[31] Die geschichtlich nachweisbaren Ursprünge eines Menschen sind nicht die Ursachen seines Werdens, sondern die Grundstoffe seines Seins und wenn wir nach seinem Haus, Stamm und Volk fragen, so suchen wir was in ihm gestaltet ist, nicht was ihn gemacht hat. Nur was wir als Wesen und Werk wiederfinden, geht uns als Umgebung und Einfluß an, und es ist müßig Ahnenreihen und Ortsüberlieferungen aufzustöbern, um zu erfahren woher etwas kommt, wenn wir in vollendeter Gegenwart aus ihm selbst entnehmen was es ist. Nur zur Verdeutlichung, nicht zur Erklärung dienen die Fremdschaften die sich in den Eigenschaften eines Charakters wiederholen. Über Dante und Shakespeare wissen wir nicht weniger, weil uns ihre Herkunft dunkel ist, und wenn seit Herder, und erst recht seit Goethes Dichtung und Wahrheit, das Augenmerk auf das Werden gerichtet ist, so hat man auch hier den Sinn Beider mißverstanden, indem man die Zeitform des einheitlichen Wesens zur Kausalitätskette von Ursachen und Wirkungen auseinander legte. Seinen Umkreis gab Goethe, weil er sich als »Welt« zeigen wollte, nicht um hinter dem Ur-phänomen »Goethe« die Lehre seiner Entstehung greifbar zu machen. Sein Milieu gehört zur Dichtung, nicht zur Wahrheit seines Lebens.
Georges Leben ist seit einem Jahrhundert des Werdens das erste das im Sein sich er-füllt und das seine Entwicklung als gegenwärtige Gestalt, nicht als Ablauf darstellt. Das gehört sogar zu seiner geschichtlichen Aufgabe: »zum Reigen zu führen, in den Ring zu reißen.« Darum schon bedarf er keiner Werde-biographie, wie denn überhaupt jedes geschichtlich bedeutende Dasein nicht nur einmaligen Gehalt verkörpert, sondern auch einmalige Darstellungsart fordert. George hat in einem Gedicht des Siebenten Rings seine »Ursprünge« gefeiert als sinnliches Natur- und Geschichts-erbe wie als Seelengewalten: die zugleich groß gegliederte und heimelig raunende Flußlandschaft des Rhein-Nahe-winkels mit ihrem pathetischen Schauer und ihrem lockenden Rausch .. den Boden, unverlierbar geprägt und getränkt mit Imperium Romanum, und über dieser Schicht greifbarer Spuren und geisterhaften Nachhauchs die seelenformende und sinn-umwölbende[32] noch gegenwärtige Ordnung der Katholischen Kirche. Die drei umfassendsten Welt-elemente seines Schaffens sind damit genannt. Diese lokalen und geschichtlichen Sinnbilder enthalten die Urkräfte die George bestimmen: Rhein, Antike und Kirche sind nur örtliche und zeitliche Namen seiner Grund-lagen.
Diese weiten Gewalten durchdringen und bedingen sich mit dem täglichen dichten Anhauch von Haus und Stadt. Ein würdig heiterer und gütiger Vater, werk- und weinfroh, eine tieffromme strenge, sachlich ernste, unermüdlich arbeitsame Mutter, gediegene Ruhe, geregelte Tätigkeit, gemessenes Behagen eines wohlhabenden Bürgerhauses in einer katholischen Kleinstadt des hessischen Rheingaus, kurz nach dem Krieg mit Frankreich: das waren die ersten Bildungsmächte des Knaben. Dazu kam noch die Erziehung durch die kirchlichen Bräuche und Feste, die das ganze Jahr begleiten und gliedern mit ihren eindringlichen Freuden, Schauern und Befehlen .. sodann Spiele mit der Stadtjugend in den Gassen und den Flußniederungen und das Mitangucken, wohl auch Mitmachen der sämtlichen handwerklichen und bäuerlichen Gewerbe. Halb auf dem Land halb in der Stadt war George schon früh tätig-vertraut mit den Stoffen, Gesinnungen, Gebärden des Volks und sammelte unwillkürlich den reichen Anschauungsschatz des einfachen Tuns ohne den noch kein großer Dichter gewesen ist und den der Großstädter sich nur spät, litterarisch, absichtsvoll und bruchstückhaft aneignen kann .. das selbstverständliche Wissen um die ersten Lebensbedingnisse, um
den fug von scholle und gesteinter tenne
Den rechten mit- und auf- und unterstieg
Das knüpfen der zersplißnen goldnen fäden.
Er hat die dümmliche und dörperliche Heimatsimpelei, das volkstümelnde Getue erholungsbedürftiger Großstädter verachten dürfen so gut wie die Verkehrs- und Rekord-extasen, die Maschinenhymnik und die Börsenromantik aufgeregter Provinzler vom Cafétisch. Sein »Freund der Fluren« ist weder Dorfpoesie noch Bukolik, sondern mythisches Bild eignen Gehalts. Die Fülle von Volkssagen und Sittenkunde, von uraltem Mythengut in Georges Werken ist nicht gelehrte Folkloristik aus Büchern und Sommerfrischen, sondern sinnlich leise,[33] fast dumpfe Erfahrung des Kindes, die der Mann nur begriff, erweiterte und verknüpfte mit seinem helleren Wissen.
Dieser Mann, der einmal für die lesende Menge das Muster des »lebensfremden Ästheten« war, und von dessen phantastischer Ziererei und leerem Formalismus ein Nicht-leser dem anderen nachschwatzte, wurzelt weiter und tiefer im Volk als irgendein deutscher Dichter seit Goethe und kennt die Gründe woraus es sich speist und erhält, wandelt und zersetzt, treuer und inniger nicht nur als die Sachwalter der öffentlichen Meinung, sondern auch als alle sogenannten Volksschriftsteller, die den Stoffbereich »Volk« zu Motiven ausschlachten und das Volk »bilden« wollen, indem sie den Geist der Studierstuben und Caféhäuser auf die Märkte schütten oder in Hütten kolportieren. Man vermengt heute, wenn man vom »Volk« spricht, schlagworthaft folgende ganz verschiedene Wesenheiten:
1. die jeweils lesende und schreibende Bildungsschicht bei welcher die Schriftsteller Erfolge suchen: das Publikum, das in Presse, Theater, Hörsal, Parlament oder Salon öffentliche Meinung vertritt, macht oder empfängt – eine diffuse, bereits ganz entdumpfte, entwurzelte Menge. Sie kann heute nur durch ihre ungeheure Zahl als »Volk« erscheinen: es ist gerade das was in strengen Bildungsaltern sich durch bestimmte Übereinkünfte und Ansprüche als »Gesellschaft« gegen das »Volk« abschloß, sich als Gegensatz des Volkes betonte. Heute fehlen diese Übereinkünfte und Maße und der Geschmack des Publikums entsteht aus einem Mischmasch intellektueller Bestrebungen und Anregungen, nicht aus dem einheitlichen dumpf wählerischen Geisttrieb der Volk schafft und zusammenhält.
2. die Masse: »Volk« in diesem Sinn ist ein soziales, innerpolitisches oder wirtschaftliches Schlagwort das die sogenannten unteren Stände zusammenfaßt gegen die sozial und wirtschaftlich besser Gestellten: dieser Begriff bezeichnet nicht ein Gesamt von Kräften, sondern eine Gesellschaftsstufe.
3. das »Volk« als eine politische und kulturelle Kollektiv-persönlichkeit im Gegensatz zu anderen, mit besonderen Eigenschaften, Schicksalen und Gewohnheiten. Dieser Begriff umfaßt wirklich die Summe der Mitglieder einer Nation und kann als Unterlage der Kräfte gedacht werden die man als Träger und Boden der Bildung feiert:[34] dies Volk denkt und weiß nicht, sondern es lebt und will .. und seine Helden und Weisen denken und wissen aus ihm, ja es entsteht oft erst durch das Denken und Wissen solcher Mitte-menschen.
4. endlich bezeichnet »Volk« schlechthin die »Volkheit« (nach Goethes Wort), den gesteigerten und verdichteten Geist der Nation, ihren Bildungsgenius, wie er in seinen höchsten sinnbildlichen Personen und Werken sich ausdrückt, ohne darin endgültig verhaftet zu sein .. »Volksgeist« oder »Volksseele« Herders und der Romantik, die geistige Seite dessen was man stofflich Volkstum nennt, zu dem es sich verhält wie der Charakter zum Leben, wie die Form zum Gehalt des Menschen. Dieses »Volkes« Stimme ist Gottes Stimme, und nur auf diese Stimme, den sinn-vollen, tief-sinnigen Urlaut lauschen die echten Männer des Volks und fangen ihn auf in ihrer von Vor-sichten, Rück-sichten, Ab-sichten unbeirrten Einsamkeit, denken ihn, mehren ihn und erhalten ihn. Sie bedürfen dazu nicht eines neugierigen Ohrs und eines spähenden Blicks, sondern sie müssen nur selbst Volk sein, aber Volk und Geist zugleich. In ihnen muß die Stimme aufbrechen, hinunterreichen müssen sie schon mit ihrem Geblüt und Gewächs in den keusch-fruchtbaren Grund woraus Geist und Form, Wort und Wissen erst sich klärt. Was ihnen als »öffentliche Meinung«, als »Forderung des Tages« entgegen kommt das ist meist der matte und wirre Nachhall, die schon verspätete, ausgeleerte, platt und schmutzig gewordene Weisheit eines ihrer Ahnen, die schon ihren Umlauf vollendet hat vom einsamen Urwort aus dem Herzen der Volkheit zum Streitruf neuer Jugend zur allgemein anerkannten Wahrheit zur ungeprüften Banalität zur verlogenen Phrase. Es kann Schicksalsstunden für ein Volk geben, da Ein Blitz alle in eines schmilzt und da öffentliche Meinung und Volkes-stimme, der millionensame Schrei und der einsame Ruf dasselbe wollen – aber dann erfahren beide dasselbe gleichzeitig und spontan. Niemals wird der wahre Sprecher des Volks horchen was die Menge will und sein Wort danach richten, das hat kein Prophet getan und selbst Luthers Licht kam aus stiller Mönchszelle. Die Menge empfängt bald die Stoßkraft, bald den Stoff, bald die Richtung, selten den Geist, am seltensten die Form eines Ur-worts, und »unverständlich« bleiben ihr zuerst alle solchen Worte bei denen Kraft, Stoff, Geist und Form unscheidbar eines sind[35] und keines der Elemente heraus gerissen werden kann. Alle Propheten dieser Art (und es gibt so viele Wege der Prophetie als es Nöte des Menschen gibt) wirken nur stufenweise und langsam, und meist erst durch Mittler die das geballte Zentralfeuer allmählich in immer laueren Strahlen weitergeben an die blöderen Augen. Mit der Ursprünglichkeit, der Volkhaltigkeit hat die Massenwirkung nichts zu tun. Es gab Zeiten in denen die Erstickung des heiligen Feuers drohte .. dann war der Retter, der Wisser dessen was not tat, der echte Gottesmann, der Mund der Volkes-Stimme derjenige der es hinaustrug in den freien Wind. Es gibt andere in denen die Gefahr seiner Verschleuderung besteht, ja seiner Zerstiebung in Millionen glutlose Fünkchen .. dann ruft der Dämon eines Volkes den Heger, den Verdichter, den Umschließer und Verberger, und stattet ihn aus zu diesem Amt mit der Kraft der Zucht und des Geheimnisses, mit dem Schutz der bewahrenden Form und der unnahbaren Weihe. Auch dieser spricht aus dem gefährdeten Geist des Volkes, aber nicht populär.
Ein solcher ist Stefan George, denn es ist eine solche Zeit. Wie jeder Weise muß er die Gegenkraft der Gefahr sein, und wie nie ein Tag heilloser öffentlich, breit, flach, geschwätzig und öd betriebsam war, so tat auch noch nie mehr als heute not wenigstens einer der geheim, gedrungen, tief fest und still die unsterbliche Volkheit verkörpere und verkünde. Wer freilich Volk mit Publikum verwechselt, Gewöhnlichkeit mit »Natur«, Häufigkeit mit »Normalität«, Saloppheit mit »Schlichtheit«, das Bequeme mit dem Einfachen, Buntheit mit Fülle, dem erscheint George künstlich, unnatürlich, kurios, geziert und karg. Den andren, vor allem aber den ganz Einfachen und den ganz Gebildeten, d.h. solchen die sich durch Selbstzucht und Vernunft auf umfänglicherer Ebene die Einheit zurückerobert haben die dem echten Bauern durch Gewohnheit und Beruf in engem Kreis gegeben ist, erscheint er als Person schlicht und natürlich, klar und bestimmt, von gesundem Menschenverstand. So Gebildete gewahren in seiner Dichtung als eherne Wucht, reinen Bau, Hoheit und Glut dieselben Eigenschaften die jeden unbefangenen unliterarischen Begegner in seinem Gespräch und Gebaren als gehaltene Kraft, heiterer Ernst, Würde und Wärme überraschen, zumal nach dem geläufigen Zerrbild. Das rechte Maß, »der rechte Mit- und Auf- und Unterstieg« ..[36] das Gleichgewicht zwischen Kraft und Wollen, das Ruhen auf breitem Grunde bewährt sich in solcher Haltung – die kräftige Urbanität die den nährenden Boden, die unteren Lagen, die »dauernde Erde« noch beherrscht und von ihnen genährt wird. Diese saftvolle Sicherheit mit Ruhe und Breite wird heut der bloße Städter nicht leicht erlangen, sondern bestenfalls die schon mehr abgeleitete der Zwecke, der Begriffe und der Berufe. George hatte diese Grund-lage von Kind auf und trägt ihr Gepräge bis in seine feinste Geistigkeit hinein. Er kennt das Volk von innen, durch Gegenwart, nicht durch Sehnsucht, und darum ohne Romantik: er liebt es, wie man den Acker liebt in dem man säen soll, doch er verklärt es nicht mit phantastischer Ungeduld und er schwärmt es nicht verlogen an wie unsere volksfernen Literaten.
Wie das Volk hat George auch die Natur nie romantisch sondern heilig nüchtern angeschaut als ihr früh Vertrauter und Verwandter, nicht als ihr schmachtender Werber. Zwar ist er zu sehr Deutscher, um der Natur nur als Herr oder Benutzer gegenüberzustehen wie der Romane .. auch er fühlt und schaut sie mehr mit der Seele als der antike Beter. Aber obwohl er seit Goethe und Jean Paul der erste Neu-Seher und -Sager der Landschaft war, ist ihm die romantische Natur-schwelgerei, -verzückung und mystik völlig fern. Die Natur ist für ihn weder die Form des All-Gottes wie für Goethe, noch das Sinnbild der Seele wie für Jean Paul, sondern die große Nährerin des Menschen. Nach dem panischen Naturgefühl Goethes und dem psychischen der Romantik begegnen wir bei ihm zum ersten Mal wieder seit dem Altertum, doch verwandelt durch christlich germanische Erfahrungen, dem magischen Naturgefühl: die Natur zwar gotthaft, aber dem Zauber zugänglich, weder bloß sinnliches Element noch alldurchdringende Weltkraft, sondern Gegenkraft des Mensch-Geistes, in Kampf und Ehe mit ihm verbunden, seine Helferin als Herrin oder Magd, seine Feindin als Siegerin oder Gefangene. Ihr Mittel oder ihre Waffe ist der Zauber, den sie hütet oder den man ihr entreißt. Dieser Glaube, der Georges gesamte Naturansicht durchwaltet, ist am mächtigsten formuliert im Schluß der »Templer«
Und wenn die große Nährerin im zorne
Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne[37]
In einer weltnacht starr und müde pocht
So kann nur einer der sie stets befocht
Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte
Die hand ihr pressen packen ihre flechte
Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt
Den Leib vergottet und den Gott verleibt.
Römische und katholische Instinkte (nicht Lehren!) sind in dieser Gesinnung lebendig: sie ist es durch die George sich am weitesten von dem Goethischen Weltgefühl entfernt und am tiefsten die ganz von Goethe erzogenen Gemüter sich entfremdet. Wir werfen einen Blick auf die beiden »Ursprünge« die ihm gleichzeitig mit seiner Heimat, mit Familie, Volk, Landschaft, ja in diesen und als diese mitgegeben, eingeboren und umgelagert waren, das antike und das katholische Erbe .. sie alle sind nicht als Nach- und Nebeneinander von Ursachen zu denken, sondern als ein Rund von Wechselwirkungen, man kann sie unterscheiden, aber nicht aufeinander zurückführen – sie sind zugleich Eigenschaften und Einflüsse, Ausdruck und Eindruck, persönlichstes Gepräge und weitester Raum, Gebärde und Atmosphäre .. und eben dadurch gewichtig daß sie in einem Dichter auf neue Weise sich einen zu Gestalt und Sprache. Es bestimmt die Größe eines Menschen wieviele Erbschaft der Geschichte in ihm wiederauflebt zu Wirklichkeit – wie weit der Umfang schlafenden Geschehens und starren Stoffes ist den sein Wesen wieder füllt und weckt, wie tief er hinabreicht in die versunkenen Schichten, um ihre Säfte emporzusaugen. Zwar wir alle sind Ergebnisse der ganzen Geschichte, doch das meiste schläft in uns und schweigt. Aus wem nur das Heut und Gestern spricht der hat dem Morgen nicht mehr viel zu sagen: Gesamtmenschen nennen wir die in denen Jahrhunderte, Jahrtausende Wort und Fleisch werden, nicht nur dumpfes Geblüt oder hirnliche Erinnerung bleiben. [Denn freilich ist es keine Wiedergeburt wenn man verschollene oder entlegene Kulturen aufgräbt und anfrischt, und das modische Interesse für ägäisches oder akkadosumerisches Kunstgewerbe, für Amenophis oder Neger-plastik erweckt nicht jene Substanzen, es bleibt eine müßige oder fleißige Feinschmeckerei. Es können keine europäischen Stufen übersprungen werden – und wer von heute unmittelbar zu Indien oder[38] zu China Beziehungen findet, hat eben nur »Beziehungen«, nicht Wesen].
Das Nachleben früherer Welt bekundet sich nicht durch Stoffe und Lehren, sondern durch Kräfte und Gesinnung. Jene können aus der Vergangenheit von außen entnommen und übertragen werden, diese wirken im Blut und sind Schicksal und Charakter. Man ist nicht dadurch schon antik daß man antike Formen nachahmt, das ist Klassizismus, Romantik so gut wie das Goteln .. aus der Sehnsucht stammend, nicht aus der Fülle. Erst wem selbstverständlich und gemäß die Wiedergeburt glückt, beweist seine geheime Verwandtschaft, sein echtes Heimweh: z.B. Goethe und Hölderlin, nicht Klopstock und Platen.
Indem wir also George antik nennen wie keinen zweiten Mann der Gegenwart, meinen wir von vornherein weder antikische Versmaße (die er nie anwendet) noch seine Verherrlichung von Hellas noch seine umfassende Kenntnis des Altertums: sonst müßte man gar Mommsen oder Wilamowitz, eingefleischte moderne Protestanten, für antike Charaktere halten. Nicht durch irgendwelche antike Einzelheiten, etwa pythagoraeische, pindarische oder cäsarische Züge, die man an ihm finden mag, ist George antik – sondern durch den einen großen Willen der das gesamte klassische Altertum von Homer bis Augustus bei all seinen tausendfältigen Lagen und Arten als eine gemeinsame »Welt« abhebt von allen früheren und späteren »Welten«: die Vergottung des Leibes und die Verleibung des Gottes. Ich weiß keine einfachere und gewichtigere Formel für alle Ergebnisse des antiken Lebens: sie umfaßt (richtig und in ihrer ganzen Tiefe durchgedacht, und nicht gleich zur Phrase verflacht) das homerische Epos und die äolische Lyrik, die attische Tragödie und die Hymnen Pindars, die Plastik und die Polis, die platonische Ideenlehre (auch und gerade sie!) und den römischen Kaiserkult. Sie alle sind nur denkbar unter Menschen die das sinnlich begrenzte Dasein bejahen, weihen, vergotten und das unsichtbare als Kraft, Trieb, Schicksal gefühlte, geahnte, gedachte Leben versinnbilden. Dabei darf man freilich unter Leib nicht modernerweise einen physiologischen Apparat verstehen, den »Körper«, sondern eine metaphysische Wesenheit .. unter Vergottung nicht ein psychologisches Erlebnis, »Vergötterung«[39] sondern einen kultischen Akt und eine mythische Schau. Wer hier die Antike nach »Analogien« verstehen will der tappt im Dunkel, wie denn überhaupt Analogien allenfalls über Maße, nie über Inhalte etwas aussagen.
Die Vergottung des Leibes ist als Lebenstrieb verdichtet in der antiken Liebe, dem Eros (der kein Geschlechtsgott ist, sondern ein Seelengott und keine Analogie in irgendeiner Religion hat) und als Schicksalsgefühl in dem Kairos, dem glühenden Augenblick, der unwiederbringlichen, nur einmal fruchtbaren Gelegenheit, dem zeugenden Jetzt. Die Verleibung des Gottes ist verdichtet als mythische Schau in der plastischen Schönheit. Auch sie ist nur antik: was man später unter diesem Namen verehrte ist der Sinnen-Reiz, nicht die Seelen-Gestalt. Der kultische Akt der Gottverleibung ist die Weihe, der Zauber der das Göttliche in Menschenform oder Menschenraum ruft und bannt: dies ist im katholischen Sakrament mit verändertem Sinn übernommen. Diese vier antiken Urgewalten, Eros, Kairos, Schönheit und Weihe hat George und heute nur George erneuert. Wer sie nicht ahnt oder mißkennt der versteht keinen Vers Georges und meine Sätze können ihm bestenfalls Wegweiser an ein verschlossenes Tor sein. Um sie zu verdeutlichen, grenze ich sie ab gegen die vier christlichen Gegenerlebnisse: Caritas, Ewigkeit, Heiligkeit, Gnade. Caritas ist die Hingabe der Seele an das Andere um der Hingabe willen, nicht so sehr die Suche des Du als das Opfer des Ich, sei es an Gott, sei es an die Frau, sei es an die Sache: der Leib ist dabei schlechthin gleichgültig, der eigene wie der andere. Ewigkeit ist die Aufhebung der Zeit im Unendlichen, nicht ihre Einfüllung, Eingießung in den allhaltigen Nu. Heiligkeit ist die vollendete Entselbstung des sinnlich-leibhaften Ich in der überweltlichen Gottheit. Gnade ist der Zustand der Gottgefälligkeit, unabhängig von jedem Tun oder Wesen, jeder Selbstdarstellung oder Äußer-ung: das Gefühl dieses Zustandes ist der Glaube. All diese christlichen Grundwerte sind im bewußten Gegensatz gegen den Leib ausgebildet und setzen seine Verneinung voraus: sie sind die Umkehr und wollen nicht die Erfüllung des Nächsten, sondern die Erlösung vom Nächsten. Gott ist nicht das Hier, sondern das Drüben. Was die Gestalt als Mitte hat und zur Gestalt drängt wird verneint[40] oder bestenfalls geduldet, nicht bejaht, geschweige vergottet. Alle Fortschrittsideale kommen aus diesem Fort vom Gegebenen, derart daß zuletzt jene antike Zustände nicht einmal mehr verstanden wurden.
Als die christlichen Werte sich später verweltlichten, kamen nach der Zerspaltung in Diesseits und Jenseits, in Leib und Seele, nur die Gegenhälften der Seele herauf, nicht mehr das antike Gegen-ganze: statt der Caritas die Voluptas, die sinnliche Begier, statt der Ewigkeit die Unendlichkeit, statt der Heiligkeit die Moral, statt der Gnade das Streben. Entgottet blieb die sinnlich ergreifbare Welt .. höchstens daß man sie pantheistisch oder mystisch als Zeichensprache für ein Fernstes, Übersinnliches gelten ließ. Das ist aber durchaus unantik: zur antiken Religion gehört das innerste Ergriffen- und Gefüllt-sein von der erscheinenden, im ganzen Wesen, einheitlich mit allen Sinnen empfangenen göttlichen Gegenwart, die Durchbildung und Auswirkung des Göttlichen im ganzen gegebenen Da-Sein, nicht die gelegentliche Erhebung, Entrückung der Seele in Überwelten, nicht mystische oder extatische Ausnahme-zustände oder Abzahlungen an Gott bei übrigens unheiligem Alltagsgang, wie sie sogar dem modernen Spießer geläufig sind in den schwelgenden Erhebungen der Musik. Das Heidentum wird heut beinahe nur als bloße Bejahung der Begierden, der Triebe, als Genuß und Hedonismus begriffen, besonders von Mißverstehern Goethes und Nietzsches. Das ist grundfalsch: die Vergottung des Leibes ist etwas völlig anderes als die »Vergötterung« der körperlichen Funktionen, die Verleibung des Gottes etwas völlig anderes als das ästhetische Spiel mit religionsgeschichtlichen Symbolen .. sie ist eine ebenso strenge und hohe, wenn nicht strengere und schwerere Religion als die weltfeindlichen! George ist als der einzige antike Mensch unserer Tage dem echten Christentum, also den eigentlichen Gegenwerten der Antike immer noch näher als den modernen ästhetischen und hedonistischen Verweltlichern der heidnischen wie der christlichen Götter. Er steht wenigstens auf derselben Ebene, wenn auch als Gegner. Eros, Kairos, Weihe und Schönheit sind Gesetze, nicht Genüsse und Güter. George hat sein ganzes Leben unter diese Gesetze gestellt mit unerbittlicher Strenge gegen sich und andere, er hat so gut sein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«[41] wie Luther .. und sein Gott fordert nicht weniger, sondern mehr von ihm als der des gewaltigen Glaubers.
Eros, die menschenformende, weltschaffende, nicht genießende Liebe legt ihrem Bekenner die ganze Verantwortlichkeit des Erziehers auf: er darf weder nach Geschmack und Laune, noch nach Glück und Gefühl fragen, sondern nur nach dem Wert und dem Gesetz. Er darf nicht versuchen und nicht spielen. Nur im Edlen und Gleichen darf er zeugen und nur den Ächten kann er sein eigenes immer gefährdetes, mit mehr als dem eigenen Gewicht beladenes Herz entlasten .. nicht den Spiegeln, den Echos, den Sieben, den Weibern. In allen Menschen darf er nur den Gott suchen, der schwer zu finden, schwerer zu fassen ist. Ein beständiges Ringen mit dem Engel um den Segen, d.h. um die Erfüllung des eigenen Berufs ist ihm selbst die Liebe, die den Meisten Genuß oder Rausch bringt.
Der Kairos kommt seinen Günstlingen nicht als Zufall wie dem Fortunat die Fee mit dem Glücksäckel, sondern als Frucht eines wachen, gespannten und bei allen Leidenschaften und Erschütterungen weisen Wandels. Man kann ihn, einen Schicksals-gott, weder erzwingen noch überlisten, weder erschmeicheln noch erbitten – und das sind ja meist die Lebenskünste und -griffe womit die moderne Seele dem Schicksal begegnet. Nachsicht mit eigenen und fremden Schwächen, Klage und Hader, Ungeduld und Empfindelei scheuchen ihn für immer .. und wenn er kommt, verlangt er volle Bereitschaft, rückhaltslose Lauterkeit, treueste Hingabe. Niemand hat ihn tiefer erfahren und herrlicher gesungen als George im XI. Gedicht des »Vorspiels«.
Wer Schönheit schaffen und schauen will bedarf der gleichmäßigen Durchbildung des ganzen sinnlichen Da-Seins, von der Idee bis zur Kleidung herab .. im Stil seines Werkes muß noch derselbe Geist walten wie in der beiläufigsten Gebärde und Handreichung. In wessen Lebensart Genüßlichkeit, Tändelei, Schlaffheit oder Risse und Sprünge, Hast und Gier möglich sind, dem erscheint sie nicht oder er bemerkt sie nicht. Schönheit ist spröder als Moral und unerbittlicher als Heiligkeit .. sie läßt sich durch Reue, gesteigerte Anstrengung oder jähe Aufschwünge, Demut und Opfer nicht versöhnen: sie will ein ganzes gleich gehobenes Leben, stete Pflege aller Mittel und Organe des[42] Sehens und Bildens. Sie gedeiht nur in einer Luft von sinnlicher Fülle, von Reinheit der Helle wie des Dunkels, von Ernst und Freude – der tiefen Freude des Blutes, die Schmerz, Trauer, Leid und Tragik erträgt, aber Zweifel, Neid, Furcht, Gezänk und niedre Sorge ausschließt. Sie liebt die großen Schicksale, sie ist blind für kleine Zufälle. Sie hat nichts zu tun mit Kitzel und Geschmack.
Die Weihe, die den Gott in die Erscheinung ruft, will nicht künstliche Steigerung durch Rauschmittel oder Askese, sondern das dauernde Edeltum, die Lauterkeit und Wahrhaftigkeit bis ins kleinste: sie ist die feinste Blüte eines lebenlangen Umgangs mit schönen Bildern, erhabenen Gedanken und echten Geheimnissen. Sie umlagert die Abgründe, Geburt und Grab, und nur wer in jeder Stunde zum äußersten Opfer bereit ist, den würdigen Götter ihres Anblicks. Große Taten und Werke sind nichts einzelnes – sie sind Reife gesammelter Energien und auch die Gipfel des Menschenlebens ragen nicht aus dem flachen Sand, sondern aus Gebirgen und Hochebenen empor.
Diese vier Gesetze Eros, Kairos, Weihe, Schönheit sind dem Altertum selbstverständlich gewesen bis in den Verfall hinein. Gewohnheit, Überlieferung, Verfassungen machten sie selbst dem Pöbel geläufig und erhielten die Atmosphäre worin die ewigen Taten und Werke gediehen als natürliche Früchte. Heute müssen Einzelne mit ungeheurer Mühe, mit schmerz lich-strenger Abwehr der Widerwelt überhaupt erst wieder daran erinnern daß es solche Lebensgesetze gibt, die so wenig ungestraft versäumt werden wie die hygienischen und so wenig zu durchbrechen sind wie die Naturgesetze.
Von beiden sind sie verschieden, auch von dem Sittengesetz. Die hygienischen Gesetze regeln die Funktionen des Körpers, nicht des Leibs – des Tiers, nicht der seelischen Wesenheit .. die Naturgesetze regeln die unbeseelten Stoffe und Massen, das Sittengesetz das Verhalten der Menschen zueinander.
Jene Lebensgesetze sind genau das was das Altertum Götter nannte: die in allem Geschehen, Wesen und Werden wirksamen Kräfte, gebunden an das sinnenhaft wirkliche Da-Sein. Darum starben sie, d.h. wurden vergessen, als die eine übersinnliche Gottheit aufkam und den Dienst der Wirklichkeit, der Leibwelt verbot. Sie erwachen, sobald einem Menschen diese Vergottung des Leibes und Verleibung[43] des Gottes wieder gemäß und notwendig ist. Die Kenntnis und Verkündung jener Lebens-Gesetze ist Georges Beruf, ihre Befolgung und Darstellung im eigenen Wandel befugt ihn dazu. Daß sie ihm nicht eine erklügelte Philosophie oder eklektische Theosophie sind, eine jener zahlreichen allgemeinverständlichen Geheimlehren und bequemen Askesen die das metaphysische Bedürfnis des Publikums durch Schleier und Blößen, durch Halbwissen und Hokuspokus locken und letzen, sondern die ihm natürliche strenge und einzige Art des Seins, das ist sein antikes Erbe.
Er verwaltet dies antike Erbe als Deutscher, nicht als Grieche oder Römer, wie es denn dem Deutschtum selber als eine Schicht des Imperium Romanum einverleibt ist. Jene vier »Götter« sagen noch nichts über das Was des Lebens das sie beherrschen, sondern nur über das Wie ihrer Herrschaft: sie sind kein Reich, sondern eine Verfassung. Der Mensch, die Natur, die Geschichte womit George es zu tun hat sind keine antiken, und wenn Eros, Kairos, Schönheit, Weihe an die antiken Stoffe gebunden wären, so käme bei ihrer Erneuerung nur Klassizismus heraus. Sie sind ewig, und wir nennen sie nur antik, weil sie dort die Alleinherrscher waren und ihre reinsten Offenbarungen gefunden haben, wir können sie dort am deutlichsten aufzeigen .. aber nochmals: sie sind keine Vergangenheit, sondern Ewigkeit.
Gestaltung, die Vergottung des Leibs, das ist die antike Religion. Das ganze antike Leben ist kunstartig, es gibt dort keine Kunst als eigene Lebensform. Darum ist die antike Kunst selbst Religion, nicht wie die mittelalterliche ein Mittel der Religion, wie die moderne ein Ausdruck der Zeit oder gar »religiöses Erlebnis«. Man begreift jetzt vielleicht eher warum heute ein Künstler zugleich Prophet sein kann. Die Religion der Leib-vergottung kann immer nur von einem Gestalter gelebt und gelehrt werden. In einer durchaus gestaltigen Welt wie die Antike kam die Umkehr, die erneuende Prophetie, von Er-lösern, von Gestalt-sprengern, heut in einer entstalteten, mitteflüchtigen zergeisteten Fortschrittswelt kann sie nur von einem Verleiber kommen – freilich einem dem Kunst Vergottung, nicht Zier, Spiel, Reiz ist. Dies unterscheidet Georges Kunst von allem Ästhetentum.[44]
Die antiken Kräfte sind in die neuere Welt eingegangen als Kirche, verschmolzen mit Elementen der römischen Spätzeit und des germanischen Mittelalters. Auch diese sind in George noch lebendig als deutsche Sprache: der geduldig wölbende römische Bau-wille, die sinnliche Glut des Ostens, germanisches Seelengrauen und Traumdunkel. Auch als Katholik ist er nirgends Romantiker. Weder die Lehre und Glaubensart die seit der Gegenreformation die heutige Kirche beherrscht, noch das politische System des Ultramontanismus noch der weichliche Geschmack an schönen Überlieferungen und Gebräuchen, der müde Genießer in den ruhevollen Schoß treibt, haben mit dem Katholizismus des Blutes und Willens etwas zu tun – es sind intellektuelle Gegenbewegungen gegen den Fortschritt, doch gleicher Art mit ihm: geschichtliche Reliquienkulte, nicht Erneuerung schlafenden Lebens, sondern Erhaltung alter Kostüme. Was der Katholizismus seit der Reformation in Deutschland durch sein Dasein geleistet, war die Bewahrung, die stumme Umschließung unverstandener und unbenützter Substanzen. Seine bewußten Ziele waren entweder Museumskuriositäten oder mittelalterliche Träume oder mystische Reize. Das herrschende Leben des deutschen Geistes ging von der Reformation aus, Luther, Böhme, Leibniz, Kant, Bach, Hegel, Bismarck, und von der Renaissance, Holbein, Hütten, Winckelmann, Goethe, Mozart, Hölderlin, Nietzsche – oder von beiden zusammen, und auch die großen Katholiken waren nicht durch ihren Katholizismus fruchtbar. Mit Stefan George ist zum erstenmal wieder seit dem Mittelalter der deutsche Katholizismus lebendiges Wort und neue Gestalt, nicht in alten Dogmen und Zierden verkrustet, sondern fähig seinen Seelen-gehalt in eigenen freien Formen wieder heraufzuheben.
Katholik ist George freilich nur insofern die Kirche die gesamtmenschlichen Substanzen hegt und den Leib rettet vor der Entäußerung des protestantischen Fortschritts und dem mitteflüchtenden Jenseits. Katholisch sind an George »das Maß der Höhen und der Tiefen«, der Dantische Sinn für Stufenfolge, den so schroff weder Altertum noch Neuzeit kennt, und der mindestens für Europa ohne die Prägung der Kirche nicht denkbar ist. Katholisch ist seine Lust an der lang ausgehaltenen, stetig steilen Spannung, die den sinnlich breiten Boden[45] mit dem Sternengewölbe verbindet, orientalische Extase, deutschen Flug und römische Wucht einend. Katholisch ist die Einheit von Stille und Pracht, von Geheimnis und Feier, von abgründigem Seelenschauder und freudiger Sinnenhelle: das Altertum und der Osten kannten beide nur neben oder gegeneinander – die Kirche erst hat sie ineinander, und erst George hat die deutsche Sprache dieses katholischen Zaubers mächtig gemacht. Dante und Shakespeare haben ihn auch. All das sind keine »Ingredienzen«, sondern Kräfte eines einheitlichen Charakters und nur wir trennen hier, indem wir benennen.
Das Blutserbe von Haus, Gau, Antike, Kirche ist für George entscheidender als irgendein späterer Bildungseindruck. Durch kein Buch, keinen Menschen, keine Reise ist er je so schicksalshaft bestimmt worden wie etwa Goethe durch Shakespeare, durch Herder oder Italien: dessen ganze Wegrichtung und Lebenshaltung läßt sich mit Vorbildern, Lehrern, Erfahrungen zwar nicht erklären, aber bezeichnen. Georges Grundform war schon früh geprägt, und was er lernte und verarbeitete, hat eher seinen Umfang erweitert und erhellt als seine Art gewandelt. Er hat Ahnen und Voraussetzungen wie jeder Mensch, aber keine Führer und Meister, darin den Tätern und Propheten, einem Luther oder Napoleon ähnlicher als den Männern der Bildung. Auch so gehört er mehr dem Wesen als dem Werden, mehr berufen neue Mitte zu gründen als eine Überlieferung auszuleiten. Schon an seinen Jugendgedichten fällt diese musterlose Selbstigkeit auf: sie sind schülerhaft, auf dem Sprachniveau der Durchschnittslyrik nach Goethes Tod, noch ohne eigenen Ton, und doch wüßte man kein Einzelvorbild zu nennen dessen Ton darin nachgeleiert wird, weder Goethe noch Schiller noch Heine .. die Person ist schon selbständig, sie muß sich noch im fremden Medium ausdrücken, aber nicht in einem menschlich bestimmten. Das ist nicht Eigenbrötelei: George hat einen angeborenen Trieb der Verehrung und ist ein Meister im Danken und Huldigen .. doch sieht er in großen Menschen eher Ur-bilder als Vor-bilder, mehr »Trost und Beispiel« in ihrem Dasein als Stoff und Anregung in ihrem Werk .. er grüßt sie als die Fleischwerdung des ewigen Menschtums, als Verleibungen des Gottes dem auch er dient.
Wir müssen sein Pantheon kurz beschreiben. Die große Gestalt an[46] der Schwelle war auch für ihn Goethe, zunächst einmal, wohl unbewußt, als der weiteste Umfang und die reinste Form des Elements worin er sich auszudrücken hatte, der deutschen Sprache. Über Goethe führte der Weg in all ihre Gründe, und woher George auch sein Wort schöpfen mochte: es konnte nicht ohne die Goethische Breite geschehen, sondern nur durch Vertiefung und Läuterung der von ihm gehobenen Sprachmassen, die inzwischen verschwemmt und verschlämmt waren durch das Epigonentum. Eine unmittelbare Anregung durch einzelne Goethische Werke und Motive freilich ist bei George nicht zu finden: Goethes Welt, ob die aus deutscher Vorzeit genährte des Sturm und Drang, ob die klassizistische der italienischen Reise, ob die weltlitterarische seines Alters, ist nach Gefühls- und Bildungs art Rokoko – d.h. gesellschaftlich idyllisch, wie tief auch gespeist aus kosmischen Quellen .. und eben jenseits aller »Gesellschaft« fängt George erst an. Hier ist ein Hauptgegensatz zwischen ihren Seelenebenen, und erst innerhalb gleicher Seelenebenen sind Entlehnungen, unmittelbare Ein-flüsse möglich. Man kann nur entnehmen wo man empfänglich ist. Wenn der Dichter Goethe für George mehr Sprachschöpfer als Formengründer blieb, so ist ihm dagegen der Weise, der einzige Deutsche vollendeter Kalokagathia auf jeder Altersstufe, immer die höchste deutsche Gestalt geblieben, der eigentliche Erzieher deutscher Jugend durch gelebtes und geberdetes Wissen um die Lebensgesetze, durch die Einheit von Streben und Sein, durch das einzige Gleichgewicht von Lebensfülle und Geistesfreiheit, von Würde und Anmut, von Adel und Gewalt, die einzige Überwindung tüdesker Barbarei ohne Einbuße an irdischer Wucht und Frische. Und so wenig Goethes Griechenbild dem Georges entspricht, so sehr ist der hellenische Wille und Sinn Goethes von ihm schon früh als Ahnentum empfunden worden, als der Ruf nach dem Ewigen Menschen.
Hölderlin trat erst später in Georges Gesichtskreis, und erst die Wiederentdeckung der letzten Hymnen, als seine eigne Weltschau schon völlig herausgestellt war, hat ihm die Verwandtschaft ihrer Sendung ganz offenbart: Hölderlin ist ihm das nächste Urbild des Seher-Dichters, die lauterste Flamme des heiligen Feuers im deutschen Wort, die Gewähr der unmittelbaren Gemeinschaft deutscher Seele mit der überzeitlich hellenischen Welt-glut, der erste Verkünder des[47] deutschen Schicksals-geheimnisses. George hat 1919 ihn gefeiert als »Eckstein der nächsten deutschen Zukunft und Rufer des neuen Gottes«. Doch gehört Hölderlin zu den Ahnen, nicht zu den Bewirkern seiner eigenen Dichtung.
Als solchen hat er neben Goethe den Klang- und Farbenzauberer der deutschen Sprache Jean Paul anerkannt. Aber Jean Paul war bisher nie ein der deutschen Sprache unlösbar eingegeistetes Element wie Goethe, und ist auch für George mehr ein unverbindlicher Zauber, ein Fluidum, als ein Urbild und eine Kraft geblieben. Freilich nicht nur der Sinnenreiz von Jean Pauls Sprache, sondern mehr noch die magische Seelenglut, deren Funkeln und Sprühen, Schimmern und Wallen sie ist, hat ihn verwandt angesprochen. Er ahnte hier eine Lage der deutschen Seele die für das Gesamtmenschentum fruchtbare Zukunft enthält, wenn sie auch bisher abseitiges Wunder und Spiel geblieben.
Goethe, Hölderlin, Jean Paul sind die einzigen deutschen Dichter die in Georges eigenem Seelenbezirk als Götter oder Gewalten erschienen sind. Zumal zwei Mächten ohne deren unmittelbaren Einfluß kein neuerer deutscher Sprecher denkbar ist hat er sich verschlossen, soweit sie nicht durch Vermittlung Goethes ihn erreichten: Luther und die Romantik. Die Bibel war ihm selbstverständlich so gut wie das klassische Altertum ein mythischer Bereich von Bildern, Sitten, Geheimnissen, und was in der Kirche davon lebt ist schon mit seinem Katholizismus wach. Das Lutherdeutsch ist die erste Schicht neuhochdeutscher Sprache und somit auch Georges Deutsch noch eingeboren. Aber das eigentlich lutherische Pathos, sein Ton, seine Sinnesart und seine Sprachgebärde, d.h. Seelengebärde, hat ihn nie verlockt: kein deutscher Dichter von Rang, kaum Hölderlin ist so lutherfern wie George. Hier ist er gleichsam gefeit durch seinen heidnischen Blutskatholizismus: er ist der unprotestantischste Deutsche der seit Luther sich geäußert.
Die Romantik aber, das Schwelgen, Spielen, Schweifen, die nurgeistige oder nur-seelische oder nur-triebliche Zentrifugalität deutschen Wesens, zur literarischen Bewegung geworden durch das Saugen und Wuchern »schon gebildeter Säfte«, Spiegelung, Filterung, Echo, Ableitung – zugleich Entwurzlung und Zergeistung, war ihm[48] von vornherein fremd, zu dünn und schattenhaft. Was die Romantik an »Mond- und Geisterscheinen«, an altem Volksglauben und -brauch, Spuk, Wunder und Märchen für unsere Bildung herauf hob das hatte er als Kind des Volkes noch unmittelbar aus seiner Herkunft und mußte es nicht aus Büchern saugen.
Wie die Reformation und die Romantik, so fehlt in Georges Schaffen auch die deutsche Philosophie, die beider Kind ist. Die idealistischen Systeme und Methoden sind Verselbständigungen und Verherrlichungen von Einzelkräften, sie zerreißen das Gesamt oder überspannen die Sonder-organe auf Kosten des menschlichen Gleichgewichts, sie entbilden die Welt. Man hat nun vielfach den Vollender und Zerstörer des Idealismus, den Erben und Umkehrer aller geistigen Bewegungen seit Luther, Nietzsche, als einen unmittelbaren Erzieher Georges betrachtet. Beide haben dieselbe Erbschaft und damit dieselbe Aufgabe vorgefunden: einer zerfahrenden Menschheit wieder Mitte, Maße und Tafeln zu bringen. Beide treffen sich hierin von sehr verschiedenen Seiten und mit entgegengesetzten Mitteln: Nietzsche stellt ein neues Ziel in die höchste Höhe: den Übermenschen, die Vision eines erhabenen Einsiedlers, die Umkehr der Wirklichkeit, eine eschatologische Wunschfigur .. er ersinnt das Andere, das weder er selbst noch seine Zeit schon füllt. George stellt ein gesteigertes Leben dar das er selbst schon verwirklicht, kein spannendes, ziehendes Droben und Drüben, sondern ein bindendes, verbindendes Hier und Jetzt. So ist denn Georges Sprache der zersprengenden, blitzenden und musikalisch schweifenden Geist-Sprache Nietzsches so entgegen wie seine eine Wirklichkeit und Notwendigkeit Nietzsches tausend schweifenden, aus-schweifenden Möglichkeiten. Nur wie jeder höhere Mensch ist heute auch George dem gewaltigen Zersprenger und Befreier verpflichtet, der zuerst in die mörderisch-bürgerliche Stickluft neuen Odem wehte und mit seinen Gewittern überhaupt erst wieder die Atmosphäre schuf worin große Gedanken und Geschicke gedeihen können.
Georges Empfänglichkeit beginnt unterhalb des schon »Gebildeten«, in den Schichten woraus alle Bildung erst entsteht. Wie nur die Geschichte ihn erregt die noch Natur in seinem eigenen Blut ist, antikische, katholische, so auch der Geist nur, solange er sinnliche, vorgedankliche[49] Sprache ist, mindestens keine bloß gemeinte, gedachte, geschriebene Rede, nur das lebensträchtige, gestalt-schwangere, keimhafte Wort. Die Sprache in ihrem ganzen Umfang ist für ihn das nährende und tragende, das seelisch sinnliche Element, das für Goethe die Natur, für Schiller etwa die Geschichte war. Er beherrscht fast alle europäischen Sprachen: neben dem Deutschen Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Holländisch, Dänisch, Polnisch, dazu Latein und Griechisch. Aus der Sprache als einem sinnlichen Element, nicht als der Vermittlung bestimmter Meinungen und Gesinnungen, muß man zunächst sein Verhältnis zur außerdeutschen Weltliteratur verstehen. Die neueren europäischen Dichter die er übersetzt sind für ihn nicht, wie man vielfach annahm, literarische Muster oder auch nur Anreger gewesen, sondern zunächst einmal Sprachkörper, Träger einer frischen für ihn noch jungfräulichen Masse in der er zeugen und formen konnte. Was er von seiner Baudelaire-umdichtung sagt gilt von ihnen allen: er hat nicht verdeutscht »um fremdländische Verfasser einzuführen, sondern aus der reinen ursprünglichen Freude am Formen«, aus der dunklen Wollust die das Untertauchen in die unerforschte Flut Sprache, das Ringen mit dem spröden Stoff Sprache, das Zeugen in dem warmen Leib Sprache erregt.
Wenn man ihn als Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die »Richtung« Swinburnes oder d'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichter waren für ihn – einerlei was sie ihrem Land als Literatur-richtungen bedeuten, welche Motive oder Techniken sie brachten – lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten oder feinsten Sprachkomplexe ihres Volks. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines Endschafts-anmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Rossettis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Verwey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte, Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständnis, wenn man nachher auf Georges Spuren all diese Dichter als »Richtungen« oder Seelenwerte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrer Gesinnung ansah. Als Übersetzer ist George zunächst »Artist«[50] d.h. werkfroher Ergründer und Bewältiger seines Ausdrucksmittels, und freilich wußte der Jüngling den Männern Dank die zur Zeit deutscher Sprachverwahrlosung ihm die reine Lust des Sagens, die »Tugend der Worte« wiesen, eh er noch etwas besaß außer seinem überfüllten Selbst mit dem heißen Willen zum reinsten Ausdruck: diesen Dank enthält sein Zeitgedicht »Franken«.
Aber wenn jene ausländischen Meister und Freunde das Ende und die duftigste Blüte einer jahrhundertelangen Sprachkultur waren, so mußten dem jungen deutschen Beginner ihre Inhalte so fern sein wie ihre Ausdrucksart verlockend. Am Fremden hat er sein Eigenes sagen gelernt, doch nicht ihr Fremdes hat er nachgesagt noch sein Eigenes auf fremde Weise: Schüler der Franzosen ist er genau so sehr wie der Bildhauer der Schüler des Marmors oder der Segler der Schüler des Windes. Da es freilich keine Sprache an sich gibt, sondern nur die Sprache bestimmter Menschen die das und jenes zu sagen haben, so hat George auch als Übersetzer die ganzen Inhalte seiner Originale bis zum Grund mitgespürt und von der Sprache aus so mit-erlebt wie Schlegel die Inhalte Shakespeares. Hier ist nicht zu erörtern warum damals die Sprachmeister der Franzosen und Engländer gerade solche Inhalte hatten oder vielmehr warum gerade die Endschaft dort die ergreifendsten und gedrungensten Worte fand: wichtig ist daß George von der Sprache und nicht von den Inhalten aus zu diesen Dichtern kam. Mag er auch Baudelaires »glühendem Verewigungsdrang« und schlackenschmelzender Kunstglut, Mallarmés lauterer Unbedingtheit, Verlaines unverwüstlichem Zauberleichtsinn huldigen: Muster sind sie ihm nie gewesen. Wohl aber hat das unablässige Ringen mit sieben reifen, satten und runden Sprachen, das leidenschaftliche Tasten und Wägen, Hämmern und Biegen, Filtern und Sieben die Sonorität, Fülle und Pracht seiner angeborenen Sprache steigern helfen, unabhängig von den fremden Inhalten, für die Stunde seiner eigenen noch schlummernden Inhalte.
Da Georges Bildung sich nährt von den Urstoffen – den Elementen, deren eines die Sprache ist – und von den vollendeten Gestalten, unter Ausscheidung der abgeleiteten reflektierten Zwischenschicht worin der pure »Geist« waltet (Philosophie, Wissenschaft, Moral, Politik) so gibt ihm auch das Altertum mehr durch seine[51] plastischen als durch seine sprachlichen Überlieferungen: die toten Sprachen können keinem aktiven Dichter als Element soviel bedeuten wie die mitlebenden. Die hellenische Plastik muß für den Anbeter der Schönheit immer die eigentliche Offenbarung bleiben, die greifbare Gewähr seines Glaubens. Von den Augen her hat George den Zugang zum antiken Gesamtmenschentum gefunden: Werke wie der delphische Wagenlenker, der Parthenon-fries, der Venus-thron haben ihm erst das Verständnis der griechischen Dichtung und Weisheit erschlossen. Von hier aus glühte ihm der gesamtmenschliche Gehalt Homers, der Tragiker, Pindars und Platons erst herauf. Doch sind diese ihm zumeist mythische Gestalten, Urbilder eines Glaubens der ihm als Lehre erst in den letzten Jahren sich klärte und prägte. In dem Maße als sein eigenes antikes Blutserbe ihm von innen her deutlicher, deutbarer wurde, fand seine Natur-Antike in der Geschichts-Antike mehr und mehr die »ferne Ähnlung« und die verwandten Zeichen. Je mehr sein Wille ins Bewußtsein hinausstrahlte und lehrbar wurde, desto näher kam ihm von den Sehern und Sängern vor allem der Herrscher-weise und Menschenbildner Platon. Dessen Werk ist wohl das einzige aus dem Altertum das er brüderlich und nicht nur mythisch begreift, zugleich als einmalige persönliche Sprache und als ewige Gestalt.
In noch höherem Maß gilt das von den beiden größten Schöpfern der lebenden Sprachen: von Shakespeare und Dante. Hier sind ja Element und Gestalt, Sprache und Kosmos, Natur und Menschenart die George will im größten Umfange vereinigt, und diese beiden sind ihm darum der Inbegriff des Dichtertums: der tragische, heldische, adlige Gesamtmensch der das All in seine gehobene Sprache bannt, und dadurch die weltschaffenden Kräfte zugleich bewahrt und steigert: Shakespeare durch die Verewigung jeder hohen Leidenschaft und Verzauberung alles Erdenlebens, Dante durch die Schau eines Gottesreichs und die Offenbarung der heiligen Seelengesetze. Diese beiden hat George verdeutscht nicht nur um der Sprache, sondern auch um der Gestalt willen die in ihnen Sprache geworden ist, um der Welt willen die in ihrem Worte liegt. Wenn Shakespeare ihm die reichste Welt ist, so bleibt ihm Dante der höchste dichterische Mensch. Der richtende Seher, in Schauer, Zorn und Entzücken gelenkt[52] von ewigen Sternen, der erschütterte Minner mit der neugeweihten Sprache, allfühlend und unbestechlich, glühend und gerecht, hassend aus Liebe und verachtend aus Ehrfurcht, einsam und mißkannt, doch stolz in der Fülle des Herzens, der einzigen Sendung gewiß – dies hehre Gesicht leitete ihn von früh mit leiser Zauberkraft, wie nur das geheimverwandte und das unerreichbare Wunschbild uns leiten können. In dem germanisch-romanischen Begründer der europäischen Dichtung, der zum letztenmal einen ganz durchseelten und ganz geschlossenen Kosmos wölbte worin jedes Wesen seine menschliche Gebärde und seinen göttlichen Platz hat, in dem Wiedererwecker aller adligen und süßen Seelentöne, aller »gentilezza« wie aller menschenbildenden und -ordnenden Leidenschaft, in dem Lober verschütteter Größe und dem Rufer der künftigen – in Dante fand George das erhabene Gleichnis seines eigenen Berufs und bis ins Körperliche hinein der eigenen Art.[53]
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