|
[848] Er bemerkte nicht, daß Sachar ihm ein kaltes Mittagessen vorsetzte, wußte nicht, wie er dann ins Bett kam und in einen todähnlichen Schlaf versank. Am nächsten Tage erbebte er beim Gedanken daran, daß er zu Oljga fahren sollte, indem er sich lebhaft vorstellte, wie vielsagend alle ihn anblicken würden. Der Portier empfing ihn auch ohnehin eigentümlich freundlich; Sjemjon stürzte ganz kopflos hinaus, wenn er ein Glas Wasser verlangte; Katja und die Kinderfrau begleiteten ihn mit einem freundschaftlichen Lächeln hinaus. »Der Bräutigam, der Bräutigam!« steht bei ihnen allen auf der Stirne, und er hatte die Einwilligung der Tante noch nicht eingeholt, besaß keine Kopeke Geld und wußte nicht, wann er welches bekommen würde, er wußte nicht einmal, wieviel ihm das Gut in diesem Jahre tragen würde; er hatte kein Haus in seiner Besitzung – ein schöner Bräutigam! Er beschloß, daß er bis zum Eintreffen von genauen Berichten vom Gut Oljga nur am Sonntag in Anwesenheit anderer sehen wollte. Als dann der Tag kam, dachte er gar nicht daran, sich des Morgens zum Besuche bei Oljga vorzubereiten. Er rasierte sich nicht, kleidete sich nicht an, blätterte träge in den französischen Zeitungen herum, die er vorige Woche von Iljinskys mitgenommen hatte, sah nicht unaufhörlich auf die Uhr und furchte nicht die Stirne, wenn der Zeiger sich lange nicht vorwärts bewegte. Sachar und Anissja glaubten, er würde wie gewöhnlich außer Hause speisen, und fragten nicht, was gekocht werden sollte. Er schimpfte auf sie und erklärte, daß er durchaus nicht jeden Mittwoch bei Iljinskys esse,[849] daß es eine »Verleumdung« sei, er hatte bei Iwan Gerassimitsch gespeist, und er würde in Zukunft nur mit Ausnahme von Sonntag, und auch das nicht immer, zu Hause zu Mittag essen. Anissja rannte auf den Markt hin, um für Oblomows Lieblingssuppe Gekröse zu holen. Dann kamen die Kinder der Hausfrau zu ihm; er sah Wanjas Rechenheft durch und fand zwei Fehler. Er liniierte Maschas Heft und schrieb ihr das große A vor, dann hörte er dem Singen der Kanarienvögel zu und sah durch die halboffene Tür zu, wie sich die Ellbogen der Hausfrau bewegten und vorüberhuschten.
Gegen zwei Uhr fragte die Hausfrau durch die Tür, ob er nicht etwas essen wollte: sie hätte Käsekuchen gebacken. Man brachte ihm Käsekuchen und ein Gläschen Johannisbeerschnaps. Ilja Iljitschs Erregung beschwichtigte sich ein wenig, und er verfiel in stumpfes Sinnen, in dem er fast bis zum Essen verblieb. Nach dem Essen, als er vom Schlafe überwältigt auf dem Sofa liegend einzunicken begann, öffnete sich die Tür, die in die Zimmer der Hausfrau führte, und vor ihm erschien Agafja Matwejewna mit zwei Pyramiden von Strümpfen in beiden Händen. Sie legte sie auf zwei Stühle hin, während Oblomow aufsprang und ihr einen dritten anbot, doch sie setzte sich nicht; war es nicht gewohnt; sie war beständig auf den Füßen, von Sorge erfüllt, und befand sich in steter Bewegung.
»Ich habe heute Ihre Strümpfe durchgesehen«, sagte sie. »Es sind fünfundfünfzig Paare, sie sind aber fast alle zerrissen ...«
»Wie gut Sie sind!« sagte Oblomow an sie herantretend und sie scherzhaft bei den Ellbogen fassend.
Sie lächelte.
»Warum bemühen Sie sich? Ich muß mich wirklich schämen!«
»Das macht nichts; das ist meine Beschäftigung. Sie haben niemand, der es für Sie tut, und mir macht es Vergnügen«, fuhr sie fort. »Da sind zwanzig Paar, die nichts mehr wert sind; es ist nicht der Mühe wert, sie zu stopfen.«[850]
»Das ist nicht nötig. Lassen Sie das, bitte, ganz sein! Warum geben Sie sich damit ab! Ich kann mir ja neue kaufen ...«
»Es wäre schade, sie fortzuwerfen! Diese alle kann man anstricken.«
Sie begann die Strümpfe rasch zu zählen.
»Aber ich bitte Sie, setzen Sie sich doch! Warum stehen Sie?« sagte er zu ihr.
»Nein, ich danke bestens; ich habe keine Zeit zum Sitzen!« antwortete sie, seine Einladung wieder ablehnend. »Heute wird bei uns gewaschen; ich muß die Wäsche vorbereiten.«
»Sie sind eine großartige Hausfrau!« sagte er, den Blick auf ihren Hals und auf ihre Brust richtend.
Sie lächelte.
»Soll ich die Strümpfe anstricken?« fragte sie. »Dann werde ich Baumwolle und Zwirn kaufen. Uns bringt das eine Alte aus dem Dorf, hier lohnt es sich nicht einzukaufen. Man bekommt lauter abgelegene Ware.«
»Wenn Sie so gut sind, erweisen Sie mir diesen Dienst ... aber ich schäme mich wirklich, Ihnen so viel Unruhe zu verursachen.«
»Das macht nichts; was sollten wir sonst tun? Diese da werde ich selbst anstricken, jene gebe ich der Großmutter; morgen kommt meine Schwägerin auf Besuch. Wir werden abends frei sein und werden die Strümpfe anstricken. Mascha fängt auch schon zu stricken an, sie zieht aber immer die Nadeln heraus; sie sind für ihre Hände zu groß.«
»Ist es möglich, daß auch Mascha das lernt?«
»Bei Gott, ganz gewiß.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Oblomow, sie mit demselben Vergnügen betrachtend, mit dem er heute früh den heißen Käsekuchen angeschaut hatte. »Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar und werde nicht versäumen, meine Schuld zurückzuzahlen; ich werde Mascha seidene Kleider kaufen und sie wie eine Puppe anziehen.«
»Aber lassen Sie das! Was für eine Dankbarkeit? Wozu[851] braucht sie seidene Kleider? Man kann ihr nicht genug Kattunkleider kaufen. Es ist, als verbrenne alles auf ihr, besonders die Schuhe, wir können ihr nicht oft genug welche kaufen.«
Sie erhob sich und nahm die Strümpfe.
»Wohin eilen Sie denn?« fragte er. »Bleiben Sie da; ich bin jetzt frei.«
»Vielleicht ein anderes Mal, an einem Feiertag; beehren auch Sie uns, trinken Sie mit uns Kaffee. Und jetzt wird bei uns gewaschen; ich werde nachsehen, was Akulina macht, ob sie schon angefangen hat ...«
»Nun, gehen Sie mit Gott, ich wage nicht, Sie zurückzuhalten«, sagte Oblomow, mit den Augen ihrem Rücken und ihren Ellbogen folgend.
»Dann habe ich noch Ihren Schlafrock aus der Kammer hervorgeholt«, sprach sie weiter. »Man kann ihn ausbessern und waschen; der Stoff ist so gut! Er wird noch lange dienen.«
»Das war unnötig! Ich trage ihn nicht mehr, ich habe mir das abgewöhnt und brauche ihn nicht mehr.«
»Das schadet ja nicht; man kann ihn auswaschen. Vielleicht ziehen Sie ihn noch einmal an ... zur Hochzeit!« schloß sie lächelnd und schlug die Tür zu.
Ihm verging sogar der Schlaf; er spitzte die Ohren und riß die Augen auf.
»Auch sie weiß es, alle!« sagte er, sich auf ihren Sessel sinken lassend. »O Sachar, Sachar!«
Wieder ergoß sich ein Schwall von traurigen Worten über Sachar, wieder sprach Anissja mit der Nase, daß sie »zum ersten Male von der Hausfrau von der Hochzeit gehört hätte, sie hätte das in den Gesprächen mit jener gar nicht erwähnt, es würde ja gar keine Hochzeit stattfinden, das wäre ja ganz unmöglich! Das hätte wohl der Feind des menschlichen Geschlechtes ausgedacht, sie wollte gleich in die Erde sinken, und auch die Hausfrau sei bereit, vor dem Heiligenbilde zu schwören, daß sie vom Iljinskyschen Fräulein nichts gehört hatte, sondern irgendeine andere Braut meinte ...«[852]
Anissja sprach noch viel, so daß Ilja Iljitsch sie fortschickte. Sachar machte am folgenden Tag den Versuch, Oblomow um Erlaubnis zu bitten, in dem Hause auf der Gorochowaja, in dem sie früher gewohnt hatten, einen Besuch zu machen. Oblomow fuhr ihn aber so an, daß er dankbar war, seine Knochen heil fortzutragen. »Dort weiß man noch nichts, da willst du den Klatsch aussäen. Bleib zu Hause!« fügte er drohend hinzu.
Der Mittwoch verging. Am Donnerstag bekam Oblomow mit der Stadtpost einen Brief von Oljga, in dem sie ihn fragte, was geschehen sei, da er nicht gekommen war. Sie schrieb, sie hätte den ganzen Abend geweint und eine schlaflose Nacht verbracht.
»Dieser Engel weint und schläft nicht!« rief Oblomow aus. »O Gott! warum liebt sie mich? Warum liebe ich sie? Warum sind wir einander begegnet? Das hat Andrej verschuldet; er hat uns beiden die Liebe wie Pocken eingeimpft. Und was ist das für ein Leben! Nichts als Unruhe und Aufregung! Wann wird denn das friedliche Glück und die Ruhe kommen?«
Er legte sich laut seufzend nieder, erhob sich, ging sogar auf die Straße hinaus und suchte immer nach einer Lebensnorm, nach einer Existenz, die Tag für Tag, Tropfen auf Tropfen in der stillen Betrachtung der Natur und in der stillen, langsam einander ablösenden Erscheinung eines friedlichen und geschäftigen Familienlebens dahinflösse und zugleich inhaltsreich wäre. Er wollte sich das Leben nicht als einen breiten, rauschenden Fluß mit wogenden Wellen vorstellen, wie Stolz es tat.
»Das ist eine Krankheit«, sagte Oblomow, »ein Fieber, ein Springen über Sandbänke, wobei die Dämme eingerissen werden und Überschwemmungen drohen!«
Er schrieb Oljga, er hätte sich im Sommergarten ein wenig erkältet, wäre genötigt gewesen, einen heißen Kräutertee zu trinken, und müßte ein paar Tage zu Hause bleiben, jetzt sei aber alles wieder gut, und er hoffe, sie am Sonntag zu sehen. Sie antwortete ihm, lobte ihn, weil er sich gepflegt hatte, riet ihm selbst, am Sonntag zu[853] Hause zu bleiben, wenn es nötig wäre, sie wollte sich eine Woche langweilen, wenn er sich nur schonte. Die Antwort hatte Nikita gebracht, der nach Anissjas Worten am Klatsch die Hauptschuld trug. Er brachte vom Fräulein die Bücher mit dem Auftrage, Oblomow möchte dieselben lesen und Oljga bei der nächsten Begegnung sagen, ob sie selbst sie lesen solle. Sie bat um einen Bericht über seine Gesundheit. Oblomow schrieb die Antwort, übergab diese eigenhändig Nikita, geleitete ihn vom Vorzimmer direkt auf den Hof hinaus und folgte ihm mit den Augen bis zum Tor, damit es ihm nicht einfiel, in die Küche zu gehen und dort die »Verleumdung« zu wiederholen, oder damit Sachar ihn nicht auf die Straße hinausbegleitete. Er freute sich über Oljgas Vorschlag, er möchte sich schonen und am Sonntag nicht kommen, und schrieb ihr, er müsse bis zur endgültigen Genesung wirklich noch ein paar Tage zu Hause sitzen.
Am Sonntag besuchte er die Hausfrau, trank Kaffee, aß eine heiße Piroge und schickte Sachar zu Mittag auf das andere Ufer, um Gefrorenes und Konfekt für die Kinder zu holen.
Man fuhr Sachar mit Mühe über den Fluß zurück; man hatte die Brücken abgerissen, und die Newa begann sich schon mit Eis zu bedecken. Oblomow konnte gar nicht daran denken, am Mittwoch zu Oljga zu fahren. Gewiß, er konnte ja sofort, solange es noch ging, auf das gegenüberliegende Ufer hinüberfahren, sich für ein paar Tage bei Gerassimowitsch einquartieren, jeden Tag bei Oljga sein und sogar dort zu Mittag essen. Er hatte einen plausiblen Vorwand: Die Newa wäre an der einen Seite gefroren, und er hätte nicht Zeit gehabt, zurückzukehren; dieser Gedanke war Oblomows erste Regung, und er ließ seine Füße schnell auf den Fußboden herabgleiten; aber nach einigem Überlegen kehrte er mit besorgtem Gesicht seufzend und langsam wieder auf das Sofa zurück. »Nein, zuerst sollen die Gerüchte verstummen und die fremden Leute, die Oljgas Haus besuchten, ihn ein wenig vergessen und ihn erst dann wieder täglich dort sehen,[854] wenn Oljga und er offiziell als Braut und Bräutigam galten. Es ist langweilig zu warten, aber man kann dagegen nichts tun«, fügte er seufzend hinzu, indem er die von Oljga geschickten Bücher in Angriff nahm. Er las etwa fünfzehn Seiten. Dann kam Mascha ihn fragen, ob er nicht an die Newa gehen wolle. Alle gingen sich ansehen, wie der Fluß gefroren war. Er ging und kam zum Tee zurück. So vergingen die Tage. Ilja Iljitsch langweilte sich, las, ging auf die Straße und schaute durch die Tür zur Hausfrau hinein, um mit ihr vor Langeweile ein paar Worte zu wechseln. Er mahlte ihr einmal drei Pfund Kaffee mit solchem Eifer, daß ihm die Stirn naß wurde. Er versuchte es, ihr ein Buch zu geben. Sie las, langsam die Lippen bewegend, leise den Titel und gab ihm das Buch zurück, indem sie sagte, sie würde es zu den Feiertagen bei ihm abholen und es von Wanja laut vorlesen lassen, dann würde auch die Großmutter zuhören können, jetzt hätte sie aber keine Zeit. Unterdessen hatte man über die Newa Fußstege gelegt, und eines Tages verkündete das Springen des Hundes an der Kette und sein verzweifeltes Bellen wieder Nikitas Erscheinen; er brachte ein Briefchen, in dem Oblomow über seine Gesundheit ausgefragt wurde, und ein Buch. Oblomow fürchtete sich, er würde genötigt sein, gleichfalls über den Fußsteg auf das andere Ufer zu gehen, versteckte sich vor Nikita und schrieb, er hätte eine leichte Halsentzündung, er traue sich noch nicht auszugehen, das grausame Schicksal beraube ihn noch ein paar Tage lang des Glückes, seine teure Oljga zu sehen. Er befahl Sachar eindringlich, sich nicht zu unterstehen, mit Nikita zu plaudern, folgte diesem wieder bis ans Tor mit den Augen und drohte Anissja mit dem Finger, als sie ihre Nase aus der Küche heraussteckte und Nikita etwas fragen wollte.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro