[77] Der Keim zu diesem Werk ist die »Mahnung« aus den Pilgerfahrten, worin der Kampf zwischen Leidenschaft und Weihe den bisher heftigsten und drohendsten, bildlichsten und lautesten Ausdruck gefunden hatte. Die angeborene Herrschsucht jedes starken Willens, der unversöhnliche Ingrimm jeder hohen Seele gegen die breite Gemeinheit, die Qual der einsamen Fülle in der massenhaften Öde hat sich hier verdichtet zum Wunschbild des schrankenlosen Herrn, zum Angstbild zugleich des entweihenden Machtfrevels. Denn schon hier wird nicht die Allmacht der erhabenen Person gewollt, sondern die des Gesetzes wodurch sie erhaben ist, nicht das »Sich-Ausleben«, die Erlaubnis zu »jeder Lust und jedem Mord« sondern die Heiligung des eigenen großen Überschwangs. Nur die Hemmung durch das niedrige Fremde steigert den Willen zur Macht, und freilich wird das Recht und der Wert jeder Handlung erst bestimmt durch die Art ihres Begehers. So wenig wie ein Wissen gleich für alle gibt es eine Sittlichkeit an sich, wohl aber gibt es für jeden eine [77] unbedingte Sittlichkeit: die ist für George kein bestimmtes Tun und Lassen, sondern ein Sein das all seine Taten und Leiden, welche auch immer, umschließt wie ein Klima seine Gewächse. Dies Sein, zum erstenmal zur Gestalt verdichtet im Algabal, muß gesetzlich, lauter und bis in die wildeste Leidenschaft hinein gotthaft sein, jeder Tat, jedes Opfers fähig, aber keines Abfalls von der Weihe – die Bejahung aller eigenen Möglichkeiten, zu denen nichts Niedriges gehört, aber zugleich ihre Bändigung:
O überhöre jenen lockungsschrei
Und sag nicht daß dein leid dein führer sei
Und wechsel nicht ein würdiges gewand!
Der Algabal hat den Traum von unbedingter Auswirkung des eigenen Gesetzes, das zugleich Leidenschaft und Weihe ist, zum erstenmal dichterisch erfüllt, indem er die Wunsch-gestalt mit ihrem Wunsch-reich zusammen beschwört. Dieser Traum ist nicht romantische Sehnsucht, kein »Ich-möchte-gern«, sondern Dichtung eines Besitzes und einer Besessenheit. Zu der angeborenen Heftigkeit der Triebe und ihrer erreichten Heiligung ist jetzt eine wirkliche Herrschaft gekommen, die für den Dichter nicht weniger bedeutet als für den Täter die Entscheidungsschlachten: die schrankenlose Gewalt über die Sprache. In den Hymnen ist Durchbruch, in den Pilgerfahrten siegreiches Ringen, im Algabal die vollendete Macht. Die letzten Härten und Krusten sind weggeschmolzen, Klänge, Worte, Wendungen schmiegen sich willig den verwegensten Griffen, das innere Aug dringt in die verschlossensten Grüfte .. eine vorher nicht einmal vermutbare Leuchtkraft der Laute, Saftigkeit und trunkene Schwere der Rhythmen, Dröhnen und Raunen, Wölben und Ragen, Schmeicheln und Gleiten des lang umworbenen heißumstrittenen Seelenelements ist erobert. Von der heutigen Sprachhöhe aus, die jedem leidlich begabten Schüler Wohllaut und Wortwahl gestattet worum Platen ihn beneidet hätte, begreift man kaum den Triumph und den Rausch ihres ersten Ersteigers, die tiefe Genugtuung und die herzschwellenden Fernblicke über das neue Gebiet. Das Entzücken das inmitten der epigonischen Fläue und der naturalistischen Gräue oder Bräune die ersten hörfähigen Leser beim Algabal empfanden kann er heute nimmer wecken, da es um andere Dinge geht[78] als um Entdeckungsräusche. George selbst hat diese Ebene längst überholt. Wohl aber durfte er damals seine Gewalt feiern – und weil bei ihm alles Frucht und Same zugleich ist, erweiterte die neue Sprachkraft seinen Raum, und der erweiterte Raum gab seiner Kraft neue Höhe und Helle.
Müßig zu fragen ob die neue Sprachgewalt die Herrschaftsvision hervortrieb oder die Herrschaftsvision die Sprachgewalt beflügelte – Macht und Schau sind nur zwei Ereignisse derselben Begabung, wie Leidenschaft und Weihe nur zwei Zustände desselben Charakters sind. Was in den beiden ersten Büchern noch nebeneinander oder nacheinander in einzelnen Augenblicken zur Sprache kam, das schoß jetzt zusammen um eine kreisbildende Mitte die alles in sich aufnehmen und wieder ausformen konnte. Das erste Finden eines solchen einheitlichen Seelenträgers ist der nächste große Schritt nach der Findung des eigenen Mittels und der eigenen Bahn. Nun erst bekommen die gestaltigen Schicksale ihren Grund und ihre Ordnung, nicht nur ihre Fülle in sich, sondern auch ihr Gewicht in einem Lebensganzen. Jetzt erst ist Georges dichterische Masse geründet. Nach der Stimmungseinheit der Hymnen, der Richtungseinheit der Pilgerfahrten bringt der Algabal zuerst, bei noch reicherem Gehalt und stärkerer Beherrschung der Mittel, die Gestalt- und Raumeinheit. Das Pilgertum konnte noch nicht alle bisherigen Motive Georges so umfassen wie das Herrschertum .. es war ein unzulängliches Symbol für die Inhalte der »Mahnung« oder der »Gesichte«. Das Priesterkönigtum aber nahm offen und willig in sich auf: Verlangen nach dem eigenen Reich, qualvolle Einsamkeit und fromme Seligkeit des Entrückten, Vermessenheit der Träume, den Schauder an den Grenzen und den Allmachtrausch des Sprachgebieters. Leidenschaft und Weihe, Gewalt und Qual, Fülle und Opfer hatten hier zuerst eine gemäße Menschenform, ein zureichendes Gleichnis der erscheinungssüchtigen Triebe gefunden.
So ist Algabal auch das erste rein durchkomponierte Werk Georges geworden, dreigegliedert, in drei Zonen von derselben Gestalt durchstrahlt. Das »Unterreich« gibt ihren Dunstkreis, die Landschaft, die Wirkung und Schöpfung zugleich der Königpriesterseele, »Tage« ihren menschlichen Umkreis in Geberden, Taten und Bräuchen,[79] »Andenken«: ihr inneres Geschick als Umblick, Rückschau und Einkehr.
Was sagt nun die Wahl des Sinnbilds (mag sie auch mitbestimmt sein durch den Eindruck des Königs Ludwig von Baiern) über Georges damaligen Willen aus: der spätrömische Kultkaiser, der verrufenste Name der Geschichte, als Träger eines Traumes von Weihe, Höhe und Ferne? Ideale werden nicht erfunden, sondern gefunden, und zu jeder Urform bietet die Geschichte Erscheinungen: es gilt nur wahlverwandt aus dem Vergängnis des Gewesenen das Wesen herauszuschauen, ohne romantische Gespensterbeschwörung und epigonische Mumienmaskerade. Durch das schaurig tolle Fratzenbild der spätantiken Überlieferung vom göttermischenden Sonnenbuben, Weibjüngling und Lasterpriester aus dem Osten hat George Urformen menschlicher Triebe und kosmischer Mächte geahnt, jenseits der bürgerlichen Sittenbegriffe und der christlichen Werte. Dabei lag ihm weder die Ehrenrettung oder Seelendeutung eines Verkannten im Sinn noch eine psychopathische Studie über geheimnisvolle Abarten noch gar das immoralistische Auftrumpfen das so manche Catilina-, Tiberius-, Nero- und Borgia-poesien gezeitigt hat. Weder das Exotische noch das Abnorme, weder das Laster noch das Rätsel, weder Psychologie noch Historik zog ihn an.
Er ist hier sowenig Historiker, Romantiker und Problematiker wie irgendwo. Ihn bewegen einfache Urformen und Grundspannungen, für die er freilich seiner damaligen Stufe gemäß den extremen Ausdruck, die allersinnlichste Steigerung sucht. Die durchtriebene, d.h. durch-getriebene Sinnlichkeit ist eine Handwerkseigenschaft, nicht der Erlebnisanreiz dieses Werks. Zumal der billigen Cäsarenschwelgerei der Epigonen, den Auslebe-phäntasmen der Nietzsche-affen und dem Zähnefletschen der Weltschmerzler ist es durchaus fremd: das gemäße Geschichtsgleichnis für diese Stimmungen des aufgebäumten oder aufgeblähten »Individualismus« wäre etwa Nero, der Nachfolger des Lucifer, die Verklärung oder der Trotz des Lasters, Moralpfäfferei mit negativem Vorzeichen. Georges Algabal steht jenseits aller Moralfragen wie jedes wahre Gewächs und jedes ursprüngliche Gesicht. Schon der antike Heliogabalus bedeutet weit weniger den Schwall persönlicher Lüste als den (freilich in der Zerfallszeit fürchterlich[80] zersetzten, durch die ratlose Überlieferung völlig verfratzten) Taumel überpersönlicher Schauer und Gewalten bei einem weder genialen oder titanischen noch irgendwie persönlich gewichtigen Geschöpf. Bei den Bräuchen, Suchen, Feiern des heidnischen Priesterkaisers, nicht bei seinen Lastern, Freveln oder Greueln konnte Georges Umbildungslust ansetzen, als ihm dies Symbol begegnete. Algabal ist kein individualistisches, sondern ein kultisches Buch .. nicht widersittliches Bekenntnis eines Genießers, sondern außersittliches Gesicht eines Frommen. Diesem Frommen freilich war seine eigene Zeit mit all ihren Werten damals völlig versunken und daher die ihr fremdeste, fernste, unfaßlichste und widerlichste Art gerade willkommen für seine sternenweite Entrücktheit. Gegen Heliogabal war Nero schon beinahe eine bürgerlich vertraute Theaterfigur, ein geschätzter Frevelbold. Etwas von dem unheimlichen Abscheu und Anderssein das aus den Schlußversen des Knaben Manlius in der »Porta Nigra« (im Siebenten Ring) spricht, liegt schon in der Verklärung des Heliogabalus zum Gleichnis des Herrschertums.
Aber auch abgesehen von dieser Zeitferne kam keine geschiehtliche Figur Georges damaligem Traum so entgegen wie gerade diese. Was bedurfte er? ein einheitliches Gleichnis der Allmacht, der Weihe, der Schönheit und der Traumfreiheit. Für den europäisch klassischen Gesichtskreis ist immer noch das römische Kaisertum die höchste Form der menschlichen Allmacht. George war schon als Künstler zu den deutlichsten Formen gedrängt. Er war kein Schweifer und Geschichtler und mußte sich innerhalb seines noch lebendigen Bluterbes bewegen .. dazu gehörte das Imperium Romanum, aber nicht mehr Pharaonen, Achämeniden oder Kalifen. Unter den römischen Cäsaren wiederum – all den Soldaten, Waltern oder Weisen – ist Heliogabal wohl der einzige Priesterkaiser, der einzige Jüngling und der einzige zu dessen wesentlichen Zügen die Schönheit gehört. Zudem hat er am wenigsten ein geschichtlich umrissenes Gepräge: er ist ein dämmriger Typus welcher der steigernden Dichtung am wenigsten stofflich spröden Widerstand bot, gerade konkret genug um keine leere Allegorie zu bleiben, und unbestimmt genug um von dem neuen Wesen seine Form zu empfangen, ohne daß immer eine unvergeßbar deutliche Geschichtsfigur störend durchschimmert. Selbstverständlich hat[81] George dies rundum gemäße Symbol sich nicht erblättert, sondern die symbolreife und formträchtige Seele schlug wünschelrutenhaft an, als es ihr begegnete.
Urformen sind Gesichte, nicht Deutungen: diese gehören immer den wechselnden Zeiten an, sind verknüpf bar und begründbar, vertauschbar und ableitbar, und wo sie sich eines Anschauungsstoffes bemächtigen, werden daraus Allegorien oder Schablonen. Seelenlehre, Gesellschaftskunde, Empfindungsreihen und Fragestellungen gehören dahin und jedes Urding kann auch auf dieser sekundären Ebene behandelt werden: z.B. das Herrschertum als soziale Einrichtung, ab Gefühlslage, als geschichtlicher Konflikt, das Priestertum als Glaubenstechnik, als Denkart, als Problem .. und so sind fast alle Weltkräfte in Romanen, Dramen oder Bekenntnissen des 19. Jahrhunderts erschienen. Die Schriftsteller haben über dies oder jenes Problem »nach-gedacht«, es hat sie beschäftigt, ja gequält, sie haben es behandelt: die gefeierten Namen der europäischen Weltlitteratur im 19. Jahrhundert, Balzac, Tolstoi, Dostojewsky, Hebbel, Ibsen sind Problem-dichter d.h. sie zeigen im Beobachtungsstoff ihrer Zeit Konflikte die sie erlebt haben durch gewisse mehr oder minder philosophische, mehr oder minder gestaltete Grundgedanken. Etwas völlig anderes sind Urgesichte, werden aber meist damit verwechselt, d.h. für erste Ursachen oder letzte Dinge gehalten.
Im Algabal haben Grundwesenheiten wie Priestertum, Herrschaft, Opfer neue Ur-sprache gefunden: gelöst von Gesellschaft, Psychologie, Kausalität, sind sie im Wort Georges un-mittelbar gegenwärtig als Naturtümer, Menschformen der Natur: als Wesen deren beide Eigenschaften ursprüngliche Schau und sinnen-einheitliche Sprache sind. Beide sind bei George untrennbar.
Im Algabal ist noch, deutlicher als in den beiden Erstlingsbüchern, weil geräumiger, die Geist-sinneneinheit der Sprache (vor der Scheidung in die fünf Sinne und in Begriffe) völlig vergegenwärtigt .. nicht etwa nur die Suggestion der gewollten Vorstellungen durch gewählte Lautfolgen, die einigen deutschen Romantikern und französischen Lautsymbolikern geglückt ist, nicht der Ersatz der Aussage durch Wort-Musik, nicht eine neue malerisch dekorative Verwendung der Bildinhalte, oder kunstvolle Verknüpfung von Effekten geschiedener[82] Sinnenreiche. Dies alles gibt niemals das Sein der Elemente, sondern ihre Bedeutung für den Geist oder ihre Wirkung für die Sinne, also entweder Gegenstand oder Zustand, Stoff oder Reiz, in jedem Fall also Vor-stellung eines Wie durch ein Was, oder Um-setzung eines Was in ein Wie, ein Aus-einander, Nacheinander, Zueinander aber nicht das unscheidbare In-einander von Was und Wie, d.h. die lebendige Gestalt, die zugleich Form, Akt, Stoff und Gehalt ist.
Es ist schwer das deutlich zu machen, da es sich nur durch Beziehungen, Abgrenzungen, Verneinen ausdrücken läßt, keinen eigenen Namen hat und nur erfahren, nicht begriffen werden kann. Analogien zeigen nur was es nicht ist: keine Eklektik des abgefeimten Geschmacks am Ende der Kultur, sondern noch ein dichtes kräfteträchtiges Geblüt. Auswahl freilich ist in den Paradis artificiels der späten Kunstfranzosen wie in dem »Unterreich« des Algabal-dichters: doch das eine ist die wägende, schmeckende, tastende, zärtliche Auswahl des sammlerischen Kenners, das andere die wilde zwanghafte unnachgiebige Auswahl eines Wachstums. Die erste trägt zusammen aus allen Zonen was zueinander stimmt, die andere scheidet bei ihrem Gang und Drang durch die Widerwelt aus was nicht nährt, nicht praller, fester, zäher macht. Die eine glättet, schmückt und rundet eine Oberfläche, die andere treibt, stößt und ballt einen feurigen Kern heraus. Die eine sucht den endlichen Zusammenklang fertiger Zierrate, die andere den ursprünglichen Einklang unverbrauchter Dinge. Gemeinsam ist beiden im Positiven die Lust am Äußersten, an der letztmöglichen Heraustreibung des Gesichts, im Negativen die Abwehr aller Denkerstörung und Moral. Beide wollen ein Sinnlich Schönes erschaffen und kennen kein Sollen außerhalb dessen. Ihr Gesetz ist »Vollkommenheit der Erscheinung«, aber die Franzosen und ihr ästhetisches Gefolge, Jacobsen, d'Annunzio, Wilde, Hofmannsthal, suchen die Verschönung, das schöne Schauspiel, den »schönen Schein«. George will das Schöne, das schöne Da-sein, die schöne Gestalt. Der europäische Ästhetizismus kommt von der Romantik her. Schon das Symbolum »le goût de l'infini« ist eine typische Romantiker-formel und sucht wie alle Romantik »Vorstellung des Andren«. George ist antik und sucht »Darstellung des Gleichen«. Sie suchen Vergeistigung und er Verwirklichung.[83]
Auch Algabals »Unterreich« ist die Verwirklichung eines Traums und nicht ein Traum von Unwirklichem. Was ist nun dieser Traum? Die Eingebung eigener und neuer Welt von der jedes schöpferische Herz besessen ist, bevor es die gegebene durchdrungen oder verwandelt hat .. der Eifer des Menschen der eine Natur in der Natur sein will und ein Schicksal über dem Schicksal, das Pochen eines innersten Anfangs beim Ausgang jedes Zeitalters: all das entlädt und erfüllt sich in der Gründung von berauschender Pracht, keuscher Ferne, makelloser Einheit und Neuheit, in der
Schöpfung wo er nur geweckt und gewaltet,
Wo außer dem seinen kein wille schaltet
Und wo er dem wind und dem wetter gebeut.
Der Dichter dessen Sprache die Essenzen der Natur nicht nur als Bilder, sondern als Sinnenstoff enthält, dem die Stein- und Pflanzenkräfte als Wortwesen im Blute weben, die Kristalle, Farben, Düfte und Lichter nicht nur ein totes Außen, nicht nur ein erlebtes Innen, sondern zugleich ein sprachhaftes Mitten sind, erschafft aus sinneneinheitlicher Ursprache eine Wider-Natur ohne Zeit und Vergängnis, aber auch ohne Leben und Schicksal, das Gebild einer sinnlich-seelischen Hybris, die durch den Tod vernichtet oder durch das schicksalhafte Leben gesühnt werden muß.
Ein Weltfieber wirkt sich in diesem Traum zu Ende, indem es seine äußersten Gesichte bannt: das »Unterreich« (und nur dieser Teil des Algabal) ist in Georges Zeit dieselbe Stufe wie in Goethes Entwicklung der »Prometheus«: die Titanenstufe –
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde ...
Prometheus' Titanentum ist gefühlsmäßig schöpferisch, das Algabals willenhaft-bildnerisch, beiden gemeinsam ist die Vermessenheit des Einsamen gegenüber der Welt, des Neuen gegenüber dem fertig Gültigen und der Jünglingstrotz gegen Mächte außer ihnen. Im Prometheus lebt sich der Gefühlsüberschwang zu ende, im Algabal ein Sinnenüberschwang, und beide Vermessenheiten mußten einmal heraus, um ihre Träger nicht zu ersticken. Beides sind Extreme, d.h. Enden, aber zugleich Voll-endungen. [Ich vergleiche sie hier nicht als Werke und Gebilde, sondern als Ausdruck einer Krise des schöpferischen[84] Menschen die sich in jedem Zeitalter erneut.] Auch der Algabal, dies scheinbar abseitigste und verstiegenste Werk, ist der schroffe Ausdruck einer Norm: des unbedingten Kunst-triebs, Kunst als Wider-Natur begriffen: denn auch das ist sie, wenngleich nicht nur das. Nur die Bürger, die weder die Natur noch die Kunst kennen und von beiden dasselbe möchten, vermanschen gern beide. Jeder echte Künstler will das schlechthin Neue, d.h. Ursprüngliche, jeder »Schöpfer« das Ungewesene das durch ihn erst entsteht. George ist hier der Gipfel und das Ende jener dichterischen Kunst von der Flaubert, Baudelaire, Mallarmé, Huysmans geträumt haben .. sie jedoch sind auf dieser Stufe stehen geblieben: die Kunst selbstgenugsamer Schein, sterile d.h. endhafte, voll-endete Schönheit jenseits des Lebens, nicht Leben als Schönheit. Die höchsten Anstrengungen dieses Formtitanentums sind Baudelaires Paradis artificiels und Mallarmés Herodias. Diese beiden scheiden das nicht mehr durchdrungene und beherrschbare Naturleben aus, Georges »Unterreich« das noch nicht durchdrungene. Das Ergebnis, Autonomie der reinen Form gegenüber dem wuchernden panischen Alldrang, ist scheinbar gleich, der Sinn und Ursprung bei den Franzosen und dem Deutschen sehr verschieden. George fängt an wo sie aufhören und sein Formwille wendet sich, unbefriedigt von der kämpflosen Abwehr der Lebensmächte durch geschlossen reine Schau kraft eigenen Schöpfertums, schon im Algabal selbst dem gefährlichen Ringen mit ihnen zu.
Denn bei seinem überschwänglichen Verlangen nach reiner Schau und noch in der bildnerischen Hybris bewahrt George auch in seinen naturfernsten Stunden den unbeirrten Wirklichkeitssinn, der ihm verbietet die Gewalten des Daseins zu leugnen. Sind sie Gesetze, so muß er sie zu seinen Gesetzen machen: die Welt »schön sehen« ohne sie, nach romantischer Art mit dem Geist das Nicht-Ich wegdeuten darf er nicht. Die Macht welche die reine Traumschau des »Unterreichs« zersprengt, d.h. auch für ihren Herrn ungenügend macht, ist das Leben – als Wachstum und Welktum, eben natura und moritura. Vom Auge aus, als Raum, als nicht gewachsenes sondern gezaubertes Panorama ist freilich eine Gegen-Natur möglich. Doch sobald der Beschwörer in seinen makellosen Traum auch den Zauber des Lebens hereinziehen will, versagt sie: machen, beschwören, bannen[85] kann er einen Raum durch die magische Gewalt des Wortes, aber zeugen nicht das kleinste Gewächs wider Natur und Schicksal. Diese Grenze seiner Magiermacht anerkennt Algabal in der Schlußstrophe des »Unterreichs«
Wie zeug ich dich aber im heiligtume
– So fragt ich wenn ich es sinnend durchmaß
In kühnen gespinsten der sorge vergaß –
Dunkle große schwarze Blume?
Die schwarze Blume ist das sinnlich-dunkle Zeichen für das Geheimnis der Zeugung, des Wachstums, das nicht mehr der Schau und dem Willen untersteht und ohne dessen Erzwingung der Vollkommenheitstraum eben doch unvollkommen ist, d.h. aufgehoben wird.
Man sieht hier übrigens besonders klar den Gegensatz Georges zur Romantik, wenn man diese Schwarze Blume mit der Blauen Blume des Novalis, ebenfalls einem Natursymbol für eine Seelenlage, vergleicht: George verdichtet darin die unabweisbare Wirklichkeit des Lebens, die er erzwingen und seinem Seelengesetz noch einbegreifen will. Novalis verklärt darin die unerreichbare Ferne, das gegenstandslose Sehnen, das süße Schweifen. Die schwarze Blume ist die finstre Bejahung einer noch unbeherrschten unbegriffenen Kraft, die blaue die selige Flucht von Wesen zu Geist, Gemüt, Phantasie. George ist es um Weltwerdung seines Willens, um Da-Sein selbst des Traumes zu tun, Novalis um Scheinwerdung selbst des Ich. Die schwarze Blume ist die eine bedingte und bedingende herrische und wahrhaftige Gegenwart, die blaue Blume das Spiel der Möglichkeiten, das tausendfältige Überall und Nirgendwo. Das Verlangen nach der schwarzen Blume schon trennt George von den Suchern der blauen Blume, den Leben-Züchter von den Geist-Zauberern.
Was im außermenschlichen Leben als Wachstum den reinen Traum zersprengt, das verhindert ihn im Menschlichen von vornherein als Schicksal. In den »Tagen«, dem Mittelstück des Algabal, wird der menschliche Wandel des Priesterherrschers dargestellt, der Kampf seines gesetzlichen Willens mit derjenigen Form des Lebens die nicht durch Traum bewältigt oder ersetzt werden kann, die dem Menschsein selbst schon eingeboren ist: eben dem Schicksal. Dem Schicksal kann der Edle nicht ausweichen, er muß es erfüllen. Im[86] Vorspiel zum Teppich heißt es: »Vorm Schicksal wenig klage wenig haß.« Und noch im Stern des Bundes:
Wer adel hat erfüllt sich nur im bild,
Ja zahlt dafür mit seinem untergang.
Das niedre fristet larvenhaft sich fort
Bescheidet vor vollendung sich mit tod.
Die »Tage« des Algabal offenbaren zuerst diesen Sinn der später als Wissen und Lehre sagbar wird. Schon damals, in dem ersten Werk wo George sich zur Gestalt wird, erscheinen Charakter, Schicksal und Gesetz als eine Einheit, als notwendige Ausstrahlungen derselben Lebens-Mitte, nicht als eine Reihe von Ursachen und Wirkungen, Eigenschaften und Ereignissen, Taten und Zwängen: der uralte Zwiespalt von Freiheit und Notwendigkeit ist in diesem ganz gestaltigen Dasein aufgehoben, das nur erleiden und tun kann was es west:
Ich habe eures handelns wahn erfaßt
O laßt mich ungerühmt und ungehaßt
Und frei in den bedingten bahnen wandeln.
– Frei in den bedingten bahnen! George hat nichts tieferes gesagt über sein Schicksalsgefühl, aus dem seine gesamte Sittlichkeit sich ableiten läßt. Mit diesem einfachen hellseherischen Wort ist der Titanismus wie die Romantik – der Schicksalstrotz und die Schicksalsflucht – abgewiesen, die christliche Demut wie die hedonistische Unzucht: es ist die Grundformel für den tragisch-heroischen Sinn, der das »Joch der Notwendigkeit« auf sich nimmt, es komme von außen als Ananke und Tyche oder von innen als Daimon: er schließt die rückhaltlose Bejahung des eigenen Charakters, selbst der Leidenschaft und der Vermessenheit ebenso in sich wie die rückhaltlose Ehrfurcht vor dem Leiden und dem Glück.
Von diesem Sinn schon sind einige Tage des Algabal ewig gültige Ereignisse, die keimhaft in persönlichen Geberden die Rufe des Vorspiel-Engels, die Gestaltenpaare des Siebenten Rings und die neuen Tafeln aus dem Stern des Bundes vorauskünden.
Aus derselben Einsichtslage leuchten die ersten hellen Selbstzeugnisse Georges über sein Wesen und seine Pflicht gegen sich und das Andere, seine ersten dichterischen Grund-Sätze herauf:
[87]
Sieh ich bin zart wie eine apfelblüte
Und friedenfroher denn ein neues lamm
Doch liegen eisen stein und feuerschwamm
Gefährlich im erschütterten gemüte ...
Es ziemt nicht in irdischer klage zu wanken
Uns die das los für den purpur gebar ...
Ich bin als einer so wie sie ab viele
Ich tue was das leben mit mir tut.
Solche Verse bestrahlen vorläuferisch vereinzelt die ganze Seelenschicht die dann umfänglicher im Jahr der Seele herauf kommt und im Vorspiel zum Teppich in vollem Lichte sich breitet: die dichterische Weisheit.
Aber noch sind diese einzelnen Strahlen des Wissens umlagert von den Gewittern furchtbarer Spannung. Auch die Einsicht in sein Schicksal überhebt niemanden der Bürde, und der Jüngling muß noch in Taten und Geberden dem verhüllten Gott dienen den der Mann einst schauen, anbeten und verkünden wird. Er muß das Gesetz erfüllen das er noch nicht begriffen hat. Die Weihe und die Leidenschaft fordern ihre dunklen Opfer .. die Reinheit des gehobenen Augenblicks und der unbedingte Wille. Zwei schroffe und durch ihre Schroffheit erschreckende Gleichnisse für diese äußerste Spannung sind die Erdolchung des Sklaven der den Kaiser beim Taubenfüttern stört und die Vision von der Hinrichtung des Bruders der die Herrschaft bedroht – es sind beides Steigerungen des frühen Künstlers, Überspannungen des verschlossenen Jünglings, beide aber drücken nicht, wie Gegner und Nachahmer es oft mißverstanden haben, das Behagen des Ästheten an der schönen Allmacht-geste aus, sondern die Qual eines unbedingten Gemüts an den Bedingungen .. seien es Mißtöne im heiligen Einklang oder Eingriffe in den gebührenden Bezirk. Oberstes Gesetz ist der Einklang und die Ausfüllung des eigenen Raums, und kein Opfer ist zu schwer (denn Opfer und nicht Lust oder Laune ist die Vernichtung des treuen Dieners und des geliebten Bruders) wo es dies Gesetz gilt. Nicht der Tyrannenkitzel und der Blutrausch, sondern die Überspannung der eigenen[88] Lauterkeit und Hoheit hat diese fürchterlichen Gleichnisse herausgetrieben. So wenig wie Nietzsches Flüche kommen sie aus leichtem und sattem Herzen und ebensowenig steht bequemen Genießern ihre Wiederholung an. Nur wer einem Gesetz so unerbittlich gehorcht und der Selbstopferung so fähig ist wie Algabal hat ein Recht zu solchen Geberden wie: »Ich raffe leise nur die Purpurschleppe.« Sie ist ein adlig karges Verschweigen finstrer Pein und nicht dekoratives Prunken mit kaiserlichem Gleichmut oder ostentatives Leichtnehmen des Mordes.
Algabals »Ästhetentum« (wenn man einmal Verlangen nach Reinheit, Stille, Stärke und Höhe so nennen will und in seinem mitleidslosen Herrentum mehr die Einzelgeste als die Gesinnung bemerkt) ist nur ein frühes, darum zugleich noch enges und steiles Gleichnis für Georges kosmischen Willen, vor dem allerdings bloße Ästhetik genau so hinfällt wie bloße Ethik. Die Frage nach gut und böse wird hier ebensowenig gestellt wie die nach recht und unrecht oder sogar nach schön und häßlich; die welthaltige Rundheit die all dies umfaßt und umwölbt, die Einheit von Wesen und Erscheinung, das ewige Maß der Kräfte, die Ordnung der Ränge und Grade ist ihm das oberste Gebot.
So heißt auch Bejahung des eigenen Wesens nicht Auslebung der Triebe, sondern Anerkennung des Gesetzes das man ist und wodurch man ist. Auch darin ist »Algabal« nur die steilgesteigerte, frühkunsthaft stilisierte Zelle zu Georges späteren, runder gewölbten Tempeln, der erste Temenos seines Reiches. In einem Alter da das Geblüt mit gutem Gewissen sich austobt oder mit religiösen Skrupeln ringt hat George, ohne Taumel und Askese, in der Form es gebändigt und geheiligt. Algabal ist sowenig Stoiker als Epikuräer, und in den »Tagen« haben die Räusche, Verführungen und Betäubungen genau so ihre Feiern wie die Verhängnisse und die Opfer. Sie sind so wirklich wie diese und werden nicht durch Entsagung ausgeschieden, sondern durch Harmonie geweiht. Solchen Sinn hat neben den strengen und gedrungenen herrischen Bändigungs- und Abwehrstrophen die dunkel-wogende, süß-üppige, überschwingende Musik der »Flötenspieler«, des Rosenfestes und die unruhig-lockende und wühlende der Syrer:
[89]
Leise triller: verjüngen gesunden
Laute stöße: mit lachen vergeuden
Gelle striche: die bohrenden wunden
Helle schläge: die brennenden freuden.
Der dionysische Untergrund der apollinischen Gesetz- und Gestaltwelt kommt in solchen Gedichten nach oben, keineswegs als Ich-genuß, als losgelassene Sonderlüste, sondern als gefährliches Chaos das die menschliche Bindung, die heilige Schau und die »göttliche Norm« zu sprengen droht, aber ohne das niemals eine heilige Schau und göttliche Norm, eine lebenhaltige Leibwelt entstehen könnte. Diese Gefahr muß da sein, sie muß nur immer neu gebannt werden. Sie muß immer wieder locken, raunen, rauschen, doch sie darf nie herrschen. »Nur durch den zauber bleibt das leben wach«, doch nur durch Gesetz wird aus dem zauberischen Leben Mensch und Welt.
Die Versuchung zurückzutauchen in die Seelen-nacht oder wenigstens sich zu betäuben in den weichen Wogen des vorgestaltlichen und untergesetzlichen »Traumdunkels« wird jeden beladenen und gespannten Träger einer Sendung immer wieder einmal anwandeln. Durch Georges gesamtes Werk geht die Polarität von Helle und Rausch, Gesetz und Stoff: »Gestalten« und »Traumdunkel« im Siebenten Ring .. Vorspiel und Lieder von Traum und Tod sind nur die deutliche Sonderung beider Seelenlagen zu eigenen Bezirken. Im Algabal sind sie noch nebeneinander geschichtet, obwohl schon unterscheidbar. Beide Bezirke unterstehen Göttern, d.h. sie werden – einerlei ob schaffend oder verderblich, ob gesetzlich oder gefährlich – gefeiert. Man mag sie nach Apollo oder Dionysos nennen: bei George haben sie keine Namen – sie sind keine Bildungstatsachen, sondern Weltkräfte in einer neuen Seelenform .. wie denn George fern ist von jeder Art poetischer Kultur- oder Religionsphilosophie womit neuerdings belesene Autoren ihre seelische Dünne würzen und schmälzen.
Es erscheint durch ein einziges Gedicht im Algabal noch eine dritte Lage jenseits der Seelenpolarität – nicht nur vorgesetzlichen, sondern vormenschlichen Seins: der barbarische Schauder, den die klassischen Völker überhaupt nicht kannten oder nicht mythisch fassen konnten. Erst die Germanen haben ihn spät zum Odin verdichtet:[90] das Urgrauen nach und vor aller Gestalt .. nicht mehr, wie noch der dionysische Rausch, blut- und seelehaft, wenn auch ungestaltig, sondern sausender Sturm und Wirbel, der die geschlossene Weltform bewegt, den Weltstoff durchwühlt, keine Schöpfung zeitigt, aber die Wenden bringt oder verkündet.
Graue rosse muß ich schirren
Und durch grause fluren jagen
Bis wir uns im moor verirren
Oder blitze mich erschlagen ... ..
Neben dem Gestaltertum und dem Priestertum kündigt sich hier zuerst bei George das Sehertum an, die Besessenheit von einem unentrinnbaren Weltverhängnis. Da er den Ursprung dieses fmster-wilden Raunens damals selbst noch kaum ahnte, hat er es durch die Schlußstrophe seelisch abgerundet und dadurch erst überhaupt dem Algabal eingefügt, der auch die kosmischen Wirbel nur in Menschengeberden duldet. Dies Gedicht würde ohne den Schluß den ganzen Zyklus sprengen und zugleich unverständlich bleiben. Es ist das erste und unbegriffene Zittern des Muspilli-schauers, den George seitdem nie wieder losgeworden ist. Er schweigt freilich in den Büchern der Hirtengedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten, die lebendigen Gehalt europäischer Bildung in neue Seelenform bannen: innerhalb dieser reifen und reinen Kultur schläft die Weltend-Angst. In den Natureinsamkeiten der Traurigen Tänze (Jahr der Seele) regt sie sich wieder und wird – der Gesamtluft des Werkes gemäß – zur Landschaft (wie im Algabal zum Tun):
Zu traurigem behuf
Erweckte sturm die flur ... ..
Im Teppich des Lebens kehrt sie, immer noch ihres Ursprungs nicht kundig und vom Gesetz des Raums bestimmt worin sie auftaucht, als Luft balladischen Geschehens wieder, in der »Verrufung«. Im Siebenten Ring wird sie mit Georges wachsender Prophetie, Zeithelle und Sendung voller und klarer durch manche Zeitgedichte und Tafeln, zumal durch die Apokalypsen »Widerchrist« und »Einzug«. Endlich im Stern des Bundes, im Krieg, im Brand des[91] Tempels1 findet sie fast gleichzeitig ihre Deutung, Offenbarung und Erfüllung vom äußeren Verhängnis her. Hier wie überall ist Georges Schaffen das allmähliche Schwellen eines menschlichen Keims, das sich selbst kaum begreift, aber mit geheimnisreicher Sicherheit und Stete vollzieht zu immer hellerem Wissen und offnerem Dasein, bis schließlich die einsamste und abseitigste Stimme das Wort der Weltenstunde ausspricht. Dies verborgene Menschtum lebte und webte erst dumpf, dann klar in dem Geschehen selbst das alle andern die es anging, blind und lärmend umirrten.
Der Schlußteil des Algabal, »die Andenken«, löst die Spannungen der »Tage« in elegischem Rückblick. Wie im Unterreich so waltet auch hier wieder reine Traumschau, aber nicht des Raums, sondern der Zeit. Das »Unterreich« ist zeitlos, die »Tage« sind Gegenwart, die »Andenken« Vergangenheit: drei Formen der einen Seele, drei Zustände des Daseins von dem dies Werk die Erscheinung ist. Bändigung des triebhaften Lebens ist Algabals Gesamtwille, der Sinn der ganzen Gestalt: im »Unterreich« wird das Leben abgewehrt, in den »Tagen« wird es geberdet – in den »Andenken« wird es verklärt zu Gesichten einer glühend reinen, erhaben traurigen und unergründlich süßen Jugend. Kein ruhender Raum mehr, kein Kampf um das eigne Gesetz, sondern die »Er-innerung« vollendeter Augenblicke, – priesterlicher, herrscherlicher, knabenhafter – von einem Punkt jenseits ihrer. Dieser Punkt liegt schon außerhalb der Algabal-welt, wenn auch Algabal noch der Erinnerer ist. Die Not welche die Algabal-gestalt hervortrieb ist gehoben, sobald er sein Dasein überschauen kann. Dies Dasein ist vollendet, wenn er darauf zurückblicken kann. Der einmalige Jugend-traum, ganz aus dem eigenen Sein eine Eigenwelt zu erschaffen, frei von aller fremden, früheren und äußeren Gewalt, ein zauberhaftes Innenreich der überschwänglichen Seele (Urdrang jedes Schöpferherzens, der im Algabal seinen bisher letzten Ausdruck gefunden) ist ausgeträumt, wenn er als Traum erkannt, beweint und gesegnet wird wie in den »Andenken«. Er ist ein Ideal, nachersehnt und entrückt wie alle Ideale, verewigt und todgeweiht. Diese Totenluft, der Hauch von Verewigung, weht durch[92] die letzten Gedichte des Algabal, etwas von dem Nachruf: »Dies Lied ist aus«.
Dies Lied, nicht der Sänger .. der Traum »Algabal«, nicht der ihn träumen mußte und konnte. Er ist bereits herausgetreten aus dem Prunk ins Freie und Ungebahnte. Daß er dieses Heraustretens aus solchem Traum noch fähig war, das ist die Gewähr neuen Lebens. Darum ist der Schlußklang des Werks, »Vogelschau«, nicht Trauer sondern Ahnung, nicht Endschaft sondern Ausblick. Die Wunderwelt von einsam-finsterer Pracht ist versunken, das verzauberte Gehau, der Weihrauchwald – der tropische Glutwind ist verweht .. nur die Traumkraft selbst ist ihm geblieben und muß sich noch erproben im kalten und klaren Wind der beginnenden Mannheit. Der Algabaltraum selbst – für seinen Beschwörer und Besessenen als Lebenszustand überwunden – ist verewigt in der deutschen Sprache, die er mächtiger ertönen und erglänzen ließ als jeder Traum der Romantik, weil er nicht eine schweifende Gemütswillkür war, sondern das Aufglühen schlummernder Erdkräfte in einem antikischen Willen. Daß er möglich war ist ein Zeugnis von der Wiederkehr der alten »Götter« die George suchte oder die ihn suchten. Um sie fest zu halten, bedurfte er eines weiteren Umfangs und einer helleren Erde als die Wunderkrypten des Unterreichs .. denn Götter wollen, über den Seelen- und Schicksalsraum eines welthaltigen Menschen hinaus, die menschenhaltige Welt: Geschichte und Natur. Wenn ein neuer Zauber sie locken kann, so wollen sie doch bewahren was einmal und immer ihnen gehörte, Vergangenes und Dauerndes. Jeder neue Erwecker muß nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihren Raum wieder beschwören, mit seiner Stimme wie mit seinem Blut. Dies war Georges nächste Aufgabe.
1 | Blätter für die Kunst, XI. und XII. Folge. |
Ausgewählte Ausgaben von
George
|
Buchempfehlung
Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.
278 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro