Ein Baum

[306] Im Tuileriengarten

Blüht ein Kastanienbaum;

Die Brüder aller Arten

Umfängt noch Wintertraum.


Eh' ihre Knospen sprangen,

Rauscht seine Blätterkron';

Eh' sie mit Laub behangen,

Prangt er in Blüthen schon.


So trägt der Auserkorne

Das Lenzpanier voran,

Daß er zur Folge sporne

Den grünen Heeresbann.


Ich lehnt' einst an dem Baume

Der mir zu Herzen sprach,

Und sann im Schattenraume

Dem Blüthenräthsel nach.
[307]

Mich wollt's der Geister mahnen,

Die schon zum Licht erwacht,

Als auf der Menschheit Bahnen

Noch lag des Wahnes Nacht;


Ich dachte der Erkornen,

In denen längst geblüht

Was jetzt uns Spätgebornen

Nachlenzet im Gemüth. –


Da schritt mit seinem Sohne

Des Wegs ein Edelmann,

Sah still zur Wipfelkrone

Und sprach zum Jungen dann:


»Hut ab! Ein Denkmal ragen

Siehst du der Schreckensnacht,

Da Meuter hier erschlagen

Die treu'ste Königswacht.


Weil von so edlen Leichen

Gedüngt der heil'ge Baum,

Muß er vor Seinesgleichen

Der erste blühn im Raum.«


Ihm folgten Wandrerschaaren

In Blousenhemden nach;

Ein Werkmann hoch in Jahren

Zu den Genossen sprach:
[308]

»Hier haben sie verblutet

Mit Schergen im Gefecht,

Die Männer freigemuthet,

Für ihres Volkes Recht.


Von solchem Thau begossen

Wird fruchtbar jeder Grund,

Drum muß der Baum auch sprossen

Der erste weit im Rund.« –


Ich horchte ihren Reden

Und sah das Widerspiel,

Als in die alten Fehden

Die junge Blüthe fiel.


Sie wähnen jede Ader

Des Baumes übervoll

Getränkt mit ihrem Hader,

Mit ihrem Zwist und Groll;


Doch er, – o mildes Tauschen! –

Er läßt ihr zürnend Weh

Im Blätterkranz verrauschen,

Verwehn im Blüthenschnee.


Verrausche und verwehe

So unser Leid und Streit!

Den Blüthenkranz nur sehe

Davon die Enkelzeit.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 306-309.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
In der Veranda
Sämtliche Werke 3: In der Veranda. Hg. von Anton Schlossar [Reprint der Originalausgabe von 1906]
In der Veranda
In Der Veranda: Eine Dichterische Nachlese (German Edition)

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon