicht so schön genäht ...«

»Sehr wohl, ich werde daran denken. Glauben Sie nur um Gottes willen nicht, daß das Fräulein da war ...«

»Was geht es uns an, wer zur Partei kommt? Und wenn es auch ein Fräulein war ...«

»Nein, nein!« leugnete Oblomow. »Aber ich bitte Sie, das Fräulein, das Sachar meint, ist sehr groß und hat eine Baßstimme, während diese Näherin, wie sie wohl gehört haben, mit einer ganz feinen Stimme spricht; sie hat eine wunderschöne Stimme. Bitte, glauben Sie nicht ...«[877]

»Was geht das uns an?« sagte die Hausfrau, als er ging.

»Vergessen Sie also nicht, mir zu sagen, wenn Sie sich Hemden nähen lassen wollen. Meine Bekannten können so steppen ... sie heißen Lisaweta Nikolawna und Maria Nikolawna.«

»Gut, gut, ich werde nicht vergessen; aber glauben Sie nur bitte nicht ...«

Und er ging, zog sich an und fuhr zu Oljga hin.

Als er abends nach Hause zurückkehrte, fand er auf seinem Tisch einen Brief von dem Gut, von seinem Nachbar, dem er die Vollmacht übersandt hatte. Er stürzte zur Lampe hin, las, und ihm sank der Mut.


»Ich möchte Sie sehr darum bitten, die Vollmacht jemand anderem zu übergeben« (schrieb der Nachbar), »denn ich habe so viel zu tun, daß ich Ihr Gut, offen gestanden, nicht, wie es sich gehört, beaufsichtigen kann. Es wäre besser, wenn Sie selbst herkämen, und am allerbesten, wenn Sie ganz hierher übersiedeln würden. Ihr Gut ist schön, aber sehr vernachlässigt. Vor allem müßte man die Abgaben und die Arbeiten genauer verteilen; das kann nicht in Abwesenheit des Besitzers geschehen; die Bauern sind ohne jede Zucht, sie hören nicht auf den neuen Dorfschulzen, und der alte ist ein Betrüger, man muß auf ihn ein Augenmerk haben. Die Einkünfte sind nicht zu berechnen. Bei der jetzt herrschenden Unordnung werden Sie wohl kaum über dreitausend bekommen, und auch das nur, wenn Sie selbst herkommen. Ich berechne dabei nur den Erlös des Getreides, denn von den Abgaben ist wenig zu erwarten; man muß die Bauern unter ein strenges Regiment bringen und die Zahlungsrückstände einziehen – dazu werden etwa drei Monate erforderlich sein. Das Korn ist gut geraten und wird zu guten Preisen verkauft, so daß Sie im März oder April Geld haben werden, wenn Sie den Verkauf selbst beaufsichtigen. Jetzt gibt es aber keine Kopeke an barem Gelde. Was die Straße über Werchljowo und die Brücke betrifft, so habe ich mich nunmehr entschlossen, da ich von Ihnen lange Zeit keine Antwort bekam, mit Odonzew und Bjelowodow zusammen die Straße von mir aus über Neljky anzulegen, so daß Oblomowka ganz seitwärts liegenbleibt. Zum Schluß wiederhole ich die Bitte,[878] Sie möchten recht bald herkommen; man kann in drei Monaten in Erfahrung bringen, was vom künftigen Jahr zu erhoffen ist. Außerdem finden jetzt die Wahlen statt; würden Sie sich nicht zum Kreisrichter wählen lassen? Beeilen Sie sich. Ihr Haus ist sehr schlecht« (stand in der Niederschrift). »Ich habe der Viehmagd, dem alten Kutscher und den zwei alten Mägden befohlen, von dort in ein Bauernhaus zu übersiedeln; es wäre gefährlich, länger darin zu bleiben.«


Dem Brief war eine Notiz beigelegt, wieviel Tschetwert Getreide geschnitten, gedroschen und in die Scheunen geschüttet wurden, wieviel davon zum Verkauf bestimmt wurden und andere ähnliche wirtschaftliche Details.

Kein Heller an barem Gelde, ich soll für drei Monate selbst kommen, die Angelegenheiten der Bauern ordnen, meine Einkünfte berechnen und ein Amt versehen; das alles umringte Oblomow, als wären es Gespenster. Er schien plötzlich in der Nacht in einen Wald hineingeraten zu sein und in jedem Busch und Baum einen Räuber, einen Geist oder ein wildes Tier zu sehen.

»Aber das ist ja eine Schande; ich werde mich davon nicht so unterkriegen lassen!« sagte er und versuchte mit diesen Gespenstern vertraut zu werden, wie ein Feigling mit geschlossenen Lidern sich bestrebt, die Gespenster anzuschauen und dabei nur Kälte im Herzen und Schwäche in den Händen und Füßen fühlt. Worauf hatte Oblomow denn gehofft? Er hatte geglaubt, es würde im Brief genau stehen, wieviel Einkünfte er zu erwarten hatte, und natürlich möglichst viel, zum Beispiel sechs-, siebentausend; außerdem sollte drin stehen, daß das Haus noch gut ist, so daß man im Notfall darin wohnen kann, bis das neue fertig wird, und zum Schluß, daß der Nachbar ihm drei-, viertausend Rubel schickt – er erwartete mit einem Wort, daß er im Briefe dasselbe Lachen, dasselbe schäumende Leben und die Liebe lesen würde, die er in Oljgas Briefchen fand. Er schwebte nicht mehr über dem Fußboden durch das Zimmer, scherzte nicht mit Anissja,[879] gab sich nicht mehr den Träumen von Glück hin; er muß sie jetzt für drei Monate verschieben; oder noch länger! Er würde in drei Monaten erst die Gutsangelegenheiten erledigen und mit seiner Besitzung vertraut werden, und die Hochzeit ... »An die Hochzeit ist vor einem Jahr gar nicht zu denken«, sagte er ängstlich, »ja, in einem Jahr, nicht früher!« Er mußte noch seinen Plan zu Ende schreiben, mit dem Architekten alles besprechen, dann ... dann ... Er seufzte. Das Geld leihen! fiel ihm ein; doch er stieß diesen Gedanken von sich. »Das ist unmöglich! Und wenn ich es nicht zur rechten Zeit zurückgeben kann? Wenn meine Angelegenheiten eine schlechte Wendung nehmen, wird man mir das Geld abfordern, und der Name Oblomow, der bis dahin so rein und unantastbar war ...« Nein, um nichts in der Welt! Dann wäre es mit seinem Stolz und seiner Ruhe zu Ende ... nein, nein! Andere leihen sich Geld aus und rackern sich dann ab, schlafen nicht, als hätten sie einen Dämon zu sich hereingelassen. Ja. Schulden sind ein Dämon, ein Teufel, den man nur mit Geld vertreiben kann! Es gibt solche Menschen, die das ganze Leben auf fremde Rechnung verbringen, sich rechts und links alles aneignen und sich nichts daraus machen! Es ist unbegreiflich, wie sie ruhig schlafen und essen können! Schulden! Ihre Folgen waren entweder endlose Arbeit, wie bei einem Zuchthäusler, oder Ehrlosigkeit. Das Gut verpfänden? War das denn nicht dieselbe Schuld, nur eine unaufschiebbare und erbarmungslose? Dann muß man jedes Jahr zahlen, so daß nichts zum Leben übrigbleibt. Das Glück war um ein ganzes Jahr fortgerückt! Oblomow stöhnte schmerzlich auf und warf sich aufs Bett; doch dann kam er plötzlich zur Besinnung und stand auf. Und was hatte Oljga ihm gesagt? Sie hatte vorausgesetzt, daß er ein Mann sei, und hatte sich seinen Kräften anvertraut? Sie erwartet, daß er vorwärtsschreiten und eine Höhe erreichen wird, von wo aus er ihr die Hand hinstrecken, sie mit sich führen und ihr den Weg zeigen kann! Ja, ja! Aber womit sollte er beginnen? Er dachte und dachte, schlug sich[880] dann mit der Hand auf die Stirn und ging in das Zimmer der Hausfrau.

»Ist Ihr Bruder zu Hause?« fragte er die Hausfrau.

»Ja, er schläft aber schon.«

»Also bitten Sie ihn, morgen zu mir zu kommen«, sagte Oblomow, »ich muß ihn sprechen.«

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 875-881.
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