|
[1061] Eines Tages um die Mittagsstunde schritten über das Holztrottoir der Wiborgsakastraße zwei Herren; hinter ihnen fuhr langsam ein Wagen. Der eine dieser Herren war Stolz, der zweite sein Freund, ein Schriftsteller von ziemlicher Leibesfülle, mit apathischem Gesicht und sinnenden, gleichsam schläfrigen Augen. Sie erreichten die Kirche; die Messe war zu Ende, und die Menge strömte auf die Straße hinaus; allen voran die Bettler, die eine große, bunt zusammengewürfelte Gruppe bildeten.
»Ich möchte wissen, woher so viele Bettler kommen«, sagte der Schriftsteller, die Menge anblickend.
»Wieso woher? Sie kriechen aus ihren Höhlen und Winkeln hervor.«
»Ich meine das nicht so«, entgegnete der Schriftsteller, »ich möchte wissen: wie man zu einem Bettler werden und sich dieser Gesellschaftsklasse anreihen kann? Ob das wohl plötzlich oder allmählich, aufrichtig oder heuchlerisch geschieht ...«
»Wozu brauchst du das? Willst du vielleicht ›Mystères de Pétersbourg‹ schreiben?«
»Vielleicht ...« sagte der Schriftsteller träge gähnend.
»Hier hast du eine gute Gelegenheit; frage den ersten besten, er verkauft dir für einen Rubel seine ganze Geschichte, notiere sie dir dann und verkaufe sie mit Gewinn wieder. Hier ist ein alter, ein typischer und ich glaube ganz normaler Bettler. He, Alter! Komm her!«
Der Alte wandte sich auf ihren Ruf um, zog den Hut und trat an sie heran.[1062]
»Gütige Herrschaften!« krächzte er, »helft einem armen, in dreißig Kämpfen verwundeten Krieger ...«
»Sachar!« sagte Stolz verwundert, »bist du es?«
Sachar verstummte plötzlich, schützte sich die Augen mit der Hand vor der Sonne und blickte Stolz starr an.
»Verzeihen Sie, Euer Wohlgeboren, ich erkenne Sie nicht ... ich bin ganz erblindet!«
»Hast du Stolz, den Freund deines Herrn, vergessen?« warf ihm Stolz vor.
»Ach, ach, Väterchen, Andrej Iwanitsch! Meine Augen sehen nichts mehr! Väterchen!«
Er lief hin und her, haschte nach Stolz' Hand und küßte, da er sie nicht fangen konnte, seinen Rockschoß.
»Gott hat mich elenden Hund eine solche Freude erleben lassen ...« brüllte er zwischen Lachen und Weinen. Sein Gesicht war von der Stirne bis zum Kinn gleichsam mit einem feuerroten Siegel gezeichnet. Die Nase hatte außerdem eine bläuliche Tönung angenommen. Sein Kopf war ganz kahl; der Backenbart war dicht wie früher, er war aber ganz zerzaust und wirr wie Filz, und in jede seiner Hälften schien ein Schneeklumpen gelegt worden zu sein. Er trug einen alten, ganz verblaßten Überzieher, dem ein Schoß fehlte; an den Füßen hatte er nichts als alte, schiefgetretene Galoschen; in den Händen hielt er eine ganz abgetragene Pelzmütze.
»Ach, du lieber Gott! Welche Gnade hast du mir am heutigen Feiertag erwiesen ...«
»Warum siehst du so aus? Was ist geschehen? Schämst du dich nicht?« fragte Stolz streng.
»Ach, Väterchen Andrej Iwanitsch! Was soll ich tun?« begann Sachar schwer seufzend. »Wovon soll ich mich nähren? Als Anissja noch am Leben war, habe ich mich nicht so herumgetrieben, da habe ich mein Stück Brot gehabt; als sie aber im Cholerajahr gestorben ist – Gott habe sie selig! hat mich der Bruder von der Gnädigen nicht länger behalten wollen, er hat mich einen Müßiggänger genannt, und Michej Andreitsch Tarantjew hat im Vorübergehen immer versucht, mich von rückwärts mit[1063] dem Fuß zu stoßen; das war nicht zu ertragen! Wieviel Vorwürfe ich zu schlucken hatte! Wissen Sie, gnädiger Herr, jeder Bissen ist mir im Halse steckengeblieben. Wenn die Gnädige nicht wäre, Gott möge ihr Gesundheit schenken!« fügte Sachar sich bekreuzigend hinzu, »würde ich längst erfroren sein. Sie gab mir im Winter Kleider, so viel Brot, als ich nur wollte, und eine Ecke auf dem Ofen, das alles habe ich ihrer Güte zu verdanken. Man hat ihr aber meinetwegen Vorwürfe gemacht, da bin ich fortgegangen und treibe mich nun herum. Jetzt ist's schon das zweite Jahr, daß ich so herumirre ...«
»Warum hast du keine Stellung angenommen?« fragte Stolz.
»Wo kann man denn jetzt eine Stellung finden, Väterchen Andrej Iwanitsch? Ich war in zwei Häusern, konnte es aber niemand recht machen. Jetzt ist alles anders und schlechter als früher. Man will Lakaien haben, welche lesen und schreiben können, und es ist jetzt auch bei vornehmen Herrschaften nicht mehr Sitte, daß das Vorhaus voller Dienstboten steckt. Man hat meistens einen und nur selten zwei Lakaien. Man zieht sich selbst die Stiefel aus und hat sich dafür eine Maschine ausgedacht!« fuhr Sachar traurig fort, »es ist eine Schande und ein Jammer, es gibt gar keine Edelleute mehr!«
Er seufzte.
»Ich bin zu einem deutschen Kaufmann ins Haus eingetreten, ich sollte im Vorzimmer sitzen; alles ging gut, er hat mich aber servieren lassen; ist denn das eine Arbeit für mich? Einmal hab' ich irgendein böhmisches Geschirr getragen, die Fußböden waren aber so glatt, zum Teufel mit ihnen! Plötzlich sind mir meine Füße auseinandergerutscht, das ganze Geschirr ist zusammen mit dem Präsentierbrett auf die Erde gestürzt, und man hat mich fortgejagt! Ein anderes Mal hat mein Gesicht einer alten Gräfin gefallen. ›Er sieht so ehrwürdig aus‹, hat sie gesagt, und hat mich als Portier angestellt. Das ist eine schöne, ehrwürdige Stellung; man muß nur mit wichtiger Miene dasitzen, die Füße aufeinanderlegen und wiegen und nicht[1064] gleich antworten, wenn jemand kommt, sondern ihn zuerst anbrüllen und erst dann durchlassen oder hinauswerfen; und wenn vornehme Gäste kommen, muß man mit dem Stab so salutieren!« Sachar salutierte mit der Hand. »Das ist ehrenhaft, da kann man nichts dagegen sagen! – Aber die Gnädige war so genau, Gott sei mit ihr! Sie hat einmal in meine Kammer hereingeschaut, hat dort eine Wanze erblickt und hat zu schreien und zu stampfen angefangen, als ob ich die Wanzen ausgedacht hätte! In welcher Wirtschaft gibt es denn keine Wanzen! Ein anderes Mal ist sie an mir vorbeigegangen, und es hat ihr geschienen, daß ich nach Wein rieche ... so eine war sie! Und da hat sie mir gekündigt!«
»Du riechst aber wirklich nach Wein, und wie!« sagte Stolz.
»Vor Leid, Väterchen Andrej Iwanitsch, bei Gott, vor Leid!« krächzte Sachar, sein Gesicht in Falten ziehend. »Ich habe auch versucht, Kutscher zu sein. Ich habe den Posten angetreten, mir sind aber meine Füße erfroren; ich habe wenig Kraft, ich bin schon alt! Das Pferd war so wild; einmal hat es sich unter einen Wagen gestürzt und hätte mir beinahe alle Knochen zerbrochen; ein zweites Mal hat es eine alte Frau überfahren, man hat mich auf die Polizei geschleppt ...«
»Höre jetzt zu vagabundieren auf, komm zu mir, ich werde für dich einen Winkel finden, und dann fahren wir aufs Gut – hörst du?«
»Ich höre, Väterchen Andrej Iwanitsch, aber ...«
Er seufzte.
»Ich habe keine Lust, von hier, vom Grab, fortzufahren! Ich habe heute wieder für unseren Ernährer, Ilja Iljitsch, gebetet«, heulte er auf, »Gott hab ihn selig! Er hat gelebt, um den Menschen Freude zu machen, er hätte hundert Jahre leben sollen ...« sagte Sachar schluchzend und die Stirn runzelnd. »Heute war ich auf seinem Grab; sowie ich in diese Gegend komme, gehe ich dorthin und setze mich nieder; die Tränen rinnen mir nur so herunter. Manchmal denke ich so vor mich hin, alles herum ist so[1065] still, und es scheint mir, daß jemand ›Sachar! Sachar!‹ ruft. Da läuft es mir kalt über den Rücken! Man findet keinen zweiten solchen Herrn! Und wie er Sie geliebt hat! Gott möge sich seiner Seele annehmen! ...«
»Dann komm Andrjuscha anschauen, ich werde dir Essen und Kleider geben lassen, und tu dann, was du willst!« sagte Stolz, ihm Geld reichend.
»Ich werde kommen; wie sollte ich Andrej Iljitsch nicht anschauen kommen? Er ist wohl schon groß geworden! O Gott! Welche Freude mich der Herr erleben läßt! Ich komme, Väterchen, Gott soll Ihnen Gesundheit und langes Leben schenken ...« brummte Sachar dem davonrollenden Wagen nach.
»Nun, hast du der Geschichte dieses Bettlers zugehört?« fragte Stolz seinen Freund.
»Und wer ist dieser Ilja Iljitsch, den er erwähnt hat?« fragte der Schriftsteller.
»Das ist Oblomow, von dem ich dir oft erzählt habe.«
»Ja, ich entsinne mich dieses Namens; das ist dein Freund und Kamerad. Was ist aus ihm geworden?«
»Er ist zugrunde gegangen, und das ohne jede Ursache.«
Stolz seufzte und sann nach.
»Und war nicht dümmer als mancher andere, seine Seele war rein und klar wie Glas; er war edel, zart und ist zugrunde gegangen!«
»Warum denn? Was war die Ursache?«
»Die Oblomowerei!« sagte Stolz.
»Die Oblomowerei!« wiederholte der Schriftsteller erstaunt, »was ist das?«
»Das werde ich dir gleich erzählen; laß mir nur Zeit, meine Gedanken und Erinnerungen zu sammeln. Und schreibe es dann auf, vielleicht nützt es jemand.« Und er erzählte ihm, was hier steht.[1066]
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.
44 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro