24. Uber Die Göttliche Gnadenbeglückung / die alles Leid in Freud verkehret

[314] 1.

Du Himmlisches Sion! wann werd ich dich sehen?

wann werd' ich zu deinen Pracht-Thoren eingehen?

ach Jesu / mein Bräutigam / ruffe mir schier:

ich warte mit sehnender Herzlicher Gier.

Ich hab mir erlesen

das Himmlische Wesen /

auf dieses mein Geist

sich einig befleist.


2.

Du schöneste Schönheit der Tugenden Tugend!

ich opffer dir meine frisch-blühende Jugend.

Dein Gnaden-Besafftung sie süssest bethau /

daß Wunder-Frücht frölichst in solcher man schau.

Muß ich schon vermeiden

die Irdischen Freuden:

Rauch / Schatten und Wind

dieselben nur sind.


3.

Herz-herrschende lieblich doch heimliche Wonne /

hell-strahlend doch Augen-unsichtbare Sonne /[315]

du starke Bewegung / doch leiseste Stärk /

in mir selbst geschehnes doch wunderlichs Werk /

mit Freuden empfunden /

erstaunend gebunden!

ich weiß / und weiß nit /

was / wie mir geschicht!


4.

Auf heisseste Herzens-Angst / kühle Erquickung!

auf rollen des Donnern / der Sonne Anblickung!

in mitten des Schiffbruchs / den Hafen ersehn!

das heisset / aus Stixen zu Tithons Thron gehn!

das Hönig aus Gallen /

aus Düsterkeit Strahlen /

aus Steinen wird Safft

erwecket mit Krafft.


5.

Ein Wunder-Wind / wendet und lendet die Pfeile

vom Aehrenen Ziele / zur Flammen-Geist-Seule.

Die Menschen besinnen / bedrängen und plagen:

doch gehet es endlich nach Gottes behagen.

Sie brennen und pressen /

vor drohen schier fressen:

doch gwinnet das Feld

der Himmlische Held.


6.

Ihr Leschungs-Wind / muß mir mein Feuer aufblasen.

Ihr Würckung / verschlinget ihr eigenes Rasen.

Der Widerstand selber / befördert zum Ziel.

So leise / so weise ist Gottes Rath-Spiel.[316]

Laß rollen / laß prallen /

laß knallen und fallen!

der Wolken Glaß / bricht

der Sonne Gold nicht.


7.

Trotz / Vngelück / rühr mich! ich sitze / beschirmel.

Die Göttliche Gnaden-Hand selber dich stürmet.

Du woltst mich verbrennen: der Himmel sagt / nein?

du solt ein belebendes Phönix-Feur seyn.

Gott kan es verdrehen /

und machen aufgehen

die Sonne vom Nord /

es ist um ein Wort.


Quelle:
Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette, Nürnberg 1662, S. 314-317.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte
Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon