[613] Stolz war Oblomows Altersgenosse; auch er war schon über dreißig Jahre alt. Er war im Staatsdienste gewesen, trat dann aus, gab sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten ab und erwarb sich tatsächlich ein Haus und Geld. Er ist an irgendeiner Gesellschaft beteiligt, die Waren nach dem Auslande schickt. Er ist immer in Bewegung. Wenn die Gesellschaft nach Belgien oder England einen Agenten schicken muß, reist er hin; wenn ein neues Projekt ausgearbeitet werden muß oder wenn irgendeine neue Idee dem Geschäfte anzupassen ist, wird das immer ihm übergeben. Und dabei kommt er in Gesellschaft und liest; Gott weiß, wann er das alles fertig bringt. Er besteht nur aus Knochen, Muskeln und Nerven, wie ein reinrassiges englisches Pferd. Er ist schmächtig, hat fast gar keine Wangen, das heißt er hat Knochen und darauf Muskeln, aber keine Spur einer fetten Rundung; seine Gesichtsfarbe ist gleichmäßig, dunkel und ohne jede Röte; die Augen sind zwar ein wenig grünlich, aber ausdrucksvoll. Er hatte keine überflüssigen Bewegungen. Wenn er saß, verhielt er sich ganz ruhig, wenn er aber irgend etwas tat, wandte er dabei nur so viel von seiner Mimik an, als notwendig war. Ebenso wie es in seinem Organismus nichts Überflüssiges gab, suchte er auch in den moralischen Funktionen seines Lebens nach einem Gleichgewichte zwischen den praktischen Seiten und den feineren Bedürfnissen seiner Seele. Diese beiden Gebiete liefen parallel, kreuzten sich und verstrickten sich unterwegs, verknüpften sich aber niemals zu unlösbaren, quälenden Knoten. Er ging festen Schrittes[614] frisch vorwärts, lebte nach einem Budget, indem er bestrebt war, jeden Tag, ebenso wie jeden Rubel, unter eine beständige, nie versagende Kontrolle der verbrauchten Zeit, Arbeit, Kraft der Seele und des Herzens zu stellen.
Er schien die Freuden und Leiden ebenso wie die Bewegungen seiner Hände und die Schritte seiner Füße zu beherrschen und sich dabei wie bei gutem oder schlechtem Wetter zu verhalten. Er öffnete den Schirm, solange es regnete, das heißt, er litt, solange der Schmerz anhielt, tat es aber ohne schüchterne Demut, sondern mit Ärger, und ertrug ihn nur deshalb geduldig, weil er den Grund jeden Schmerzes sich selbst zuschrieb und ihn nicht wie einen Rock auf einen fremden Nagel hängte. Er genoß auch die Freude, wie eine unterwegs gepflückte Blume, bis sie in seiner Hand verwelkte, ohne den Kelch jemals bis auf jenen Wermutstropfen zu leeren, der auf dem Boden eines jeden Genusses ruht. Es war eine beständige Aufgabe, sich eine einfache, das heißt eine gerade und wahre Ansicht über das Leben zu bilden, und während er allmählich ihrer Lösung zustrebte, begriff er ihre ganze Schwierigkeit und war jedesmal, wenn er auf seinem Wege eine Krümmung bemerkte und ihm ein gerader Schritt gelang, innerlich stolz und glücklich. »Es ist kompliziert und schwer, einfach zu leben!« sagte er sich oft und sah eilig hin, wo es schief wurde und wo der Faden der Lebensschnur sich zu einem unregelmäßigen, komplizierten Knoten zu verwickeln begann. Am meisten fürchtete er die Phantasie, diesen heuchlerischen Begleiter, der auf der einen Seite ein freundschaftliches und auf der anderen ein feindliches Gesicht hat, der ein desto größerer Freund ist, je weniger man ihm glaubt, und zum Feind wird, wenn man, seinem süßen Geflüster vertrauend, einschlummert. Er fürchtete jeden Traum; wenn er aber in dieses Gebiet eintrat, tat er es, wie man in eine Grotte tritt, die die Inschrift: ma solitude, mon hermitage, mon repos trägt, wobei man die Stunde und die Minute weiß, zu der man wieder herauskommt. Der Traum, als etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, fand in seiner[615] Seele keinen Platz. Das, was sich der Analyse der Erfahrung der realen Wahrheit nicht unterwarf, war für ihn eine optische Täuschung, die eine oder andere Brechung der Strahlen und Farben auf dem Netze des Sehorganes, oder endlich eine Tatsache, an die die Erfahrung noch nicht herangetreten ist. Er frönte auch nicht jenem Dilettantismus, der sich auf dem Gebiete des Wunderbaren zu ergehen liebt oder mit Zuhilfenahme von Ahnungen und Entdeckungen für tausend Jahre im vorhinein sich auf den Don Quijote hinausspielt. Er blieb an der Schwelle des Geheimnisses hartnäckig stehen, ohne den Glauben eines Kindes oder das Zweifeln eines Laffen zu äußern, und wartete das Erscheinen des Gesetzes ab, das auch den Schlüssel zu dem Unbegreiflichen brachte. Er kontrollierte seine Gefühle ebenso fein und vorsichtig wie seine Phantasie. Hier strauchelte er oft und mußte sich eingestehen, daß das Gebiet der Herzensfunktionen noch eine terra incognita war. Er dankte inbrünstig dem Schicksal, wenn es ihm gelang, auf diesem unbekannten Gebiete die geschminkte Lüge vor der bleichen Wahrheit rechtzeitig zu unterscheiden; er klagte nicht einmal dann, wenn er vor dem mit Blumen geschmückten Betruge zurücktrat und nicht fiel und wenn sein Herz nur fieberhaft und beschleunigt schlug, er war froh und glücklich, wenn es nicht von Blut überströmte, wenn ihm kein kalter Schweiß auf die Stirne trat und sich dann für lange Zeit ein tiefer Schatten auf sein Leben senkte. Er hielt sich schon dann für glücklich, wenn er sich stets auf der gleichen Höhe zu halten vermochte und wenn er, auf dem Steckenpferde des Gefühls reitend, den feinen Strich, der die Welt des Gefühls von der Welt der Lüge und Sentimentalität und die Welt der Wahrheit von der Welt des Komischen trennte, nicht unbemerkt ließ oder wenn er beim Zurückreiten nicht auf den sandigen, trockenen Boden der Härte, des Räsonierens, des Mißtrauens, der Kleinlichkeit und der Kastration des Herzens geriet.
Er fühlte, auch während er sich hinreißen ließ, den Boden unter den Füßen und hatte so viel Kraft in sich,[616] um sich im Falle der Übertreibung loszureißen und freizumachen. Er ließ sich durch die Schönheit nicht blenden, vergaß darum nicht seine männliche Würde und erniedrigte sich nicht, er wurde nicht zum Sklaven, lag nicht zu den Füßen der Schönen, wenn er auch keine feurigen Freuden kennenlernte. Er machte sich keine Götzen, erhielt sich aber dafür die Kraft der Seele und des Körpers und war keusch und stolz; ihm entströmte so viel Frische und Gesundheit, daß auch die dreisten Frauen verwirrt wurden. Er kannte den Wert dieser seltenen und kostbaren Eigenschaften und verbrauchte sie so geizig, daß man ihn egoistisch und gefühllos nannte. Man rügte seine Zurückhaltung, seine Kunst, die Grenzen des natürlichen, freien Geisteszustandes einzuhalten, und rechtfertigte dabei manchmal voll Neid und Bewunderung einen andern, der sich in vollem Laufe in den Kot stürzte und sowohl seine eigene als auch eine fremde Existenz zerstörte. »Die Leidenschaften rechtfertigen alles«, sagte man um ihn herum, »und Sie schonen in Ihrem Egoismus nur sich selbst; wir wollen sehen, für wen.« – »Für irgendwen am Ufer«, sagte er nachdenklich, als blickte er in die Ferne und glaubte wie bisher nicht an die Poesie der Leidenschaften, bewunderte nicht ihre stürmischen Äußerungen und zerstörenden Spuren, sondern wollte immer das Ideal des Seins und der menschlichen Bestrebungen im strengen Verständnis und Gestalten des Lebens sehen. Und je mehr man seine Ansichten bestritt, desto tiefer gab er sich seiner Hartnäckigkeit hin und geriet sogar, wenigstens während der Debatten, in einen puritanischen Fanatismus hinein. Er sagte, es sei die normale Bestimmung des Menschen, die vier Jahreszeiten, das heißt die vier Stufen des Alterns, ohne Sprünge zu verleben, das Gefäß des Lebens zum letzten Tag hinzutragen, ohne auch nur einen einzigen Tropfen nutzlos verschüttet zu haben, und daß das gleichmäßige, langsame Brennen des Feuers der stürmischen Feuersbrunst, wie poetisch sie auch sein mochte, vorzuziehen sei. Zum Schlusse fügte[617] er hinzu, daß er glücklich wäre, wenn er seine Überzeugung an sich bewahrheiten könnte, daß er es aber nicht zu erreichen fürchte, weil es sehr schwer wäre; daß die Menschen überhaupt zu sehr verdorben wären und daß es noch keine wahre Erziehung gäbe. Und dabei verfolgte er immer beharrlich den von ihm erwählten Weg. Man sah niemals, daß er über etwas krankhaft und qualvoll grübelte; an ihm schienen keine Gewissensbisse des ermüdeten Herzens zu nagen; er krankte nicht an der Seele, verlor niemals in verwickelten, schwierigen oder neuen Verhältnissen den Kopf, sondern trat an dieselben wie an gute Bekannte heran, als lebe er zum zweiten Male und gehe durch eine bekannte Gegend. Worauf er auch stoßen mochte, er fand gleich die entsprechende Verhaltungsmaßregel heraus, wie eine Wirtschafterin aus der Menge der an ihrem Gurt hängenden Schlüssel auf den ersten Griff gerade denjenigen herausfindet, der zu der einen oder anderen Tür paßt. Er achtete die Beharrlichkeit im Erreichen eines Zieles als das Höchste; das war in seinen Augen ein Zeichen von Charakter, und er versagte Menschen mit dieser Eigenschaft niemals seine Achtung, wie gering ihre Ziele auch sein mochten. »Das sind Menschen«, sagte er. Man braucht nicht hinzuzufügen, daß er kühn alle Hindernisse nahm, wenn er seinem Ziele entgegenschritt, und dasselbe erst dann aufgab, wenn auf seinem Wege eine Mauer emporragte oder sich ein unüberbrückbarer Abgrund auftat. Er war aber unfähig, sich mit jener Kühnheit zu bewaffnen, die mit geschlossenen Augen über einen Abgrund setzt oder auf gut Glück auf eine Mauer losstürzt. Er mißt den Abgrund oder die Mauer aus, und wenn er kein sicheres Mittel, sie zu bewältigen, weiß, wendet er sich ab, was man dazu auch sagen mag.
Um einen solchen komplizierten Charakter zu bilden, waren vielleicht gerade solche gemischte Elemente nötig, wie sie Stolz gebildet hatten. Unsere aktiven Menschen wurden von jeher gleichsam in fünf, sechs stereotype Formen gegossen, sie blickten träge, mit einem halben[618] Auge um sich, legten an die soziale Maschine ihre Hand und schoben sie schläfrig im selben Geleise weiter, indem sie in die Fußstapfen ihrer Vorgänger traten. Doch jetzt öffneten sich die Augen, man hörte feste, große Tritte und lebendige Stimmen ... Wieviel Stolze müssen noch unter russischem Namen erscheinen?
Wie konnte ein solcher Mensch Oblomow nahestehen, bei dem jeder Zug, jeder Schritt, die ganze Existenz ein Protest gegen das Leben von Stolz war? Es ist wohl schon eine zugegebene Tatsache, daß die ausgesprochene Entgegengesetztheit der Naturen, wenn nicht der Anlaß einer Sympathie, wie man früher glaubte, so doch kein Hindernis für eine solche bildet.
Dabei verband sie die Kindheit und die Schule – zwei starke Federn; außerdem kamen noch die in der Familie Oblomow dem deutschen Knaben freigebig entgegengebrachten herzlichen russischen Liebkosungen hinzu und die Rolle des Starken, die Stolz Oblomow gegenüber in physischer und geistiger Beziehung vertrat; aber am wichtigsten war endlich der reine, lichte und gute Keim in Oblomows Natur, der allem gegenüber, was gut war und was sich dem Ruf seines einfachen, ungekünstelten, stets vertrauenden Herzens eröffnete, tiefe Sympathie entgegenbrachte. Wer nur zufällig oder absichtlich in diese lichte, kindliche Seele hineinblickte, konnte, so düster und boshaft er auch sein mochte, ihm nicht seine Gegenliebe oder wenigstens ein gutes, bleibendes Angedenken versagen.
Andrej riß sich oft von seinen Geschäften oder von der Gesellschaft, von einem Abend oder Ball los und fuhr zu Oblomow hin, um auf dessen breitem Sofa zu sitzen und in einer trägen Unterhaltung die erregte oder ermüdete Seele zu beruhigen, und es kam über ihn immer jenes besänftigende Gefühl, welches man empfindet, wenn man aus reichgeschmückten Sälen in die eigene bescheidene Häuslichkeit kommt oder von den Schönheiten der südlichen Natur in den Birkenhain zurückkehrt, in dem man als Kind einst spazierengegangen war.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro