[314] 1.
Du Himmlisches Sion! wann werd ich dich sehen?
wann werd' ich zu deinen Pracht-Thoren eingehen?
ach Jesu / mein Bräutigam / ruffe mir schier:
ich warte mit sehnender Herzlicher Gier.
Ich hab mir erlesen
das Himmlische Wesen /
auf dieses mein Geist
sich einig befleist.
2.
Du schöneste Schönheit der Tugenden Tugend!
ich opffer dir meine frisch-blühende Jugend.
Dein Gnaden-Besafftung sie süssest bethau /
daß Wunder-Frücht frölichst in solcher man schau.
Muß ich schon vermeiden
die Irdischen Freuden:
Rauch / Schatten und Wind
dieselben nur sind.
3.
Herz-herrschende lieblich doch heimliche Wonne /
hell-strahlend doch Augen-unsichtbare Sonne /[315]
du starke Bewegung / doch leiseste Stärk /
in mir selbst geschehnes doch wunderlichs Werk /
mit Freuden empfunden /
erstaunend gebunden!
ich weiß / und weiß nit /
was / wie mir geschicht!
4.
Auf heisseste Herzens-Angst / kühle Erquickung!
auf rollen des Donnern / der Sonne Anblickung!
in mitten des Schiffbruchs / den Hafen ersehn!
das heisset / aus Stixen zu Tithons Thron gehn!
das Hönig aus Gallen /
aus Düsterkeit Strahlen /
aus Steinen wird Safft
erwecket mit Krafft.
5.
Ein Wunder-Wind / wendet und lendet die Pfeile
vom Aehrenen Ziele / zur Flammen-Geist-Seule.
Die Menschen besinnen / bedrängen und plagen:
doch gehet es endlich nach Gottes behagen.
Sie brennen und pressen /
vor drohen schier fressen:
doch gwinnet das Feld
der Himmlische Held.
6.
Ihr Leschungs-Wind / muß mir mein Feuer aufblasen.
Ihr Würckung / verschlinget ihr eigenes Rasen.
Der Widerstand selber / befördert zum Ziel.
So leise / so weise ist Gottes Rath-Spiel.[316]
Laß rollen / laß prallen /
laß knallen und fallen!
der Wolken Glaß / bricht
der Sonne Gold nicht.
7.
Trotz / Vngelück / rühr mich! ich sitze / beschirmel.
Die Göttliche Gnaden-Hand selber dich stürmet.
Du woltst mich verbrennen: der Himmel sagt / nein?
du solt ein belebendes Phönix-Feur seyn.
Gott kan es verdrehen /
und machen aufgehen
die Sonne vom Nord /
es ist um ein Wort.
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