Viertes Kapitel

[628] Obwohl es nicht mehr früh war, hatten sie noch Zeit, in Geschäften irgendwohin zu fahren, dann nahm Stolz einen Goldgrubenbesitzer zum Essen mit, dann fuhren sie zu ihm aufs Land Tee trinken und trafen dort eine große Gesellschaft an, so daß Oblomow aus seiner vollkommenen Einsamkeit plötzlich in eine Menschenmenge versetzt wurde ... Sie kehrten spät in der Nacht nach Hause zurück. Das wiederholte sich auch am zweiten und dritten Tage, und eine ganze Woche flog unmerklich vorüber. Oblomow protestierte, klagte, stritt, wurde aber mit hingerissen und begleitete seinen Freund überallhin.

Eines Tages, als er von irgendwoher spät zurückkehrte, lehnte er sich mit besonderer Energie gegen diesen Trubel auf.

»Ganze Tage lang«, brummte Oblomow, sich in seinen Schlafrock einwickelnd, »zieht man die Schuhe nicht aus; die Füße brennen mir nur so! Euer Petersburger Leben gefällt mir nicht!« fuhr er fort, sich aufs Sofa hinlegend.

»Was für eines gefällt dir denn?« fragte Stolz.

»Ein anderes als das hier.«

»Was mißfällt dir denn hier so sehr?«

»Alles, das ewige Wettlaufen, das Spiel der häßlichen Leidenschaften, besonders dieser hier, das Einanderimwegestehen, der Klatsch und das Verleumden, die Nasenstüber, die man sich gegenseitig austeilt, dieses Mustern vom Kopf bis zu den Füßen; wenn man zuhört, worüber gesprochen wird, schwindelt es einem und man wird ganz wirr. Man glaubt so gescheite Menschen mit einer solchen Würde im Gesicht zu sehen, man hört aber[629] nur das eine: ›Diesem hat man das gegeben, jener hat die Pacht bekommen.‹ – ›Aber ich bitte, wofür denn?‹ schreit jemand. ›Dieser hat gestern im Klub alles verspielt; jener bekommt dreihunderttausend!‹ Nichts als Langeweile, Langeweile und Langeweile! ... Wo bleibt denn da der Mensch! Wo ist seine Ganzheit? Wohin ist er verschwunden, auf welche Nichtigkeit hat er seine Seele verbraucht?«

»Irgend etwas muß doch die Welt und die Gesellschaft beschäftigen«, sagte Stolz, »ein jeder hat seine eigenen Interessen. Das ist das Leben ...«

»Die Welt, die Gesellschaft! Du schickst mich wohl absichtlich in diese Welt und diese Gesellschaft, Andrej, um mir alle Lust hinzukommen zu nehmen. Das Leben, dieses Leben ist schön! Was hat man dort zu suchen? Nahrung für Geist und Herz? Schau einmal hin, wo der Mittelpunkt ist, um den das alles sich dreht; es gibt keinen, es gibt nichts Tiefes, das einen packen könnte. Das alles sind tote, schlafende Menschen; diese Mitglieder der Welt und Gesellschaft sind noch schlimmer als ich! Was leitet sie durchs Leben? Sie bleiben nicht liegen und rennen den ganzen Tag wie Fliegen hin und her, und was kommt dabei heraus? Man tritt in den Salon und bewundert, wie symmetrisch die Gäste verteilt sind, wie ruhig und tiefsinnig sie – bei den Karten sitzen. Man muß sagen, das ist eine würdige Lebensaufgabe! Ein ausgezeichnetes Vorbild für einen Geist, der nach Arbeit sucht! Sind denn das nicht Tote? Verschlafen sie denn nicht im Sitzen das ganze Leben? Warum bin ich, der ich den ganzen Tag zu Hause liege und den Kopf nicht mit Buben und Dreien vollpfropfe, mehr zu verurteilen?«

»Das ist alles alt und ist tausendmal gesagt worden«, bemerkte Stolz. »Weißt du nichts Neueres?«

»Und was tut die Blüte unserer Jugend? Schläft sie denn nicht im Gehen, im Fahren über den Newsky, im Tanzen? Das ist ein einfacher, leerer Wechsel der Tage! Und schau einmal hin, mit welchem Stolz und mit welcher[630] Würde, mit welchem abstoßenden Blick sie alle diejenigen betrachten, die anders gekleidet sind und nicht ihren Namen und Rang besitzen. Und diese Unglücklichen bilden sich noch ein, über der Menge zu stehen: ›Wir bekleiden einen Posten, den sonst niemand bekleidet; wir sitzen in der ersten Reihe, wir kommen auf den Ball zum Fürsten N., wo nur wir zugelassen werden ...‹ Und wenn sie zusammenkommen, betrinken sie sich und raufen wie Wilde miteinander! Sind denn das lebendige, empfängliche Menschen! Und nicht nur die Jugend allein; schau dir die Erwachsenen an. Sie versammeln sich und bewirten sich gegenseitig; es ist aber weder Gastfreundschaft noch Güte noch gegenseitige Sympathie darin! Sie kommen zum Mittagessen oder zum Abend wie in ein Amt, ohne Fröhlichkeit, kalt, um mit dem Koch und dem Salon zu prahlen und dann bei Gelegenheit einander zu verspotten und ein Bein zu stellen. Vorgestern beim Mittagessen wußte ich nicht, wo ich hinschauen sollte, und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, als der gute Ruf der Abwesenden in den Kot gezerrt wurde: ›Dieser ist dumm, jener gemein, der eine ist ein Dieb, der zweite lächerlich.‹ – Die reinste Parforcejagd! Während dieser Gespräche blicken sie einander mit Augen an, die zu sagen scheinen: ›Geh nur zur Tür hinaus, dann kriegst auch du dasselbe ab ...‹ Wozu kommen sie denn zusammen, wenn sie so sind? Man hört weder ein aufrichtiges Lachen, noch sieht man einen Schein von Sympathie! Sie bestreben sich, einen hohen Rang, einen lauten Namen zu erhaschen. ›Dieser da war bei mir und ich war bei jenem‹ – prahlen sie dann ... Was ist denn das für ein Leben? Ich will kein solches. Was kann ich dort lernen, womit mich bereichern?«

»Weißt du was, Ilja!« sagte Stolz, »du urteilst wie ein alter Mann; in den alten Büchern steht genau dasselbe. Übrigens ist auch das gut; wenigstens denkst du und schläfst nicht. Nun, was hast du noch zu sagen? Fahre fort!«[631]

»Was soll ich denn noch sagen? Sieh einmal zu: niemand hat hier eine frische, gesunde Gesichtsfarbe.«

»Das ist die Schuld des Klimas«, unterbrach ihn Stolz. »Du hast ja auch ein welkes Gesicht, und du rennst nicht herum, sondern liegst immer.«

»Niemand hat einen ruhigen, klaren Blick«, fuhr Oblomow fort; »alle stecken sich gegenseitig mit irgendeiner quälenden Sorge, mit Traurigkeit an und suchen krankhaft nach etwas. Und wenn es noch das Wahre und Gute für sich und andere wäre – aber nein, sie erbleichen ja beim Erfolg ihres Kameraden. Der eine denkt daran, daß er morgen zur Behörde gehen muß; sein Prozeß zieht sich schon in das fünfte Jahr hin, sein Gegner gewinnt die Oberhand, und er trägt fünf Jahre lang den einen Gedanken, den einen Wunsch mit sich herum, den andern zu stürzen und auf den Trümmern seines Glückes den eigenen Wohlstand aufzubauen. Fünf Jahre lang im Wartezimmer herumgehen, zu sitzen und zu seufzen – das ist ein ideales Lebensziel. Ein zweiter quält sich, weil er verdammt ist, jeden Tag ins Amt zu gehen und bis fünf Uhr dazubleiben, und jener seufzt tief, weil ihm ein solcher Segen nicht beschert worden ist ...«

»Du bist ein Philosoph, Ilja!« sagte Stolz. »Alle sorgen sich, nur du brauchst nichts!«

»Jener gelbe Herr mit der Brille«, sprach Oblomow weiter, »hat mir keine Ruhe gelassen, ob ich die Rede irgendeines Abgeordneten gelesen habe, und hat mich angeglotzt, als ich ihm gesagt habe, daß ich keine Zeitungen lese. Und dann hat er von Louis Philipp angefangen, als wär's sein leiblicher Vater. Dann hat er gefragt, warum der französische Botschafter meiner Meinung nach aus Rom verreist ist! Wie, man soll das ganze Leben lang dazu verurteilt sein, sich täglich mit Neuigkeiten über die ganze Welt vollzuladen und die ganze Woche lang darüber zu schreien, bis man nicht mehr kann! Heute schickt Mehmed Ali ein Schiff nach Konstantinopel – und er zerbricht sich darüber den Kopf, warum? Morgen hat Don Carlos keinen Erfolg –[632] und er ist furchtbar aufgeregt. Hier baut man einen Kanal, dort hat man ein Regiment nach dem Osten geschickt; o Gott, es wird Sturm geläutet! Er ist außer sich, rennt und schreit, als hätte das Regiment es auf ihn abgesehen. Sie räsonieren und überlegen sich die Sache nach allen Richtungen hin und langweilen sich dabei – denn es interessiert sie gar nicht; durch all das Geschrei hindurch sieht man ihren Geist schlafen! Es ist ihnen fremd; sie gehen nicht in ihrem eigenen Hut. Sie haben keine Beschäftigung, darum stürzen sie sich nach allen Richtungen hin, ohne irgendein Ziel zu haben. Obwohl sie alles umfassen wollen, bergen sie nichts als Leere und Mangel an Sympathie allem gegenüber in sich! Sich einen bescheidenen Pfad der Arbeit zu wählen und ihn zu verfolgen, eine tiefe Spur zu hinterlassen, das ist langweilig und nicht genug sichtbar; dort hilft das Allwissen nicht und man kann niemand etwas vormachen ...«

»Nun, du und ich haben uns nicht nach allen Seiten weggeworfen. Wo ist denn unser bescheidener Weg der Arbeit?« fragte Stolz.

Oblomow schwieg plötzlich.

»Ich muß doch zuerst ... den Plan fertig machen ...« sagte er. »Lassen wir sie!« fügte er dann ärgerlich hinzu, »ich rühre sie nicht an, ich suche nichts; ich sehe das alles nur nicht als ein normales Leben an. Nein, das ist kein Leben, das ist eine Verzerrung der Norm, des Lebensideals, auf das die Natur den Menschen hingewiesen hat ...«

»Was ist denn das für ein Ideal, für eine Norm des Lebens?«

Oblomow antwortete nicht.

»Nun, sage mir, wie würdest du dir dein Leben einrichten?« fragte Stolz weiter.

»Ich habe es mir schon klargemacht.«

»Wie denn? Erzähle mir, bitte ...«

»Wie?« sagte Oblomow, sich auf den Rücken umwendend und auf die Decke schauend, »ja wie! Vor allem würde ich aufs Gut fahren.«[633]

»Was hindert dich denn daran?«

»Der Plan ist nicht fertig. Dann würde ich nicht allein, sondern mit meiner Frau hinfahren ...«

»Ah, so ist die Sache! Nun, nur zu. Worauf wartest du denn? Noch drei, vier Jahre, und dich nimmt keine mehr ...«

»Was soll man tun, es ist mir wohl nicht beschieden!« sagte Oblomow seufzend, »mein Vermögen erlaubt es mir nicht.«

»Aber ich bitte dich, und Oblomowka? Dreihundert Seelen!«

»Ist denn das genug, um mit einer Frau zu leben?«

»Was braucht man, um zu zweit zu leben?«

»Und wenn Kinder kommen?«

»Du wirst die Kinder so erziehen, daß sie sich selbst alles verschaffen werden; du mußt nur verstehen, sie zu leiten ...«

»Nein, warum soll man aus Edelleuten Handwerker machen?« unterbrach Oblomow trocken. »Und wie soll man auch zu zweit, ohne Kinder, damit auskommen? Es heißt nur so, zu zweit mit der Frau, in Wirklichkeit aber kommen, sobald man heiratet, von allen Seiten allerlei Frauenzimmer ins Haus. Blicke in jede beliebige Familie hinein; das sind weder Verwandte noch Wirtschafterinnen; wenn sie nicht im Hause leben, kommen sie täglich Kaffee trinken und Mittag essen ... Wie soll man wohl mit dreihundert Seelen ein solches Pensionat erhalten?«

»Nun gut, nehmen wir an, man hätte dir noch dreihunderttausend geschenkt, was würdest du dann tun?« fragte Stolz, der sehr neugierig geworden war.

»Ich würde das Geld gleich in die Bank tragen«, sagte Oblomow, »und von den Prozenten leben.«

»Dort bekommt man wenig ausgezahlt; warum würdest du das Geld nicht in irgendeinem Unternehmen, zum Beispiel in dem unsrigen, anlegen?«

»Nein, Andrej, ich lasse mich nicht anschmieren.«

»Wie, du würdest es auch mir nicht anvertrauen?«

»Um keinen Preis; es handelt sich ja nicht um dich,[634] aber was kann nicht alles vorkommen; und wenn die Sache kracht, dann sitze ich ohne eine Kopeke da. In einer Bank ist das ganz anders.«

»Nun gut, was würdest du also tun?«

»Ich würde in mein neues, bequem eingerichtetes Haus fahren ... In der Umgegend würden liebe Nachbarn leben, zum Beispiel du ... Aber du kannst ja nicht an einem Orte bleiben ...«

»Und würdest du immer dort bleiben? Du würdest nirgends hinfahren?«

»Nirgends.«

»Warum bemüht man sich denn überall Eisenbahnen und Dampfschiffe zu bauen, wenn das Ideal des Lebens darin besteht, an einem Ort zu sitzen? Wollen wir ein Gesuch einreichen, daß nicht weiter gearbeitet wird; wir fahren ja doch nicht, Ilja!«

»Es gibt aber auch außer uns genug Leute; gibt es denn wenige Verwalter, Kaufleute, Beamte, unbeschäftigte Reisende, die kein Heim haben? Die sollen nur fahren!«

»Und wer bist du denn?«

Oblomow schwieg.

»Zu welcher Gesellschaftsklasse zählst du dich denn?«

»Frage Sachar!« sagte Oblomow.

Stolz erfüllte buchstäblich Oblomows Wunsch.

»Sachar!« rief er.

Sachar kam mit schläfrigen Augen herein.

»Wer liegt da?« fragte Stolz.

Sachar wurde plötzlich wach und blickte von der Seite mißtrauisch zuerst Stolz und dann Oblomow an.

»Wer das ist? Sehen Sie denn nicht?«

»Ich sehe nicht«, sagte Stolz.

»Was soll denn das heißen? Das ist der gnädige Herr, Ilja Iljitsch.«

Er lächelte.

»Gut, geh!«

»Der gnädige Herr!« wiederholte Stolz und brach in Lachen aus.

»Nun, ein Gentleman«, verbesserte Oblomow ärgerlich.[635]

»Nein, nein, du bist der gnädige Herr!« fuhr Stolz lachend fort.

»Was ist denn da für ein Unterschied?« fragte Oblomow, »ein Gentleman ist auch ein gnädiger Herr.«

»Ein Gentleman ist ein solcher gnädiger Herr, der sich selbst die Strümpfe anzieht und auch selbst seine Schuhe auszieht.«

»Ja, ein Engländer macht das selbst, weil sie nicht so viel Dienstboten haben, aber ein Russe ...«

»Also zeichne mir die Umrisse deines Lebensideals zu Ende. Nun, um dich herum leben liebe Nachbarn; was ist dann weiter? Wie würdest du deine Tage verbringen?«

»Ja, also ich würde des Morgens aufstehen«, begann Oblomow, die Hände unter den Hinterkopf schiebend, und über sein Gesicht verbreitete sich ein Ausdruck von Ruhe; er war im Geiste schon auf dem Gut.

»Das Wetter ist herrlich, der Himmel ist tiefblau, ohne ein einziges Wölkchen«, sprach er, »die eine Seite des Hauses ist auf meinem Plan mit dem Balkon nach Osten, dem Garten und den Feldern zugewendet, die andere dem Dorfe zu. In Erwartung des Erwachens meiner Frau würde ich den Schlafrock anziehen und in den Garten gehen, um die Morgendünste einzuatmen; dort finde ich schon den Gärtner vor, wir begießen zusammen die Blumen und stutzen das Gebüsch und die Bäume. Ich pflücke einen Strauß Blumen für meine Frau. Dann gehe ich in die Wanne oder in den Fluß baden, komme zurück, und der Balkon ist schon offen; meine Frau steht in einer Bluse und einem leichten Häubchen, das sich kaum hält und, wie es scheint, gleich fortfliegen wird ... Sie erwartet mich. ›Der Tee ist fertig‹, sagt sie. Was für ein Kuß! Was für ein Tee! Was für ein bequemer Sessel! Ich setze mich an den Tisch; darauf steht Zwieback oder frische Butter ...«

»Dann!«

»Dann ziehe ich einen weiten Rock oder irgendeine Joppe an, umfasse die Taille meiner Frau und vertiefe mich mit ihr in eine endlose, dunkle Allee; wir gehen[636] langsam und sinnend, schweigen oder denken laut, träumen, zählen die Augenblicke des Glücks wie das Schlagen des Pulses; hören zu, wie das Herz klopft oder erstarrt; suchen in der Natur nach Widerhall ... und kommen unmerklich zum Fluß, zum Feld hin ... Der Fluß plätschert leise; die Ähren wogen im Winde, es ist heiß ... Wir steigen ins Boot, die Frau rudert, die Ruder kaum sichtbar hebend ...«

»Du bist ja ein Dichter, Ilja!« unterbrach Stolz.

»Ja, ein Dichter des Lebens, denn das Leben ist Poesie. Es gefällt nur den Menschen, es zu verzerren! Dann kann man in das Glashaus gehen«, fährt Oblomow fort, sich selbst an dem beschriebenen Ideal des Glückes berauschend.

Er entnahm seiner Phantasie die fertigen, längst entworfenen Bilder und sprach darum voll Begeisterung und ohne sich zu unterbrechen.

»Wir schauen uns die Pfirsiche und Weintrauben an«, sprach er, »geben an, was bei Tische aufzutragen ist, kehren dann zurück, nehmen ein leichtes Frühstück ein und erwarten die Gäste ... Und unterdessen bekommt die Frau ein Briefchen von irgendeiner Marja Pjetrowna mit beigelegten Noten oder einem Buch, es wird eine Ananas zum Geschenk geschickt oder es ist in meinem Glashaus eine riesengroße Melone gereift, die wir einem guten Freund für morgen zum Mittagessen schicken, und wir fahren auch selbst hin ... Und in der Küche sind unterdessen alle Hände beschäftigt. Der Koch rennt in der schneeweißen Schürze und Mütze hin und her; er stellt eine Pfanne hin und nimmt eine andere vom Feuer, hier rührt er etwas, dort knetet er den Teig und schüttet das Wasser aus ... Die Messer sind in immerwährender Bewegung ... Das Gemüse wird zerhackt ... Dort wird die Eismaschine gedreht ... Es ist angenehm, vor dem Essen in die Küche hineinzublicken, eine Pfanne zu öffnen und zu riechen, zuzuschauen, wie die Pirogen zusammengerollt werden und wie der Rahmschaum geschlagen wird. Dann lege ich mich aufs Sofa; die Frau liest mir[637] etwas Neues vor; wir unterbrechen die Lektüre und debattieren ... Jetzt kommen die Gäste, zum Beispiel du mit deiner Frau.«

»Was, du läßt auch mich heiraten?«

»Natürlich! Dann noch zwei, drei Freunde, immer dieselben Gesichter. Wir setzen das gestrige, unvollendete Gespräch fort; es wird gescherzt oder es tritt auch ein beredtes Schweigen, eine Nachdenklichkeit ein – nicht infolge des Verlustes eines Amtes oder einer Angelegenheit im Senat, sondern infolge der Fülle verwirklichter Wünsche –, das Sinnen des Glückes ... Man hört keine Philippika, die mit Schaum auf den Lippen den Abwesenden zugeschleudert wird, du fängst keinen Blick auf, der auch dir dasselbe verspricht, sobald die Tür hinter dir zugefallen ist. Mit demjenigen, der uns nicht lieb ist, der schlecht ist, teilen wir unser Brot und Salz nicht. In den Augen der Anwesenden sieht man Sympathie, beim Scherz hört man ein aufrichtiges, gutmütiges Lachen ... Alles kommt von Herzen! Was in den Augen und in den Worten ist, ist auch im Herzen! Auf das Mittagessen folgt Mokka und eine Havanna auf der Terrasse ...«

»Du malst mir dasselbe, was auch bei den Vätern und Großvätern war.«

»Nein, das ist nicht dasselbe«, entgegnete Oblomow, fast beleidigt, »wieso denn? Würde sich denn meine Frau mit Pilzen und Eingesottenem befassen? Würde sie denn die Garnsträhne zählen und die Leinwand messen? Würde sie denn die Mägde auf die Backen schlagen? Hörst du! Wir haben Noten, Bücher, ein Klavier, elegante Möbel!«

»Nun, und du selbst?«

»Ich würde selbst keine vorjährigen Zeitungen lesen, würde nicht in einer Kalesche fahren und nicht Mandeln und Gänse essen, sondern ich würde meinen Koch im englischen Klub oder beim Gesandten lernen lassen.«

»Nun, und dann?«

»Dann, wenn die Hitze nachläßt, würden wir einen[638] Wagen mit dem Samowar und dem Dessert in den Birkenhain oder aufs Feld, aufs gemähte Gras schicken, würden zwischen den Garben Teppiche ausbreiten und so bis zur Okroschka1 und dem Beefsteak schwelgen. Die Bauern kehren mit den Sensen auf den Schultern vom Felde zurück, dort führt man Heu vorüber, das den ganzen Wagen und das Pferd bedeckt; oben steckt aus dem Haufen eine blumenumwundene Bauernmütze und ein Kinderköpfchen hervor; dort singt eine Gruppe barfüßiger Frauen mit Sicheln in den Händen ... Plötzlich erblicken sie die Herrschaft, verstummen und verneigen sich tief. Eine davon hat einen sonnengebräunten Hals, nackte Ellenbogen und schüchtern gesenkte, aber schelmische Augen, sie gibt sich nur den Anschein, den Herrn zurückzuweisen, ist aber glücklich ... Pst! ... daß die Frau es nicht merkt, um Gottes willen!«

Oblomow und Stolz lachten herzlich.

»Es ist feucht im Felde«, schloß Oblomow, »es ist dunkel; der Nebel hängt wie ein umgestürztes Meer über dem Korn; die Pferde zittern an den Schultern und schlagen mit den Hufen; es ist Zeit heimzukehren. Im Hause flimmern schon Lichter; in der Küche hämmern die Messer; eine Pfanne voll Pilze, Kotelettes, Beeren ... Dann Musik ... Casta diva ... Casta diva!« sang Oblomow. »Ich kann an Casta diva nicht gleichgültig denken«, sagte er, nachdem er den Anfang der Kavatine gesungen hatte; »wie diese Frau ihr Herzleid klagt! Welche Trauer liegt in diesen Tönen! ... Und niemand um sie herum weiß etwas ... Sie ist allein ... Das Geheimnis lastet auf ihr; sie vertraut es dem Mond an ...«

»Du liebst diese Arie? Das freut mich sehr; Olja Iljiuskaja singt sie sehr schön. Ich werde dich dort bekannt machen – ist das eine Stimme und ein Gesang! Und was ist sie selbst für ein entzückendes Kind! Übrigens urteile ich vielleicht nicht objektiv; ich habe eine Schwäche für sie ... Laß dich aber nicht ablenken«, fügte Stolz hinzu, »erzähle.«[639]

»Nun«, fuhr Oblomow fort, »was noch? ... Das ist alles! ... Die Gäste ziehen sich in die Seitengebäude und die Pavillons zurück; und am nächsten Morgen geht jeder seines Weges; der eine fischt, der andere nimmt das Gewehr, der sitzt einfach so da ...«

»Einfach so, ohne etwas in der Hand zu haben?« fragte Stolz.

»Was brauchst du denn? Vielleicht ein Taschentuch. Würdest du nicht so leben wollen?« fragte Oblomow, »was? Ist das nicht das Leben?«

»Und immer dasselbe?« fragte Stolz.

»Bis zu den grauen Haaren, bis zum Grabe. Das ist das Leben!«

»Nein, das ist nicht das Leben!«

»Wieso nicht? Was fehlt hier? Denke nur daran, daß du keinem einzigen bleichen, leidenden Gesicht, keiner Sorge, keiner einzigen Frage bezüglich des Senats, der Börse, der Aktien, der Relationen, des Empfanges beim Minister, der Titel, der Erhöhung der Diäten begegnen würdest. Es werden nur intime Gespräche geführt! Du würdest niemals deine Wohnung zu wechseln brauchen – was das allein wert ist! Und das wäre nicht das Leben?«

»Das ist nicht das Leben!« wiederholte Stolz beharrlich.

»Was ist es denn dann deiner Meinung nach?«

»Das ...« (Stolz sann nach, wie er dieses Leben nennen sollte) »das ist ... eine Oblomowerei!« sagte er endlich.

»Ob-lo-mowerei!« wiederholte Ilja Iljitsch langsam, sich über dieses seltsame Wort wundernd und es nach den Silben zerlegend, »Ob-lo-mo-we-rei!«

Er blickte Stolz seltsam und forschend an.

»Worin besteht denn deiner Ansicht nach das Lebensideal? Nicht in der Oblomowerei?« fragte er schüchtern und ohne Begeisterung, »streben denn nicht alle nach dem, wovon ich träume? Ich bitte dich«, fügte er dreister hinzu, »ist denn das Erreichen der Ruhe, das Streben nach diesem verlorenen Paradiese nicht das Ziel eurer ganzen Geschäftigkeit, eurer Leidenschaften, eurer Kriege, eures Handelns und eurer Politik?«[640]

»Deine Utopie ist echt oblomowisch«, entgegnete Stolz.

»Alle streben nach Ruhe und Stille«, verteidigte sich Oblomow.

»Nicht alle, auch du hast vor zehn Jahren im Leben nach etwas andrem gesucht.«

»Wonach habe ich denn gesucht?« fragte Oblomow erstaunt, sich im Geiste in die Vergangenheit versenkend.

»Denke nach und erinnere dich. Wo sind deine Bücher und Übersetzungen?«

»Sachar hat sie irgendwohin gesteckt«, antwortete Oblomow, »sie liegen wohl irgendwo hier in der Ecke.«

»In der Ecke«, sagte Stolz vorwurfsvoll, »in derselben Ecke liegen auch deine Vorsätze ›zu arbeiten, solange die Kräfte ausreichen; denn Rußland braucht Hände und Köpfe zum Verarbeiten seiner unerschöpflichen Quellen‹ (deine eigenen Worte), ›sich abzumühen, damit das Ausruhen süßer ist, und sich ausruhen bedeutet, das Leben von einer anderen, artistischen, anmutigen Seite zu genießen, die den Künstlern und Dichtern offensteht‹. Hat Sachar auch alle diese Vorsätze in die Ecke geworfen? Erinnerst du dich, du wolltest, nachdem du mit den Büchern fertig sein würdest, in fremde Länder reisen, um dann das eigene besser zu kennen und mehr zu lieben? ›Das ganze Leben ist Denken und Arbeiten‹, sagtest du damals, ›und wenn es auch ein geheimes, bescheidenes, aber doch ein unaufhörliches Arbeiten ist und man mit dem Bewußtsein sterben kann, seine Pflicht erfüllt zu haben‹ – was? In welcher Ecke liegt das bei dir?«

»Ja ... ja ...«, sagte Oblomow, jedes Wort unruhig aufnehmend, »ich erinnere mich, daß ich wirklich ... ich glaube ... Wie ist es denn?« sagte er, sich plötzlich an die Vergangenheit erinnernd, »wir hatten wohl vor, ganz Europa kreuz und quer zu durchstreifen, die Schweiz zu Fuß zu durchwandern, die Füße am Vesuv zu sengen, nach Herkulanum herabzusteigen. Wir sind beinahe verrückt geworden! Wieviel Dummheiten ...«

»Dummheiten!« wiederholte Stolz vorwurfsvoll. »Hast[641] du nicht beim Anblick der Stiche, welche die Madonnen von Raffael, die Nacht von Correggio, Apollo von Belvedere wiedergaben, unter Tränen gesagt: ›Mein Gott! Wird es mir nie beschieden sein, die Originale zu sehen und vor Entsetzen zu erstarren, weil ich vor einem Werke von Michel Angelo oder von Tizian stehe und über den Boden von Rom schreite! Kann man denn ein ganzes Leben verbringen und die Myrten, Zypressen und Pomeranzen in Glashäusern und nicht in ihrer Heimat sehen? Nicht die Luft Italiens einatmen und sich nicht an der Bläue des Himmels berauschen?‹ Und was für glänzendes Feuerwerk du deinem Kopfe sonst noch entsteigen ließest! Dummheiten.«

»Ja, ja, ich erinnere mich!« sagte Oblomow, sich in die Vergangenheit zurückdenkend. »Du hast mich noch bei der Hand genommen und gesagt: ›Wollen wir uns das Versprechen geben, nicht zu sterben, bevor wir das alles gesehen haben ...‹«

»Ich erinnere mich«, fuhr Stolz fort, »daß du mir einmal eine Übersetzung von Say mit einer Widmung zu meinem Geburtstage gebracht hast; die Übersetzung liegt noch unversehrt bei mir. Und wie du dich mit dem Lehrer der Mathematik eingeschlossen hast und durchaus darauf kommen wolltest, wozu du die Kreise und Quadrate kennen mußt, und bist doch nicht darauf gekommen! Du hast angefangen, Englisch zu lernen ... und hast nicht zu Ende gelernt! Und als ich den Plan einer Reise ins Ausland entwarf und dir vorschlug, dir die deutschen Universitäten anzusehen, bist du aufgesprungen, hast mich umarmt und mir feierlich die Hand gereicht: ›Ich bin dein, Andrej, ich folge dir überallhin‹ – das sind deine Worte. Du hattest immer etwas von einem Schauspieler an dir. Was ist daraus geworden, Ilja? Ich war zweimal im Auslande und habe, nachdem ich mit unserer Weisheit vertraut geworden war, bescheiden auf den Universitätsbänken in Bonn, in Jena und in Erlangen gesessen und habe Europa wie mein Gut kennengelernt. Übrigens ist eine Reise ins Ausland ein Luxus, den nicht[642] ein jeder in der Lage und verpflichtet ist, sich zu leisten; aber Rußland? Ich habe Rußland kreuz und quer durchreist. Ich arbeite ...«

»Du wirst doch einmal zu arbeiten aufhören«, bemerkte Oblomow.

»Ich werde niemals aufhören. Warum denn?«

»Wenn du dein Kapital verdoppelt hast«, sagte Oblomow.

»Ich höre auch dann nicht auf, wenn ich es vervierfacht habe.«

»Weswegen mühst du dich dann ab?« fragte Oblomow nach einer Weile, »wenn dein Ziel nicht darin besteht, dich für immer zu versorgen und dich dann zurückzuziehen und auszuruhen? ...«

»Die ländliche Oblomowerei!« sagte Stolz.

»Oder durch dein Amt eine Stellung und einen Namen in der Gesellschaft zu erlangen und dann in achtbarem Nichtstun die verdiente Ruhe zu genießen ...«

»Petersburger Oblomowerei!« entgegnete Stolz.

»Wann soll man denn leben?« fragte Oblomow, durch die Bemerkung von Stolz gereizt. »Wozu soll man sich dann das ganze Leben abquälen?«

»Um der Arbeit selber willen, das ist alles. Die Arbeit ist die Gestalt, der Inhalt, das Element und Ziel des Lebens, wenigstens des meinigen. Sieh, du hast die Arbeit aus dem Leben verbannt; was ist daraus geworden? Ich versuche, dich, vielleicht zum letzten Male, aufzurütteln. Wenn du auch dann noch mit den Tarantjews und Alexews hier sitzenbleiben wirst, dann bist du ganz verloren und wirst dir selbst zur Last fallen. Jetzt oder nie!« schloß er.

Oblomow hörte ihm zu und blickte ihn mit unruhigen Augen an. Es war, als hätte der Freund ihm einen Spiegel vorgehalten und als hätte er sich entsetzt erkannt.

»Schilt mich nicht, Andrej, sondern hilf mir wirklich!« begann er seufzend. »Ich quäle mich damit ab, und wenn du zum Beispiel heute gesehen und gehört hättest, wie ich mir selbst ein Grab vorbereite und mich beweine,[643] hättest du es nicht fertig gebracht, mir Vorwürfe zu machen. Ich weiß und begreife alles, ich habe aber keine Kraft und keinen Willen. Gib mir deinen Willen und deinen Verstand und führe mich, wohin du willst. Ich werde dir vielleicht folgen, aber allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Du sagst die Wahrheit: ›Jetzt oder nie mehr!‹ Noch ein Jahr, und es ist zu spät!«

»Bist denn du das, Ilja?« sprach Andrej, »ich sehe dich als einen schlanken, lebhaften Knaben, wie du jeden Tag von der Pretschistenka2 nach Kudrino gegangen bist; dort im Garten ... Hast du die zwei Schwestern vergessen? Und Rousseau, Schiller, Goethe, Byron, die du ihnen hingetragen hast, und die Romane von Cottin und Genlis, die du ihnen fortgenommen hast ... Weißt du noch, wie wichtig du vor ihnen getan hast und wie du ihren Geschmack reinigen wolltest?«

Oblomow sprang vom Sofa auf.

»Wie, du erinnerst dich noch daran, Andrej? Ja, gewiß! Ich habe mit ihnen geträumt, habe ihnen Zukunftshoffnungen zugeflüstert, habe ihre Pläne, Gedanken und auch Gefühle im geheimen vor dir entwickelt, damit du mich nicht auslachst. Dort ist das alles gestorben und hat sich nie mehr wiederholt! Und wo ist alles geblieben? – Warum ist alles erloschen? Das ist unbegreiflich! Es hat bei mir ja weder Stürme noch Erschütterungen gegeben; ich habe nichts verloren; mein Gewissen wird von keinem Joch bedrückt; es ist rein wie Glas; mein Selbstgefühl wurde von keinem Schlage betroffen. Gott weiß, warum alles in mir zugrunde geht!«

Er seufzte.

»Weißt du, Andrej, in meinem Leben hat nie weder ein rettendes noch ein verwüstendes Feuer gebrannt! Mein Leben erinnerte nicht an einen Morgen, der allmählich in allen Farben spielt und von einer Flamme beleuchtet wird, die, wie es bei anderen ist, sich dann in einen heißlodernden Tag verwandelt, da alles im hellen Mittag wogt und sich bewegt, immer bleicher und stiller wird[644] und gegen Abend ganz natürlich und allmählich erlischt. Nein, mein Leben hat mit dem Erlöschen begonnen. Das ist seltsam, aber es ist so! Ich habe gleich im ersten Augenblicke, als mein Bewußtsein erwachte, gefühlt, daß ich schon erlösche. Ich habe beim Schreiben der Akten in der Kanzlei zu erlöschen begonnen; ich erlosch dann weiter, als ich in den Büchern Wahrheiten las, mit denen ich im Leben nichts anzufangen wußte; ich erlosch mit den Kameraden, indem ich ihren Gesprächen, ihrem Klatsch, dem Nachäffen, dem boshaften und kalten Plaudern und ihrer Leere lauschte, indem ich der Freundschaft zuschaute, die durch Zusammenkünfte ohne Spiel und Sympathie aufrechterhalten wurde, ich erlosch und vergeudete meine Kraft mit Mühe; ich habe ihr mehr als die Hälfte meines Einkommens gezahlt und habe mir eingebildet, daß ich sie liebe; ich erlosch während des trägen, geisttötenden Herumspazierens auf dem Newskij-Prospekt, inmitten von Bärenpelzen und Biberkragen, auf Abenden, an Empfangstagen, wo man mich als eine ganz annehmbare Partie gastfreundlich bewillkommnete; ich erlosch und gab das Leben und den Geist auf Kleinigkeiten aus, indem ich aus der Stadt aufs Land, vom Land in die Gorochowajastraße fuhr, den Frühling durch die Ankunft von Austern und Hummern, den Herbst und Winter durch die Empfangstage, den Sommer durch Spaziergänge und das ganze Leben ebenso wie die andern durch ein träges, bequemes Hindämmern bestimmte ... Worauf wurde selbst der Ehrgeiz verschwendet? Darauf, sich bei einem bekannten Schneider die Kleider zu bestellen? In einem vornehmen Hause zu verkehren? Darauf, daß Fürst P. mir die Hand drückte? Und der Ehrgeiz ist ja das Salz des Lebens! Worauf wurde er verwendet? Entweder, ich habe dieses Leben nicht begriffen, oder es taugt nicht, ich habe nichts Besseres gekannt oder gesehen, niemand hat es mir gezeigt. Du bist erschienen und hell und rasch verschwunden wie ein Komet, und ich vergaß alles und erlosch ...«

Stolz beantwortete Oblomows Worte nicht mehr mit[645] einem verächtlichen Lächeln. Er hörte zu und schwieg düster.

»Du hast vorhin gesagt, daß mein Gesicht nicht ganz frisch ist«, sprach Oblomow weiter, »ja, ich bin welk, alt, abgenützt, aber nicht vom Klima, nicht von der Arbeit, sondern weil in mir zwölf Jahre lang das Licht eingeschlossen war, das nach Ausbruch rang, aber sein Gefängnis nur verbrannte, ohne in die Freiheit zu gelangen, und erlosch. Es sind also zwölf Jahre vergangen, mein lieber Andrej; ich wollte schon nicht mehr erwachen.«

»Warum hast du dich denn nicht losgerissen und bist nicht irgendwohin geflohen, sondern bist schweigend zugrunde gegangen?« fragte Stolz ungeduldig.

»Wohin?«

»Wohin? Wenigstens mit deinen Bauern an die Wolga. Auch dort ist ja mehr Bewegung, dort gibt es irgendwelche Interessen, ein Ziel, eine Arbeit. Ich würde nach Sibirien gereist sein ...«

»Du schreibst immer solche starke Mittel vor!« bemerkte Oblomow traurig. »Bin ich denn der einzige? Schau nur: Michailow, Pjetrow, Ssemjonow, Stjepanow ... Es ist nicht zu zählen – es ist eine Legion!«

Stolz stand noch unter dem Eindrucke dieser Beichte und schwieg. Dann seufzte er.

»Ja, es ist viel Wasser ins Meer geflossen!« sagte er. »Ich werde dich so nicht zurücklassen, ich werde dich von hier fortführen, zuerst ins Ausland, und dann ins Dorf. Du wirst ein wenig abnehmen, wirst deinen Spleen verlieren, und dann finden wir für dich eine Beschäftigung ...«

»Ja, wir wollen irgendwohin fahren!« rief Oblomow aus.

»Morgen werden wir ein Gesuch um einen ausländischen Paß für dich einreichen und werden dann unsere Reisevorbereitungen treffen ... Ich werde nicht davon ablassen, Ilja, hörst du?«

»Bei dir ist alles morgen!« entgegnete Oblomow, der aus den Wolken zu fallen schien.

»Du möchtest das, was heute getan werden kann, nicht[646] auf morgen verschieben? Hast du solche Eile! Heute ist es zu spät«, fügte Stolz hinzu, »aber in vierzehn Tagen werden wir schon weit sein ...«

»Aber Bruder, schon in vierzehn Tagen, habe doch ein Einsehen, so plötzlich! ...« sagte Oblomow. »Laß mir Zeit, mir das zu überlegen und mich vorzubereiten ... Man muß sich doch irgendeinen Tarantaß aussuchen ... Vielleicht in drei Monaten.«

»Von was für einem Tarantaß fabelst du da? Wir fahren im Postwagen zur Grenze hin, oder auf dem Dampfschiffe bis Lübeck, wie es bequemer sein wird, und dann fährt an vielen Orten die Eisenbahn.«

»Und die Wohnung, Sachar und Oblomowka? Ich muß doch erst alles ordnen«, verteidigte sich Oblomow.

»Oblomowerei, Oblomowerei!« sagte Stolz lachend, nahm die Kerze, wünschte gute Nacht und ging schlafen. »Jetzt oder nie! – Denke dran!« fügte er hinzu, indem er sich zu Oblomow umwandte und die Tür hinter sich schloß.

1

Suppe aus Kwaß, mit Fleisch, Fisch, Gurke usw.

2

Straße in Moskau.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 628-647.
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