Der Unzufriedene

[49] Wird es ewig nimmer tagen?

Dämmert ewig mir kein Licht?

Niemand achtet meiner Klagen,

Er, der Mächtge, hört sie nicht.


Gott! nur einen Tropfen Wahrheit

Schenk mir aus dem ewgen Quell,

Und mein Geist, erfüllt mit Klarheit,

Sieht der Dinge Wesen hell!


Uns umhüllt mit dunklem Schleier

Wahn und Trug mit tiefer Nacht,

Dann erst blickt das Auge freier,

Wenn es jenseits neu erwacht.


Sende, Vater, wenn die Träne

Deines Kinds dich doch erweicht,

Einen deiner höhern Söhne,

Der mir Lebensbalsam reicht,


Der mich durch das Leben leite,

Frei von Irrtum und von Wahn,

Freundlich helfend vor mir schreite

Auf der Wahrheit Dornenbahn!


Also rief von Horebs Spitze

Durch die weite Wildnis hin

Zu des Allgewaltgen Sitze

Einst der weise Nureddin,


Der in dunkeln Felsenschlünden

Unter Fasten und Gebet

Lebte, um das zu ergründen,

Was des Menschen Aug entgeht.


Sieh! da tönen Himmelslieder,

Und mit Geisteswehen wallt

Aus den Wolken hehr hernieder

Eine göttliche Gestalt.
[50]

Glänzend, gleich dem Morgenrote,

Und mit freundlichem Gesicht,

Senket sich der Himmelsbote,

Tritt zu Nureddin und spricht:


»Wisse, daß um euch zu lehren

Mich die weise Allmacht schuf,

Und aus höhern Himmelssphären

Steig ich nun auf deinen Ruf.«


»Gott erhörte meine Bitte«,

Rufet Nureddin, »er heißt

Aus der Himmelsbrüder Mitte

Niedersteigen einen Geist,


Reich mir denn vom Baum des Lebens

Die so seltne, edle Frucht,

Die der Weise stets vergebens

Hier in diesen Tälern sucht,


Schenke mir den Stein der Weisen«,

Sowie Nureddin dies ruft,

Schwingt der Geist in weiten Kreisen

Sich mit Zürnen in die Luft.


Und aus hohen Wolken schallet

Geisterstimme in sein Ohr:

»Wurm, der dort im Kote wallet«,

Rufts von oben, »blöder Tor,


Um den Menschen zu beglücken,

Gab die Gottheit ihm Verstand,

Doch in seines Geistes Blicken

Fesselt ihn ein festes Band.


Was in seines Wirkens Kreise

Er bedarf, doch soviel nur,

Gab ihm der allgütge, weise

Vater jeder Kreatur,
[51]

Doch statt für die Huld zu danken,

Die der Gütige ihm beut,

Überspringt er kühn die Schranken

Seiner schwachen Endlichkeit.


Manches kann er nicht verstehen,

Was Gott weise ihm verhehlt;

Da schafft kindisch aus Ideen

Er sich eine eigne Welt,


Er verkörpert seine Träume

Und ein Bild der Fantasie

Suchet er durch ferne Räume,

Sucht und findet es doch nie.


Drum laß ab von eitlem Streben!

An des Lebens Rand, am Grab,

Erst in einem bessern Leben

Fällt das Band der Augen ab!«


Den 19ten Juli 1807


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 49-52.
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