|
[682] Er blickte ihr lange mit großen Augen und offenem Munde nach und ließ seine Augen lange über das Gebüsch schweifen ... Es gingen fremde Leute vorüber, ein Vogel flatterte über ihm hin. Eine vorübergehende Bäuerin fragte, ob er keine Beeren kaufen wolle – seine Betäubung hielt an. Er ging wieder langsam dieselbe Allee entlang und schritt leise bis zu ihrer Hälfte hin, er stieß auf die Maiglöckchen, die Oljga verloren hatte, und auf den Fliederzweig, den sie gepflückt und ärgerlich fortgeworfen hatte. Warum war sie so ...? begann er zu überlegen und sich zu erinnern ... »Dummkopf! Dummkopf!« sagte er plötzlich laut, die Maiglöckchen und den Zweig ergreifend, und lief fast durch die Allee. »Ich habe sie um Verzeihung gebeten, und sie ... ach, ist's möglich? ... Welcher Gedanke!« Glücklich, strahlend, »mit einem Mond auf der Stirne«, wie seine Kinderfrau zu sagen pflegte, kam er nach Hause, setzte sich in die Sofaecke und schrieb schnell auf den Staub des Tisches mit großen Buchstaben: Oljga? »Ach, welch ein Staub!« bemerkte er, aus seinem Entzücken erwachend. »Sachar! Sachar!« schrie er lange, denn Sachar saß mit den Bedienten am Haustor, das sich im Gäßchen befand. »Komm doch«, sagte Anissja mit drohendem Flüstern ihn am Ärmel zupfend. »Der Herr ruft dich schon lange«.
»Schau einmal, Sachar, was ist das?« sagte Ilja Iljitsch sanft und gütig; er war jetzt nicht imstande böse zu sein. »Du willst hier eine ebensolche Unordnung, Staub und Spinngewebe einführen? Nein, verzeihe, ich erlaube es[683] nicht! Oljga Sjergejewna gibt mir schon längst keine Ruhe; sie sagt, ›Sie lieben den Kehricht‹.«
»Ja, sie hat gut reden; dort sind fünf Dienstboten«, sagte Sachar, sich zur Tür wendend.
»Wohin gehst du? Fege den Schmutz weg; man kann hier weder sitzen noch sich mit dem Ellbogen stützen ... Das ist ja ekelhaft, das ist ... Oblomowerei!«
Sachar machte ein finsteres Gesicht und blickte den Herrn von der Seite an.
Da haben wir's! dachte er, er hat noch ein trauriges Wort mehr ausgedacht! Es klingt aber so bekannt!
»Nun, fege doch aus, was stehst du da?« sagte Oblomow.
»Warum soll ich denn ausfegen? Ich habe heute schon ausgefegt!« antwortete Sachar eigensinnig.
»Woher ist denn dann der Staub, wenn du gefegt hast? Schau einmal, hier, hier! Das darf nicht so bleiben, fege es sofort aus!«
»Ich habe gefegt«, wiederholte Sachar, »ich werde doch nicht zehnmal fegen! Und der Staub kommt von draußen herein ... hier sind Felder, wir sind ja auf dem Lande ... es gibt auf der Straße viel Staub.«
»Sachar Trofimitsch«, begann Anissja plötzlich aus dem Nebenzimmer hereinblickend, »du fegst zuerst den Fußboden und dann die Tische; der Staub setzt sich dann wieder ... du solltest zuerst ...«
»Willst du mich belehren?« krächzte Sachar wütend, »geh an deinen Dienst!«
»Wo hat man denn je gesehen, daß zuerst die Fußböden und dann die Tische gefegt werden? ... Darum ist der Herr auch böse ...«
»Du!« schrie Sachar, mit dem Ellbogen auf ihre Brust zielend.
Sie lachte und verschwand. Oblomow schickte auch ihn hinaus. Er legte seinen Kopf auf das gestickte Kissen, hielt die Hand aufs Herz und lauschte seinem Klopfen.
»Das ist ja schädlich«, sagte er im stillen. »Was soll ich tun? Wenn ich den Doktor um Rat frage, schickt er mich nach Abessinien!«[684]
Solange Sachar und Anissja nicht verheiratet waren, gab sich jeder von ihnen mit seinem Ressort ab, ohne sich mit den Angelegenheiten des anderen zu befassen, das heißt, Anissja ging auf den Markt und beschäftigte sich mit der Küche und nahm nur einmal im Jahr am Zusammenräumen der Zimmer teil, wenn sie die Fußböden wusch. Doch nach der Hochzeit wurde ihr der Zutritt in die Zimmer der Herrschaft eröffnet. Sie half Sachar und nahm überhaupt einige Pflichten des Mannes auf sich, teils freiwillig, teils weil Sachar sie ihr despotisch auferlegt hatte, und in den Zimmern wurde es reiner. »Da, klopfe den Teppich«, krächzte er gebieterisch, oder: »Schau einmal nach, was dort in der Ecke liegt, und trage das Überflüssige in die Küche hinaus.« Er schwelgte so einen Monat lang; in den Zimmern war es rein, der Herr brummte nicht, sagte keine »traurigen Worte«, und Sachar brauchte nichts zu tun. Doch diese Seligkeit nahm ein baldiges Ende, und zwar aus folgendem Grunde: Sowie er mit Anissja zusammen in den herrschaftlichen Zimmern zu arbeiten begann, ergab es sich, daß alles, was Sachar tat, eine Dummheit war. Ein jeder Schritt war falsch und sollte anders gemacht werden. Er war fünfundfünfzig Jahre lang auf der Welt mit der Gewißheit herumgegangen, daß alles, was er tat, gar nicht anders und besser getan werden konnte. Und jetzt plötzlich hatte Anissja ihm in zwei Wochen bewiesen, daß er nichts wert war; und sie tat es mit einer so kränkenden Herablassung, so still, wie man es nur mit Kindern oder vollständigen Dummköpfen tut, und lachte noch, wenn sie ihn ansah. »Du, Sachar Trofimitsch«, sagte sie freundlich, »du solltest nicht zuerst den Schornstein in den Öfen zumachen und dann das Fenster aufmachen; da wird's in den Zimmern wieder kalt.« – »Wie soll ich's denn machen?« fragte er mit der Grobheit des Mannes. »Wann soll ich das Fenster aufmachen?« – »Beim Einheizen; es zieht die Luft hinaus, und dann wird's wieder warm«, antwortete sie leise. »So eine Närrin!« sagte er, »ich hab's zwanzig Jahre lang so gemacht, und[685] soll ich's jetzt deinetwegen anders machen ...« Im Schrank auf dem Brett lag bei ihm alles durcheinander: Tee, Zucker, Zitrone, das Silberzeug und daneben Schuhwichse, Bürsten und Seife.
Eines Tages kam er und sah plötzlich, daß die Seife auf dem Waschtisch, die Bürsten und die Schuhwichse auf dem Küchenfenster und der Tee und Zucker in einer besonderen Schublade der Kommode lagen. »Warum bringst du mir das alles durcheinander, he?« fragte er drohend, »ich habe absichtlich alles in einen Haufen gelegt, damit ich es bei der Hand habe, und du hast alles in alle Ecken und Enden zerstreut.« – »Damit der Tee nicht nach Seife riecht«, bemerkte sie sanft. Ein anderes Mal zeigte sie ihm in den Kleidern des Herrn zwei, drei Löcher, die von Motten herrührten, und sagte, daß die Kleider durchaus einmal wöchentlich geklopft und gebürstet werden müßten. »Laß mich nur, ich klopfe sie schon mit dem Besen aus«, schloß sie freundlich. Er riß ihr den Besen und den Frack, den sie schon genommen hatte, aus der Hand und legte die Sachen auf ihren Platz. Als er ein anderes Mal seiner Gewohnheit nach über den Herrn schimpfte, weil dieser ihm die Küchenschwaben vorwarf und meinte, er hätte sie doch nicht ausgedacht, räumte Anissja schweigend die seit undenklichen Zeiten auf dem Brett herumliegenden Brotstücke und Krumen fort, fegte und wusch die Schränke und das Geschirr – und die Küchenschwaben verschwanden fast endgültig. Sachar begriff noch immer nicht ganz, worum es sich handelte, und schrieb alles ihrem Eifer zu. Als er aber eines Tages ein Präsentierbrett mit Tassen und Gläsern durch das Zimmer trug, zwei Gläser zerbrach, seiner Gewohnheit nach schimpfte und das ganze Brett zu Boden werfen wollte, nahm sie es ihm aus den Händen, tat andere Gläser und außerdem noch die Zuckerdose und Brot darauf und stellte alles so zusammen, daß keine einzige Tasse sich rührte, zeigte ihm dann, wie man das Präsentierbrett mit der einen Hand nahm und mit der anderen fest stützte, und als sie dann zweimal durch das[686] Zimmer schritt, indem sie das Brett nach rechts und links drehte, ohne daß ein einziges Löffelchen sich bewegte, wurde es Sachar plötzlich klar, daß Anissja klüger war als er! Er riß ihr das Präsentierbrett fort, warf die Gläser zu Boden und konnte es ihr seitdem nicht verzeihen. »Siehst du, so macht man es!« hatte sie noch leise hinzugefügt. Er blickte sie mit stumpfem Hochmut an, und sie lachte nur. »Ach, du Bäuerin, du Soldatenweib, willst du die Kluge spielen? Haben wir denn in Oblomowka ein solches Haus gehabt? Und ich habe alles selbst geleitet; wir haben ja allein an Lakaien und Laufburschen fünfzehn Personen gehabt! Und euereins, Frauenzimmer, hat's soviel gegeben, daß man nicht einmal die Namen von allen wußte ... Und jetzt kommst du ... Ach, du! ...« – »Ich meine es ja gut«, begann sie. »Nun, nun, nun!« krächzte er und machte die drohende Bewegung, mit dem Ellbogen auf die Brust zielend: »Marsch, hinaus aus den herrschaftlichen Zimmern, geh in die Küche ... Bleib bei deiner Frauenzimmerarbeit!« Sie lachte und ging, und er blickte ihr düster von der Seite nach. Sein Stolz litt, und er behandelte seine Frau streng. Wenn es aber vorkam, daß Ilja Iljitsch nach irgendeinem Gegenstand fragte, den man nicht finden konnte oder der zerbrochen worden war, und wenn überhaupt im Hause etwas Ungehöriges vorkam und sich über Sachars Haupt ein Gewitter sammelte, das von »traurigen Worten« begleitet war, blinzelte Sachar Anissja zu, nickte mit dem Kopfe und zeigte mit dem Daumen auf das Arbeitszimmer des Herrn hin und sagte: »Geh du zum Herrn und schau nach, was er haben will.« Anissja ging hin, und das Gewitter löste sich immer in eine einfache Erklärung auf. Und sobald in Oblomows Rede sich »traurige Worte« einzuschleichen begannen, schlug Sachar selbst vor, Anissja zu rufen. In Oblomows Zimmern wäre alles wieder vernachlässigt worden, wenn Anissja nicht dagewesen wäre; sie zählte schon zu Oblomows Haus, löste unbewußt das unzerreißbare Band, das ihren Mann an das Leben, das Haus[687] und die Person IIja Iljitschs kettete, und ihr weibliches Auge und ihre sorgsame Hand walteten in den vernachlässigten Räumen. Sowie Sachar sich abwandte, staubte Anissja die Tische und Sofas ab, öffnete das Fenster, richtete die Jalousien, räumte die inmitten des Zimmers hingeworfenen Stiefel oder die auf die eleganten Sessel hingehängten Beinkleider fort, musterte alle Kleider, sogar die Papiere, Bleistifte, Federmesser und Federn auf dem Tische durch und legte alles in Ordnung hin; sie schüttelte das zerwühlte Bettzeug auf, ordnete die Kissen und machte das alles mit drei Griffen; dann ließ sie noch einen schnellen Blick durch das Zimmer gleiten, rückte irgendeinen Sessel zurecht, machte die halboffene Schublade der Kommode zu, zog die Decke vom Tisch herunter und glitt rasch in die Küche, wenn sie Sachars knarrende Stiefel hörte. Sie war eine lebhafte, flinke Frau von siebenundvierzig Jahren, mit einem besorgten Lächeln, lebendig nach allen Seiten hinblickenden Augen, einem festen Hals und einer festen Brust und roten, geschickten, nie ermüdenden Händen. Sie besaß fast gar kein Gesicht; man bemerkte nur die Nase, trotzdem sie nicht groß war, doch schien sie sich vom Gesicht losgelöst zu haben oder ihm schlecht angefügt worden zu sein, und dabei war ihr unterer Teil nach oben gewendet, so daß das Gesicht dahinter gar nicht zu sehen war; außerdem war es so zusammengeschrumpft und verblichen, daß man sich von der Nase längst einen klaren Begriff gebildet hatte, bevor man das Gesicht auch nur bemerkte.
Es gibt auf der Welt viele solcher Männer wie Sachar. Mancher Diplomat hört nachlässig den Ratschlag der Frau an, zuckt die Achseln und schreibt dann heimlich nach ihren Angaben. Manchmal hört ein Beamter pfeifend und mit einer Grimasse des Bedauerns dem Geplauder der Frau über eine wichtige Angelegenheit zu und berichtet morgen mit wichtiger Miene dieses Geplauder dem Minister. Diese Herrschaften behandeln ihre Frauen ebenso düster oder leichtfertig, lassen sich[688] kaum herab, mit ihnen zu sprechen, und halten sie, wenn nicht für Frauenzimmer, wie Sachar, so doch für Blumen, die zur Zerstreuung nach dem Geschäftlichen, Ernsten da sind ...
Die Mittagssonne sengte schon lange die Wege des Parkes. Alle saßen im Schatten unter Segeltuchmarkisen; nur die Kinderfrauen mit den Kindern gingen mutig gruppenweise herum und saßen unter den Mittagsstrahlen im Grase. Oblomow lag noch immer auf dem Sofa und trug sich mit Zweifeln über die Bedeutung seines Morgengespräches mit Oljga herum. »Sie liebt mich, in ihr ist ein Gefühl für mich erwacht. Ist das möglich? Sie träumt von mir; sie hat für mich so leidenschaftlich gesungen, und die Musik hat uns beide mit Sympathie füreinander angesteckt!« Ihn erfüllte Stolz, das Leben erstrahlte, er sah seine zauberhaften Fernen, alle Farben und Strahlen, die noch vor kurzem nicht da waren. Er sah sich schon mit ihr im Ausland, auf den Schweizer Seen, in Italien, durchschritt mit ihr die Ruinen in Rom, fuhr in einer Gondel, verlor sich dann in der Menge von Paris und London und dann ... dann befand er sich in seinem irdischen Paradies, in Oblomowka. Sie ist seine Gottheit, sie mit diesem lieben Geplauder, mit diesem feinen, weißen Gesichtchen und dem zarten, dünnen Hals ... Die Bauern haben nie etwas Ähnliches gesehen; sie werfen sich vor diesem Engel zu Boden. Sie schreitet langsam über das Gras hin, geht mit ihm im Schatten des Birkenhaines, sie singt ihm ... Und er versetzt sich in dieses Leben, in seinen stillen Lauf, in sein süßes Rieseln und Plätschern ... Er versinkt in ein Sinnen, das durch die befriedigten Wünsche, durch die Fülle des Glückes hervorgerufen wird ...
Plötzlich umdüsterte sich sein Gesicht.
»Nein, das ist unmöglich!« sagte er laut, sich vom Sofa erhebend und durch das Zimmer schreitend. »Mich lieben! Mich mit dem komischen Äußern, mit dem schläfrigen Blick, mit den welken Wangen ... Sie lacht nur über mich ...«[689]
Er blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich lange, zuerst ärgerlich, doch dann klärte sich sein Blick auf; er lächelte sogar. »Mir scheint, ich sehe jetzt besser und frischer aus als in der Stadt«, sagte er; »meine Augen sind nicht trüb ... Es hat sich ein Gerstenkorn gezeigt, ist aber verschwunden ... Das kommt gewiß von der hiesigen Luft; ich gehe viel, trinke gar keinen Wein, liege nicht ... Ich brauche gar nicht nach Ägypten zu reisen.«
Es kam ein Diener von Marja Michailowna, Oljgas Tante, ihn zum Mittagessen zu bitten.
»Ich komme, ich komme!« sagte Oblomow.
Der Diener wollte gehen.
»Wart! Da hast du!«
Er gab ihm Geld.
Ihm ist fröhlich und leicht ums Herz. In der Natur ist alles so heiter. Die Menschen sind so gut; alle freuen sich; bei allen drückt sich das Glück auf dem Gesichte aus. Nur Sachar ist finster und blickt den Herrn immer von der Seite an; aber Anissja lächelt so gutmütig. – Ich schaffe mir einen Hund an, beschloß Oblomow, oder einen Kater ... lieber einen Kater; die Kater sind zutraulich und schnurren.
Er lief zu Oljga hin.
Aber ... Oljga liebt mich doch! dachte er unterwegs, dieses junge, frische Geschöpf! Ihrer Phantasie steht jetzt die poetische Sphäre des Lebens offen; sie muß von großen, schlanken Jünglingen mit schwarzen Locken träumen, mit einer sinnenden, verborgenen Kraft, mit Kühnheit im Gesicht, mit einem stolzen Lächeln, mit jenem Funken in den Augen, der im Blick untergeht und bebt und so leicht ans Herz dringt, mit einer weichen und frischen Stimme, die wie eine metallene Saite klingt. Aber man liebt ja nicht nur Jünglinge, nicht nur die Kühnheit im Gesicht, die Gewandtheit in der Mazurka und das Galoppieren auf dem Pferd ... Oljga ist ja kein Dutzendmädchen, dessen Herz man mit einem Schnurrbart kitzeln kann und dessen Ohr man mit dem Säbelklirren rührt; aber dann braucht man wohl etwas anderes ... die Macht des Geistes zum Beispiel, die das Weib demütigt[690] und vor der sie das Haupt beugt, und die ganze Welt müßte sich vor dieser Macht beugen ... Oder ein gefeierter Künstler ... Und was bin ich denn? Oblomow und nichts mehr. Stolz ist etwas anderes; Stolz besitzt Verstand, Macht und die Kunst, sich selbst, andere und das Schicksal zu lenken. Wo er sich auch befindet, mit wem er zusammenkommt, beherrscht er gleich alles und spielt darauf wie auf einem Musikinstrument ... Und ich? ... Ich werde nicht einmal mit Sachar fertig ... und auch mit mir selbst nicht ... ich bin Oblomow! Stolz! O Gott! ... sie liebt ihn ja, dachte er entsetzt, sie hat es selbst gesagt; wie einen Freund, sagt sie; das ist aber eine Lüge, vielleicht eine unbewußte. Zwischen Mann und Weib gibt es keine Freundschaft ... Er ging immer langsamer, von Zweifeln überwältigt. Und was, wenn sie mit mir kokettiert? ... Wenn es nur ... Er blieb endgültig stehen und erstarrte für einen Augenblick. Und was, wenn das Tücke und Verschwörung ist ... Und wie komme ich darauf, daß sie mich liebt? Sie hat es mir nicht gesagt; das ist das teuflische Flüstern der Eitelkeit! Andrej, ist's möglich? ... Das kann nicht sein ... sie ist so, so ... »So ist sie!« sagte er plötzlich freudig, Oljga, die ihm entgegenkam, erblickend.
Oljga streckte ihm mit einem fröhlichen Lächeln die Hand hin. Nein, sie ist nicht so, sie ist keine Betrügerin, beschloß er, die Betrügerinnen haben keinen solchen freundlichen Blick; sie lachen nicht so von Herzen ... sie kichern nur ... aber ... sie hat mir doch nicht gesagt, daß sie mich liebt! dachte er plötzlich wieder erschrocken; er hatte sich das nur so gedeutet ... Woher kam aber der Ärger? ... O Gott! In welchen Sumpf bin ich hineingeraten!
»Was haben Sie?« fragte sie.
»Einen Zweig.«
»Was für einen Zweig?«
»Sie sehen: einen Fliederzweig.«
»Wo haben Sie ihn her? Dort, wo Sie gegangen sind, gibt es keinen Flieder.«[691]
»Sie haben ihn vorhin gepflückt und dann hingeworfen.«
»Warum haben Sie ihn aufgehoben?«
»So, mir gefällt es, daß Sie ihn ... so ärgerlich hingeworfen haben.«
»Ihnen gefällt der Ärger? Das ist etwas ganz Neues! Warum denn?«
»Das sage ich nicht.«
»Sagen Sie's doch, ich bitte ...«
»Um nichts in der Welt, um keinerlei Schätze!«
»Ich flehe Sie an!«
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Und wenn ich singe?«
»Dann ... vielleicht ...«
»Also nur Musik wirkt auf Sie!« sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Das ist also doch so?«
»Ja, Musik, die durch Sie wiedergegeben wird.«
»Nun gut, ich werde singen ... Casta diva, Casta di ...« begann sie Normas Arie und schwieg.
»Also sprechen Sie jetzt!« sagte sie.
Er kämpfte eine Zeitlang mit sich.
»Nein, nein!« beschloß er noch entschiedener als vorher, »um nichts in der Welt ... niemals! Und wenn das nicht wahr ist, wenn es mir nur so geschienen hat? ... Niemals, niemals!«
»Was ist das? Etwas Furchtbares«, sagte sie, ihre Gedanken auf diese Frage und einen forschenden Blick auf ihn richtend.
Dann verbreitete sich allmählich die Erkenntnis über ihre Züge; in jede Linie drang der Strahl des Denkens ein, und plötzlich erhellte sich ihr ganzes Gesicht durch eine Vermutung ... So beleuchtete die Sonne, aus einer Wolke hervortretend, allmählich einen Strauch, dann einen zweiten, das Dach und überströmte plötzlich die ganze Landschaft mit ihrem Licht. Sie wußte schon, woran Oblomow dachte.
»Nein, nein, meine Zunge würde sich nicht bewegen ...« beteuerte Oblomow. »Fragen Sie lieber nicht.«[692]
»Ich frage Sie nicht«, antwortete sie gleichgültig.
»Wieso? Sie haben doch soeben ...«
»Kommen Sie«, sagte sie ernst, ohne ihm zuzuhören, »meine Tante wartet.«
Sie schritt voraus, ließ ihn bei der Tante zurück und ging geradeaus in ihr Zimmer.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818
88 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro