Zeitalter und Aufgabe

[1] Wenn wir Stefan Georges erste geschichtliche Aufgabe in der Wiedergeburt der deutschen Sprache und des Dichtertums sehen, müssen wir den Zustand zeigen woran er sich zunächst bewährte, die deutsche Literatur um 1890. Nicht daß der Widerspruch sein Wesen bedingt oder auch nur seine Mittel geformt hätte: kein Wesen entsteht aus Beziehungen wie Widerspruch oder Hingabe, aber es kann dadurch erscheinen, und jede Fülle findet als Schickung oder Erbschaft eine Not vor, die zu ihr gehört. Sprache und Dichtung sind uns hier nur die faßlichsten Zeichen eines Gesamtzustandes der von den Alltagsverrichtungen bis zur Religion reicht. Sie sind zugleich der Boden von dem aus der einzelne Mensch am ehesten ohne äußere Macht, mit keiner anderen Gewalt als der seiner ursprünglichen Seele, am »un-mittel-barsten« also, eine Welt aus den Angeln heben kann, wenn ringsum Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Presse, Theater – massen- und sachenhaft geworden – die Privatperson nur als Stoff oder als Stück kennen. Die Sprache ist das innerste Bollwerk des Geistes in einer Welt der Dinge, sie ist die letzte Zuflucht des Gottes im Menschen, wenn es keine durchseelte Kirche, keine öffentliche Magie und kein Geheimnis mehr gibt. Nur vom lebenhaltigen Wort her ist die Erneuerung alternder, allzu seßhaft oder allzu splittrig gewordener Gesamtheiten möglich für den Einzelnen der ihrer öffentlichen Stoffe und Mittel sich nicht bedienen kann, der »nicht anders kann« als ihn sein Herz heißt.

Denn Tat und Bild oder Bau fordern die freiwillige oder unfreiwillige Gemeinschaft zwischen dem Werkführer und der jeweils gültigen Öffentlichkeit: der Täter wird von vornherein Herrscher, Führer, Vertreter einer schon vorhandnen Gesamtheit sein, also immer mehr haben müssen als nur sein Ich: menschliche und sachliche Mittel in dem Bereich selbst den er durchwirken will. Der Bild- und der Tonkünstler ist Diener, Zeiger oder Schmücker eines noch oder wieder lebendigen Gesamtgeistes, auch er bedarf einer schon heraus gestellten Sichtbarkeit. Nur das sprengende Wort hat von vornherein Platz in der Einzelseele und mag es später die Welt durchdringen (das ist ja seine Bewährung) es bedarf keiner schon mächtigen Gruppen,[1] um hinauszutreten, keiner bestehenden Organisationen, keiner Parteien. Die es braucht schafft es selbst. Jemehr ein Wort solcher bestehenden Zwischenschichten bedarf, desto mehr gehört es zur alten Welt, zum bloßen Heut und Gestern, wie alle moderne Nutz-, Lehr- oder Unterhaltungsrede: Presse, Katheder, Theater, Kanzel, Parlament sind ja schon Mittel-Anstalten der Welt die gerade durch das ursprüngliche Wort aus den Angeln gehoben werden soll.

Wenn also ein Einzelner heut den Beruf zur Erneuerung fühlte, mußte sein Geist ihn schon von vornherein fernhalten von allen vermittlungs bedürftigen Berufen. Nicht mehr die unmittelbare Tat war ihm möglich und nur zwei Wirkungsarten des Wortes standen ihm frei: das einsam prophetische und das einsam dichterische .. das unbedingt fordernde oder das unvermittelt formende. So mußten notgedrungen die beiden einzigen Menschen die jenseits dieses ganzen Zeitalters neue Welt hegten sich im Wort entladen, um ihren geschichtlichen Beruf der Erneuerung zu erfüllen: Nietzsche und George.

Dieser Ausweg war nur heute nötig, und drum müssen wir wissen warum gerade dies Heute den Dichter, seinen Gegenpol, hervortrieb. Nur gerade in dem einmaligen Augenblick seines Erscheinens hatte George dieses Amt. Jeder geschichtlichen Gestalt entspricht nur eine Zeit, und jede Zeit hat nur ein erlösendes oder erfüllendes Wort, nur eine ganz wahre Tat. Danach ob gerade ihr Wort und ihre Tat den ganzen Verkörperer findet oder ob sie in vielen Halben zerflattert und verdämmert, oder gar stumm bloßes Treiben, Ahnen und Sehnen bleibt, danach bemißt sich zuletzt die Größe und Frucht eines Zeitalters. Dies wahre Wort weiß zuerst nur der es zu sprechen hat, dann seine nächsten Hörer .. die meisten, die bedürftigen Empfänger wie die rückgewandten Betrachter, gehen fast immer irre, weil sie es nach Analogien der ihnen vertrauten Geschichte erwarten. Niemals gibt es zweimal dieselbe Lösung, kein früheres Heil kann unmittelbar übertragen werden auf eine andere Not, so wenig es in anderer Luft als eben seiner wachsen könnte: es bedarf erst der jedesmaligen Erweckung durch den neuen »Löser und Lader« der mit


frischem saft die früheren götter schwellt

Und alles abgestorbne wort der welt.
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Forderungen, Gründe und Ziele die aus der Geschichte abgezogen werden, sind von vornherein für das wirkliche Geschehen, für das Eine was not tut, falsch. Auch der größte Geist der Vorwelt kann heut nicht unmittelbar gelten, und sowenig Napoleon unserer heutigen Politik dienen kann, sowenig läßt sich aus Goethes Haltung das geistige Ideal heut abziehen. All ist ewig, aber nichts wiederholt sich.

Der Eine Sinn der durch die Welt waltet ist von jedem einzelnen Punkt aus anders sichtbar, bedarf für jeden Raum und jede Zeit anderer Zeichen. Daraus daß man die fertigen Zeichen (Lehren, Bräuche, Einrichtungen, Formen) dieses Einen Sinns von dem einzigen Punkt wo sie und nur sie wahr sind auf andere übertrug, statt sich um das neue nur hier gültige Zeichen zu mühen, sind die meisten Irrnisse entstanden. Wir leugnen nicht relativistisch den Einen unbedingten Sinn, sondern wir suchen sein heut allein gültiges Zeichen.

Der Betrachter hat die Wandlung der jeweiligen Zeichen aus den jeweiligen Nöten zu deuten, ohne falsche Analogien und Übertragungen, mit dem Blick für das Einmalige der Erscheinungen. Keine Ordnung, keine Gattung, keine Gebärde bedeutet zweimal dasselbe, und immer wieder muß der Historiker zurücktauchen in den Ewigen Grund selbst der immer neu unwiederholbar geballt auftaucht .. nie darf er bequem eine fertige Erscheinung aus einer anderen erklären: das ist immer falsch. Verdeutlichen kann er durch Vergleiche, niemals deuten! Der Wirker (Prophet oder Täter, Gestalter oder Lehrer) hat die Zeichen zu schaffen die des Ewigen Sinns heutige Stunde »erlösen« oder »erfüllen«: das kann durch Bindung oder Befreiung geschehen, durch Gestaltung oder Zersetzung, durch Ernte oder durch Saat, durch Krönung des Zeitgeistes oder durch seine Entthronung, durch Segnung oder durch Fluch. Was fruchtbar ist allein ist wahr und kein Wissen um das was je fruchtbar gewesen erzeugt das Wissen um das Eine was heut fruchtbar ist, was »not tut«. Dies Wissen kommt nur aus einem Sein, einem Mit- und Wider-Sein, einem Drin und Drüber, aus der Zeitigung das ist Zeigung des Ewigen Sinns.

Die Aufgabe des Dichters um 1890 ist so wenig nach Analogien früherer Zustände zu bestimmen als diese Zeit selbst, deren Einzigkeit[3] seit dem Weltkrieg auch blöden Augen einleuchtet. Dennoch stellte man an den Dichter noch die Ansprüche die sich aus dem Zeitalter und Vorbild Goethes ergaben. In der damaligen Literatur (um uns auf diese zunächst zu beschränken) sind die Zeichen des Mißverständnisses, der rückgewandten Analogie, das Epigonentum und der Naturalismus: in sie traf Stefan George mit seinen Anfängen, von ihnen hob er sich ab, als bloßer Widerspruch gegen sie wurde er zunächst befehdet oder begrüßt, ehe man sein von beiden gleichweit entrücktes Eigen ahnte. Für beide ist der Schriftsteller der unverbindliche Schmücker oder der unerbittliche Darsteller der gegenwärtigen Gesellschaft. Er sollte ihr ein verschönertes oder getreues Abbild vorhalten, ihren Alltag verklären durch Ideale einer zeitlichen oder räumlichen oder träumlichen Ferne, oder ihn schildern in seiner krassen Tatsächlichkeit, einerlei ob aus Wahrheit an sich – aus Wissenschaft – oder aus Moral, im Dienst des sozialen Fortschritts. Epigonentum und Naturalismus entsprechen einander und so verschieden ihre Programme, ihre Wege, ihre Technik, so sehr sind sie Ausdruck derselben Wesensart, und Opfer eines ausgehöhlten Ideals aus der Goethe-Zeit: des im 19. Jahrhundert rückständigen Wahns: die Erscheinungen der Gesellschaft seien »das Leben« oder das Gesetz. Beide kannten nur Zeit, verwechselten das Leben mit seinen zeitlichen Ablagerungen und hielten für den Gehalt was nur der Stoff war. Der Schriftsteller als Diener seiner Gesellschaft: das war die Verneinung der geistigen Freiheit, in einer Zeit da die »Gesellschaft« nicht mehr der Träger des Geistes, nicht mehr ein von einem »Gott«, einer einheitlichen Grundkraft, durchwaltete leibhafte Weltordnung war, sondern ein Netz von Beziehungen, Zwecken und Interessen. Die sogenannte »Mechanisierung« ist das Zurücktreten der Götter aus der Zeit. Die Götter leben immer, doch nicht immer lassen sie sich in die Zeit ein.

Das Rokoko, dessen deutscher Vollender und Erbe Goethe war, hatte zum letztenmal eine »Gesellschaft« in diesem Sinne, einen sichtbaren »Geist«, einen die höchsten Gedanken wie die Gebrauchsgegenstände formenden eigenen Stil, Ausdruck eines einheitlichen Wesens, schon dünn und schwank, aber noch im letzten Flattern und Kräuseln zusammengehalten, bis in die feinsten Nerven durchblutet von einer[4] Mitte, einem Gott. Solange der »Gott« die zeitlichen Lebensformen durchdrang, geglaubt, gelebt oder gelitten wurde von seinem Menschenkreis, solange konnte der Dichter, der Träger der Weihe, ihn verkünden eben in den Formen dieser seiner Zeit .. er konnte Diener seiner Gesellschaft sein und zugleich des Gottes: denn beide waren noch nicht auseinandergetreten, hatten noch einerlei Schicksal. Noch Goethe war mit wesentlichen Teilen seines Werkes Erbe, Vollender, Ausdruck einer beseelten Gesellschaft. Hölderlin war schon Seher und Träger einer außerzeitlichen, übergesellschaftlichen Weihe und man hat ihn als Romantiker, als gesellschaftsflüchtigen Träumer oder als schönheitsseligen Festsänger mißdeutet. Er sah bereits den Untergang der Gesellschaft, d.h. die Flucht der Götter aus diesem Zeitkreis, und ahnte, die Augen auf ihren Weg gerichtet, ihre Wiederkehr in noch verhüllte Zukunft. Seinen Ruf nach dieser Zukunft hielt man für Klage um die hellenische Vergangenheit, der er seine faßlichsten Zeichen entnahm.

Die Romantik lebte in einer Zwischenschicht zwischen den ewigen Kräften und den Zeitzuständen, in der »Bildung«: sie wucherte auf den von Goethe, Herder, Kant begründeten Ordnungen üppig weiter, ohne mit ihren Wurzeln in den Grund selbst hinunterzureichen. Dies Schmarotzerhafte hat sie der gesamten Wissenschaft und Bildung des 19. Jahrhunderts mitgeteilt. Während Goethe die Götter selbst noch in seinem eigenen Zeitalter in ihren letzten Winkeln und Masken vernahm und kannte, während Hölderlin sie in ihrer überzeitlichen Heimat aufsuchte, betete die Romantik und die ihr folgende Bildung, unbefriedigt vom Zeitalter, zu den toten Götterbildern ihrer eigenen und der vergangenen Zeiten. Die Buchstaben worin die früheren begeisteten, durchseelten, gotthaltigen Zeitalter bis auf Goethe ihr Gesetz niedergeschrieben nahm sie für den Geist dieser Gesetze selbst. Die Verwechslung von erstarrten Buchstaben und flutendem Geist, der Kult der alten Formen, das ist die spätere, populäre »Romantik«. Der Historismus, der nur Vergangenes sieht, das Epigonentum, das nur Vergangenes treibt, sind ihre Erben, ohne ihre Höhe und ihr Feuer, mehr und mehr dem toten Stoff verfallend und den leeren Formen. Altertum, Mittelalter, Renaissance oder Rokoko – einst die verschiedenen Inkarnationen, die werdenden und »entwerdenden«[5] Leiber des wandelnden Geschichts-all-gottes – kehren als gespenstische Larven zurück, und ihre abgetragenen Kleider werden neckische Prunkkostüme für den Karneval der Schöngeisterei, vor deren Toren der zweckgefesselte Alltag schwitzt, bildlos, freudlos, geistlos, wortlos .. der »Fortschritt«, der Verkehr, die Arbeit, das »Zeitalter« an sich, mit stumpfem Gefühl der Leere, mit ungeduldigem Verlangen nach Betäubung, bei überhellem und überlautem Frohlocken der gigantischen Werkzeuge. Der öde Fasching hielt sich allen Ernstes für die Ergötzung und die Verklärung des Alltags: und der Alltag fand, wenn er überhaupt für Minuten aufsah und ausruhen wollte, keine Entspannung als den bunten Maskentanz aus allen Zeiten und Zonen, das wirre Geklimper aller möglichen Instrumente, das Variété, das leichtverständliche und leichtvergeßliche Potpourri der »allgemeinen Bildung«. Ein eigenes Wort hatte er nicht und verlangte es kaum, und so walzte man ihm die Worte der großen Ahnen zu Gemeinplätzen aus, bis sie ihm endlich selber stumpf und stumm wurden, bis er sie nimmer hören konnte (im doppelten Sinn). Nie war die Kluft zwischen dem wirklichen Inhalt des gelebten Lebens und dem Wort d.h. der Seelengebärde des Lebens, so unermeßlich wie in den Triumphjahren der Presse und des Verkehrs .. nie war die literarische Rede weniger Sache, weniger Blut, weniger Bild ... nie so ausschließlich Phrase, Funktion, leerer Lärm. Und dennoch hielten die Schriftsteller den Trug noch aufrecht, die Wortführer eben dieses Zeitalters zu sein, dessen einziger Anstand die stumme Mühsal, die karge Not und die ingrimmige Hatz war, das verbissene Warten und Bohren. Sowenig Goethes Worte als Goethes Gesten ziemten sich noch, und wer sie nachplapperte log sich und andre an.

Es ist das Verdienst des »Naturalismus« dies er kannt zu haben. In seinem besten und echtesten Streben (wir sehen hier immer von den privaten Begleiterscheinungen jeder Tendenz ab, der Profitgier und der modischen Mitläuferei) in seinem Grunde ist der Naturalismus der Versuch, dem Zeitalter der Arbeit, der Wirtschaft, der Wissenschaft sein eigenes Wort, seine ehrliche Stimme zu geben, seine Wahrheit. Denn was die Romantiker und Epigonen spielten, die »Schönheit«, ging keinen mehr etwas an: es war gewiß nicht von dieser harten und bösen, massigen und gierigen Welt, und es war auch[6] nicht von einer Überwelt die man hätte scheuen oder ersehnen können .. es war aus den Trödelbuden der Großväter, verspielt, bieder, flau, unerlaubt harmlos in seiner Anmaßung wie in seiner Bescheidenheit. Es war recht und not daß dies Zeitalter nach einem eigenen Wort verlangte wie nach eigener Luft und nach eigenem Raum. Denn erst das Wort erhebt eine Welt über das Chaos wie den Menschen über das Tier – tiefsinnig haben die Alten die heiligende Mitte ihres geistigen Daseins Mythos1 genannt. Es war redlich und sachlich daß man sich nicht mehr abspeisen wollte mit dem erhabenen Erbe Goethes und Schillers, sondern sich selber ein Gut erringen – und eben daran daß man mit diesem Erbe nicht mehr zu hantieren wußte, erkannte man das neue Bedürfnis. Man meinte nun alles getan und geheilt wenn man nur die durchdringendsten Geräusche der Gegenwart, besonders die wirtschaftlich-sozialen Schreie und Seufzer belauschte und aus den Werkstätten, Straßen, Kneipen, Bordellen, oder wo immer ihr Hall und Widerhall vernehmlich war, in die Bücher und Bühnen übertrug – wenn man aus der Not des Alltags die Tugend des Feierabends machte.

Hier kann nicht die Geschichte des deutschen Naturalismus geschrieben, nicht seine Theorie und Technik erklärt werden, zumal nicht sein Gemisch von Wohlfahrtsstreben mit Bosselei, von Weltbeglückung mit Reizsucht (denn gerade für sein eigentliches Publikum, die Premièrentiger der Großstädte, war die minutiöse Elendsmalerei lediglich ein neuer Kitzel) – genug, sein Ursprung ist, genau wie der des Epigonentums, Dienst an der baren Zeit, für die bare Zeit, aus ihr allein heraus, gleichviel ob er Sachen anhäufen oder Seelen ausweiden wollte, Soziologie oder Psychologie trieb. Das Wort das er brachte, der rechtschaffene Verzicht auf alle spielerisch verlogenen Schönheitsschnörkel, die unbarmherzige, etwas schulmeisterische Wiedergabe jeder Notdurft, bald um der Notdurft, bald um der Wiedergabe willen, die Verschiebung der sogenannten Wirklichkeit auf die[7] gesellschaftlich unteren Ebenen, die Übertragung naturwissenschaftlicher Gemeinplätze auf die Kunst, die mikroskopische Zerlegung des Stoffs und des Geschehens, die selbstgenugsame Nachahmung der unbefriedigenden Sachen – all das stand und fiel mit dem engsten Inhalt der Zeit und hatte keinerlei Haft, Grund und Würde in sich selbst oder in einer überzeitlichen Idee. Diese »Wahrheit«, diese »Natur«, diese »Menschheit« selbst waren nicht mehr Wesen, Summen eines menschlichen Seins, sondern Mittel des Darstellens, Gesichtswinkel, Zielsetzungen, kurz Beziehungen des Schriftstellers zu seinem Stoff. Gerade aus dem neuen Wahrheitsstreben ergab sich die fanatischste Zeitdienerei und damit bald ein um so grundsatzloseres Literatentum. Es gehörte ja gerade zur Aufgabe des Wahrheitsuchers, hinzuhorchen »auf den leisesten Pulsschlag« der Zeit, wegzuhorchen also von jeder inneren, ferneren, höheren Stimme. Es gab ja keinen höhern Herrn als die Wahrheit, und die war eines mit der vor-liegenden, sinnlich beschreibbaren, seelisch zerlegbaren Erscheinungsmasse. Und wenn die Zierlinge der Epigonenwelt wenigstens irgendein stehengebliebenes und darum wandelloses Wolkenkuckucksheim aus Vergangenheit, Ferne oder sittlicher Weltordnung als Boden ihrer müßigen Spiele festhielten, so liefen die Naturalisten immer stier besessen hinter dem verstockten oder zerfaserten Heut, hinter der wahllosen Dringlichkeit, hinter der zuchtlosen Nähe her und verloren an sie nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Wahrheit selbst. Wahrheit gibt es nur von einem unverrückbaren Maß, von einem ewigen Sinn aus, und so führt diese Art Wahrheitsuche zum völligen Relativismus. Das Zeitalter hatte zwar ein Wort gefunden, nachdem es den Lug des Epigonentums von sich abgetan: aber dies Wort war, von seiner Dürftigkeit und Häßlichkeit ganz abgesehen, keine Erlösung, keine Verewigung wie das Wort gotthaltiger Zeiten, es war nicht die Stimme des ewigen Lebens im Wandel. Kein »Mythos«, sondern ein sinistres Gespräch der Gegenwart mit ihrem eigenen Echo: sie vernahm immer wieder sich selbst, nicht den Grund der sie herauftrieb, nicht den Himmel zu dem sie schrie.

Wenn ich von »Epigonentum« und »Naturalismus« spreche, so fasse ich damit den Grundwillen dieser Richtungen zusammen, der sich nicht in »Meinungen« Weltanschauungen oder Leistungen einzelner[8] Autoren, und seien es Genies, bekundet, sondern in dem Gesamtzustand, dem Niveau der Sprache. Weil die Muttersprache der Träger der jeweiligen Gesamtseele eines Volkes ist, kann auch der größte gleichzeitige Genius des Auslands sowenig wie der größte Genius einer Vergangenheit oder der größte Meister der Musik und Bildnerkunst das Wort, den Mythos, den erfüllenden Ausdruck geben oder ersetzen. Das Fleisch muß Wort werden, und nicht bloß Klang oder Form, und jedes Fleisch muß sein eigenes Wort finden. Es hat nun im deutschen 19. Jahr hundert nicht an Genies gefehlt. Nicht das ist entscheidend, nicht das Vorhandensein oder die Zahl der Genies bestimmt den Wert, den Gott- oder Weltgehalt eines Zeitalters, sondern ihre Kraft einheitlichen Seelenausdrucks: dessen höchste Stufe ist einheitlicher Sprachgeist mit sichtbarer Mitte, von der aus in allen Graden und Lagen seine Bewegung als Rhythmus, als Tonfall, als Stil hinabwaltet, immer dünner, bis sie sich an den Rändern ihres Wirkungskreises verliert. Dies ist der tiefe Sinn von Georges Wort


In jeder ewe

Ist nur ein gott und einer nur sein künder.


Dabei mag der Künder ein Gründer oder ein Vollender sein, das Gesetz auflösen oder erfüllen. Jeder neue Gott schafft neue Sprache, daran erkennt man fast ob er ein Gott ist. Alle religiösen Genien sind Sprachschöpfer und alle Sprachschöpfer, auch die weltlich gesinnten, sind eine neue Feier und Weihe des Lebens überhaupt. Mit einem gewaltigen Ruck oder mit einer fast unmerklichen Umbildung haben die geistigen Erneuerer vor allem die Sprache ihrer Völker verwandelt – für Deutschland nenne ich nur Luther und Goethe. Nicht die besondren Gedanken, oder die neuartige Fragestellung, oder die Entdeckung eines frischen Stoff- oder Reizfeldes, nicht ein noch so erfreulicher oder kräftiger Charakter, oder eine außergewöhnliche Kunstfertigkeit geben einer Zeit die neue Sprache oder das neue Wort, überhaupt keine Eigenschaften des bloßen Genies, sondern zunächst die Herkunft aus einer neuen, bisher unerschlossenen Seelenebene, aus der Ferne, dem Jenseits aller bisherigen eingereihten und rückgewandten Ordnungen, aus einem die fertige Welt umlagernden Chaos. Nur neuer Weltblick wandelt unwillkürlich das Sagen. Darum sind, ihrer persönlichen und zeitlichen Sonderverdienste ungeachtet,[9] Genies wie etwa Hebbel oder Gottfried Keller abseitige Riesen innerhalb des Epigonentums, aber keine Befreier oder Verwandler: sie bedienen sich – mit mehr persönlicher Kraft und Lauterkeit vielleicht – durchaus der vom Goethischen Zeitalter übernommenen Sprache. Was bei Keller darüber hinausreicht ist nicht Sprachschöpfertum, sondern die dichte Frische eines abgeschlossenen minder ausgebeuteten Sonderwesens, des Schweizertums .. gegen Jeremias Gotthelfs massige, aber lokale Ländlichkeit erscheint er fast schon glatt und weich. Das Epigonentum haben auch die genialen Epigonen nicht erlöst.

Der eigentlichen Aufgabe des Dichters, aus neuer Ansicht der Welt neue Kraft des Sagens zu gewinnen, kommen im 19. Jahrhundert noch die drei großen Geschichtsschreiber Ranke, Mommsen, Burckhardt am nächsten. Wissenschaft liegt freilich immer schon innerhalb dessen was ein Zeitalter als letzte Wahrheit voraussetzt, während der Seher gerade der Verwandler dieser Wahrheit ist. Aber wenn man später aus der Vogelschau das deutsche Schrifttum der Epigonenspanne überblickt, werden Rankes Bilder der Reformation, Mommsens Römische Geschichte und Burckhardts Renaissance am ehesten etwas von mythischer Leuchtkraft behalten (unbeschadet ihrer wissenschaftlichen »Überholtheit«) während die Dramen, Romane und Gedichte selbst der begabtesten Schriftsteller längst nur noch die Psychologen oder die Literarhistoriker angehen.

Den Riß zwischen dem Zeitalter Goethes und der Zersetzung bezeichnet allerdings ein Genie, dessen Sprache eben als die Lautwerdung dieses Risses eine überpersönliche Bedeutung und Wirkung hat: Heinrich Heine. Er hat die letzten bald fiebrig gesteigerten, bald erschlafften Kräfte der sterbenden alten Welt noch einmal heraufgereizt und sie in den Dienst der Modernität, des bloßen Zeitalters gestellt, die Zauber der Goethischen Sprachhöhe am gierigen Heut erprobt und die Weihe dadurch zum Reiz gemacht. So ist er der Begründer des Journalismus geworden, des Tagesdiensts. Er ist das als voreilender Meister was seitdem unzählige als arme Sklaven sind: Journalist bis in seine Lyrik hinein .. während Goethe noch bis in seine Tagesarbeiten hinein Dichter, Träger der überzeitlichen Schau war. Ja selbst Voltaire, den man fälschlich als ersten europäischen Journalisten bezeichnet[10] hat, ist mit all seinen Aktualitäten der Vorkämpfer einer in seinem eigenen wie im Weltgefühl ewigen Ordnung. Er hätte den Ruhm Diener seiner Zeit und seines Volkes zu sein abgelehnt .. seine Aufklärung geschah noch von den Ideen, d.h. von der Ewigkeit her, nicht wie die Heines von dem Bedürfnis der Masse oder der »Persönlichkeit« aus .. und so ist Voltaires Sprache die letzte einheitliche glänzende Entfaltung des gesamtfranzösischen Stiltriebs, Heines Sprache eine reizende, aber hybride Mischung aus Elementen der Goethischen Seelenrede, der romantischen Traumtöne, der politischen Rhetorik Byrons und des französischen Salongeplauders: kurz verschiedener zersetzter europäischer Stile aus dem letzten Halbjahrhundert. Eben diesen europäischen Anklängen, dieser schillernden Unverbindlichkeit, die aus dem Mangel der Einheit den Reiz der Buntheit, die erste sprachliche »Poikilia« zieht, verdankt er, abgesehen von seiner Zeitnähe und seiner agitatorischen Grazie, das allgemein europäische Verständnis weit über Goethe hinaus: er stellt an das Ausland nicht die Anforderung, ihn aus deutschen Wurzeln zu begreifen. Die europäische Aktualität trägt und nährt sein Verständnis überall wo und solange der »Fortschritt« noch währt. Seine Flachheiten und nicht seine Tiefen, nicht seine deutschen und jüdischen Qualen, machen ihn beliebt.

Für die deutsche Sprache ist er der verhängnisvolle Erleichterer, Vermischer und Verschieber geworden. Erst seit Heine kann jeder von Dingen reden die über seinem seelischen Bereich liegen. Er hat die Wendungen der Weihe, des Glaubens, des Meinens und des Zwecks, des Strebens und des Forderns, der Erschütterung und des Getändels, die noch bei Goethe durch eine immanente Wertordnung geschieden waren, durcheinander gebracht und den Sinn für Gewichte ersetzt durch den Sinn für »Nuancen«. Er hat dem Ladenschwengel den Ton des Priesters ermöglicht, dem Redner die Lyrik, dem Bänker die Salbung. Er betritt viele Ebenen nach Willkür und zerstört damit jedes Niveau. Nicht ein neues Niveau der Sprache hat er geschaffen, wie Nietzsche, der bei der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Töne doch nur eine Höhe und Tiefe hat (gleichsam den Generalbaß), eben weil er den archimedischen Punkt außerhalb seines Blickfeldes besitzt. Heine beginnt, und das ist keine kleine Leistung, die Anarchie der deutschen[11] Sprache .. was bei ihm noch Virtuosität, Vergeudung eines geerbten Reichtums ist das wird bei seinen Nachfolgern Ohnmacht und Bankerott. Was bei ihm noch Mischung ist wird nachher Durcheinander. Vor allem aber: er hat keine neue Idee seines geschichtlichen Augenblicks, sondern nebeneinander das Neuheidentum Goethes als Gesinnung ohne Leib und Haltung, das protestantische Judentum als Pathos ohne Ethos und die französischen Revolutionswünsche als Ziele ohne Glaube. Das Nebeneinander dieser Ideen, die Möglichkeit dieses Nebeneinanders ohne Verschmelzung, das ist sein Neues, seine Verführung. Die reizbare Seele die all das balanzieren konnte und das Leiden, die Spannung, die Wollust so vieler Widersprüche: das hat er in die deutsche Sprache gebracht. Diese Seele gehörte ihm allein, Stil konnte sie nicht schaffen, wohl aber durch ihren Reiz zur Buntheit und Splitterung vieler Stile verlocken .. nicht ihre Substanz weiterstrahlen in dünnere Medien, wie die Sonne Goethe, nicht ihre Erschütterung einblasen in schwächere Seelen, wie das Gewitter Nietzsche, sondern ihre Beziehungen, entweder Techniken oder Richtungen, vermitteln. Vor ihm gibt es wohl niedrige und leere Sprache als Ausdruck niedriger und leerer Gesinnung, platter Gedanken, stumpfer Gefühle, aber erst seit Heine gibt es in Deutschland Worte ohne Werte aus allen seelischen und gesellschaftlichen Schichten. Auch damit leitet er, ohne selbst Epigone zu sein, das Epigonentum, die zwecklose Maskerade ein, wie er den Journalismus eingeleitet, die unsachliche geschmückte Zweckrede – das Feuilleton, den Leitartikel .. das raumlose, maßlose, bodenlose Wort.

Der Naturalismus hat dann von vornherein die Sprache nur als notdürftiges Mittel der Zeitnachahmung gekannt und selbst auf die Fiktion verzichtet, als habe sie eine Weihe von dem »Ideal« her – verzichtet zugleich auf alle Reize und Spannungen die ihr Heine gegeben. Wenn dann seine Führer sich später wieder der gehobenen Ausdrucksweise beflissen, den Vers wieder pflegten und ihre Stoffe aus der Ferne holten, so war diese »Neu-Romantik« schon die literarische Wirkung und Spiegelung und zugleich ein Mißverständnis des Geistes der mit Friedrich Nietzsche und Stefan George sich angekündigt hatte. Die »Neuromantik« verhält sich dazu genau wie das Epigonentum sich zum Geist und zur Sprache des Goethischen Zeitalters[12] verhält: sie nahm als Kostüm, als Theater und Reizmittel, oder als Meinung und Gefühlsweise, als Gewürz der Gegenwart, als eine neue »Sehnsucht«, als »Individualismus« – d.h. als unverpflichtende Ergänzung des zeithaften Massendienstes, was der Beginn einer Überzeit war, eines Jenseits von »Gut und Böse«, Jenseits von Masse und Persönlichkeit: das Wiedererscheinen des welthaften Menschtums. Doch davon später!

Nur müssen wir kurz verweilen bei den Gegenwirkungen des Zeitgeistes auf diesen Einbruch: bei seinen Mißverständnissen, Anpassungen, Rückfällen. Denn woher auch der neue Geist kommen mochte, in dem Augenblick da er auf der Ebene des Zeitalters erschien, mit ihm zusammentraf, begann außer dem notwendigen Widerstand auch sofort seine Verarbeitung, Umdeutung und Einsaugung. Jede Kraft und jede Gestalt, was sie auch sein mag, ist durch ihr bloßes Erscheinen ein Element des Zeitalters dem sie erscheint – durch ihre Umrisse, womit sie auch gefüllt sein mag, hebt sie sich dem vorgefundenen Raum ein und ab, schafft und erleidet Grenzen. Der Naturalismus, der um 1890 seine Stunde hatte, war die folgerichtigste und ehrlichste Form des Zeitdienstes. Dieser Zeitdienst hatte zwei verschiedene Antriebe: die Reizsucht und die Nutzsucht, oder – um es mit den pathetischen Schlagworten zu sagen: Individualismus und Sozialismus: der eine das Wohl des Einzelnen, der andere das Glück der Gesamtheit erstrebend (wobei Zweck und Mittel beider oft vertauscht und vermischt werden). Auf die Einen wirkte nach den schalen historischen und romantischen Gemütlichkeiten das Harte Böse selbst Ekelhafte als neuer Stachel, und diese »Wahrheit« war ihnen ein pflichtloser Kitzel, halb Grusel halb Wollust. Den Andern war die Wahrheit ein sozialer Mahnruf. (Der französische Naturalismus, die Madame Bovary Flauberts hat ästhetischen Ursprung .. der nordische, etwa Ibsens Gespenster, ethischen: im deutschen vermischen sich beide Tendenzen, z.B. Gerhart Hauptmanns Weber.)

Auf diese beiden Empfänglichkeiten traf nunmehr die neue Sprache Georges: denn zunächst wurde er nur bemerkt als ein neuer Sprachtechniker, als der Bringer seltener gewählter Worte, feierlicher Tonfälle und – von den Belesenen – als der Vermittler der romanischen Stimmungskunst. Zuerst reagierte die immer neugierige Reizsucht[13] darauf und berauschte sich an den Mitteln und Flächen Georges ohne irgend nach dem Grund zu fragen. Dieselbe Menschenart die gestern sich an dem Elend der schlesischen Weber geweidet hatte fand jetzt Geschmack an den Prächten des Algabal. Kein neues Wesen, sondern eine neue Mode ergab sich aus der Berührung des neuen Mittels (Mediums), der gehobenen und dichteren Rede, mit der zeithaftigen Reizsucht: diese neue Mode ist das sogenannte »Ästhetentum«. Vor dem Epigonentum hatte es voraus die größere Buntheit und Spannung der Sprachmittel, die gewandtere Technik und den auch vom Naturalismus geschulten Blick für die Dinge, für sachliche Einzelheiten, das Getast für Maser und Stoff. Vor dem Naturalismus hatte es voraus den weiteren seelischen Spielraum, es war nicht nur auf den vordersten Alltag beschränkt, sondern konnte die Fernen jeder Art als Schmuck und Kulissen benutzen. Es hatte Auswahl und Wähligkeit, d.h. Geschmack. Dem Epigonentum wie dem Naturalismus stand es nach an Ehrlichkeit: jene beiden glaubten an ihre Zeichen, der Ästhet will mit ihnen nur wirken. Das Ästhetentum ist ein weiterer Schritt zur Entwertung aller Inhalte, zur Lüge und zwar zur zweck- und nutzlosen Spiel-lüge geworden. Nicht zufällig trifft zeitlich das epidemische Auftreten der Pseudologia phantastica mit der Blütezeit des Ästhetentums zusammen. Das Ästhetentum hat die Sprachmittel und -scheine jeder Erhebung, Ferne, Ergriffenheit schauspielerisch verwendet, um zu reizen, ohne den seelischen Gehalt und Boden, ohne den dazu gehörigen Glauben und Gott. George als Schöpfer oder Bringer dieser neuen Mittel galt für den Begründer des Ästhetentums, dessen deutscher Meister und Vollender Hugo von Hofmannsthal ist: von diesem aus ging es dann in die Bildungsschriftstellerei, auf Presse und Theater über. Wegen der Mannigfaltigkeit seiner Stoffe und Techniken ist das Ästhetentum weniger eindeutig als der Naturalismus .. aber ob neuromantisch oder neuklassisch, romanisch oder exotisch oder russisch und nordisch gefärbt, ob Seelen- oder Raum-poesie, ob dekorativ oder musikalisch: gemeinsam ist all seinen Schillern der Ursprung aus dem Reiz und die glaubenslose Handhabung der Mittel und Stoffe.

Den längsten Widerstand hat Georges Kunst – als »Wortkunst«, »Mystizismus«, »leerer Formalismus« – gefunden bei den redlich[14] Nutzsüchtigen: den fanatischen Dienern des Zeitgeistes, mochten sie den »Fortschritt der Menschheit« oder die »Entwicklung der Persönlichkeit« erstreben. Diese konnten sich mit dem eigentlichen Ästhetentum noch eher abfinden insofern es »ins Leben ging« wie der technische Ausdruck dafür lautete, d.h. sich der üblichen Fortschritts- und Entwicklungsgeräte, des Theaters und der Presse, bediente, insofern es Geschäfte machte und rasche Erfolge suchte, insofern es den Massen entgegenkam und entsprach. Als alle Ästheten außer George »ins Leben gingen«, erschien seine unnachgiebige Abseitigkeit als das »Ästhetentum« schlechthin: denn auch hier sah man im Abseitigen nicht das Drüber und Jenseits das ihn füllte, nur das Anders wodurch er sich abhob.

Dies änderte sich zuerst, als George etwas zu wollen und mit den Zeitgedichten sich an der Gegenwart, gleichviel ob freundlich oder feindlich, zu beteiligen schien. Gleichzeitig trafen die Reize ohne Geheimnis und Gehalt auf immer stumpfere und gierigere Gaumen, die das arrivierte Ästhetentum zu immer schnellerem Wechsel der Modeschüsseln nötigten. Ein neues Mißverständnis begann und erweiterte Georges Wirkungszone in der Zeit: man begann ihn als »ethischen Willen« oder als »religiöses Erlebnis« zu nehmen, d.h. als eine Bereicherung der Zeitinhalte um ein neues Streben oder um eine neue Innerlichkeit. Das Schlagwort vom »neuen Pathos« kam auf, der Vorläufer des »Expressionismus«. Auch jetzt wollte niemand die gewohnte Zeit-ebene, die einzig vorstellbare, verlassen, niemand den ganzen Menschen wandeln, auch jetzt begnügte man sich mit einer Umlagerung der vorhandenen Seelengewichte oder mit einer heftigeren Gebärde des Genießens und des Forderns. Das neue Pathos nahm in sich auf die mißdeutete Gesinnung Georges und das Ästhetentum wie dieses den Naturalismus und die mißdeutete Sprachzucht Georges aufgenommen hatte: all diese Elemente mischten sich jetzt darin und kamen in verschiedenen Dosen bei seinen einzelnen Trägern zum Vorschein. Die einen ballten in Georgischen Tonfällen (hauptsächlich aus seinem Baudelaire) qualvolle und widrige Bilder um der Bilder willen, andere benutzten die Bilder und die Tonfälle zu sozialen oder politischen Manifesten, andere lockerten die neue Gespanntheit zu süß schwelgender Seelenvergötzung oder Dingverinnigung oder[15] blähten die neue Schwebe zu slavischer, menschheits-wütiger Mitleidsemphase. Innerhalb des »neuen Pathos« können wir mehr zielstrebige und mehr beschauliche Tendenzen unterscheiden, »aktivistische« oder »mystische«. Gemeinsam ist ihnen, zum Unterschied vom Naturalismus, die gepflegte Form und die Heftigkeit des Sagens (sei es Innigkeit oder Ausbruch), zum Unterschied vom Ästhetentum die grimmige Lust am Gegenwärtigen und am Wilden Lauten Jähen. Gemeinsam mit Naturalismus und Ästhetentum ist ihnen die Entstaltung nach außen durch Ziele oder nach innen durch Triebe .. die Zerlösung der Formen in Seele- oder Stoffbrei, der Mangel an Grenze, Maß und Mitte, an umwölbender Welt und festem Herzen, die zügellose Hingabe an jedes äußere oder innere Anders, die bald als Weltfreundschaft, bald als Gottsuche, bald als Menschheitsdienst verbrämte Zeitfron und Selbstflucht (oft bei schmatzendem Ich-genuß). Ein überzeitlicher Kosmos, ein »Gott« wird nun und nimmer erstrebt oder erlebt, sondern geschaut und gelebt – und dazu gelangt kein Seelenschwelger, kein Zielsüchtiger, kein Dingesammler und kein Geschmäckler.

Sie alle sind verbunden durch die Wahllosigkeit gegenüber den Reizen, den Wirrwarr der Werte und die absichtliche oder unwillkürliche Mischung der menschlichen Ränge und Stufen. Nicht zufällig verherrlichen einige das Aas, denken sich andere ins Ungeziefer, alle in Sachen hinein – und mit Wollust wühlen die meisten bald in untermenschlichen bald in außermenschlichen Zuständen, mit animalischem Stofftaumel, amerikanischer Maschinen-romantik, abstrakter Menschheitsumarmung: lauter Erregungen die nicht verpflichten, Hingebungen die nichts heischen, bloße Wallungen im Dumpfen und Rufe ins Leere. Alle meiden sie geflissentlich die besondere menschliche Gestalt im bedingten Raum und mit dem unabdingbaren Gesetz. Den Willen kennen sie nur als Trieb oder als Programm, die Liebe als weiches Mitleid mit der beliebigen Kreatur, als Geilheit oder als Utopie, die Leidenschaft verwechseln sie mit der Aufregung oder mit dem Fanatismus, die Ehrfurcht mit dem Begeistertsein und die Frömmigkeit mit der Wallung, dem Untertauchen und Hinfließen. Durchgehends trachten sie nach dem Glück, d.h. nach Aufhebung des Schicksals durch Einzelgenuß oder Allwohlfahrt, nicht nach dem[16] Werk, der Erfüllung des Schicksals durch Sein, Tun oder Bilden. Von allen Existenzen ist nur eine ihnen durchaus zu wider: der heroische Mensch: sie können ihn nur als Kranken oder als Unternehmer erklären. Dagegen wird ein besonderer Kult getrieben mit dem Weib, dem dumpfen Fleisch, und mit dem Heiligen, der puren Seele: beides die menschlichen Pforten ins Außermenschliche, sei es hinunter ins vormenschliche Chaos, sei es hinaus ins nachmenschliche Nirwana.

Fragen wir nach dem einen Grundwillen dieser Zeichen, so heißt er: weg vom leibhaften, gottgestaltigen welthaltigen Menschen! »Weil die dünne Lymphe Gottes Kraft nicht mehr erträgt«, weil dem geschwächten Blut das menschliche Leibgesetz zu streng wird, strebt es vom europäischen Menschen der ewigen Gestalt hinweg entweder zum tropischen Pflanzentum der unbedingten Ruhe, zum exotischen Tiertum der heißen Einfalt, zum russischen Seelentum der ausschweifenden Wallung, zum amerikanischen Maschinentum der sensationellen Wohlfahrt, zum Chinesentum der alt-klugen Wohlfahrt, zur Allerweltsmenschheit worin alles gilt und nichts mehr west. Diese Welten – in ihrer Stätte und Stunde richtig und sinnvoll – sind für wurzellose Europäer nicht »Welten« sondern Reize, Wähne, bestenfalls Gleichnisse ihrer unruhigen Selbstflucht inmitten der rollenden Zeit. Ihr eigener Boden ist ihnen verloren und darum wird auch die beste Fremdwelt sie nicht wurzeln lassen, und kein Gott wird aus dem Tanz um gewesene Götter entstehen: es bleibt beim naschhaften Erlebnis, meist beim bloßen Erlebenwollen. Eine Unmenge Anregungen, Aufregungen, Betäubungen, Entzückungen einerseits, eine Unmenge Forderungen, Bestrebungen, Verheißungen und Utopien anderseits: »Fülle fehlt«, weil gerade die eine Stufe übersprungen oder ausgefallen ist die all das halte und binde: der leibhaftige Mensch. Darum zwar Rudel von Talenten, von Könnern, Wissern, Fühlern, Träumern, Leidern, aber keine Ächtheit und Größe, und meist bei bunten Virtuositäten der Seele und des Hirns eine gewisse Öde des Wesens. Niemals hat es so gewimmelt von aufgeblasnen Schulmeistern, verrückten Pfaffen, phrasentrunknen Hochstaplern, von Poeten und Profeten wie Nietzsche sie zeichnet: Leuten »die von allen Möglichkeiten der Größe, auch der sittlichen Größe, zu strotzen scheinen und es dabei im Leben nicht einmal bis zur gewöhnlichen Rechtschaffenheit[17] bringen«. Maß-lose, im eigentlichen Sinn maßstab-lose Eitelkeit und Verlogenheit ist nicht mehr ein Charakterfehler Einzelner, sondern naturnotwendige Eigenschaft eines Geschlechts das nicht den Menschen will, sondern das Chaos, das Atom, das Nirwana. Denn nur vom Menschen aus gibt es ein Maß der Größe und der Wahrheit, gibt es Götter und Werte hinauf und hinab.

Mag jedes Zeitalter sich anders nach den ewigen Sternen richten: das pure »Zeit«alter, unseres, ist das erste das die Aufhebung aller Maßstäbe theoretisch wünscht und praktisch betätigt. Nicht die Umwertung der bisherigen Werte, sondern die Entwertung aller Werte: der »absolute Relativismus«. Nicht kühne Neuerer und folgerechte Verbrecher wollen das, sondern Quallen und Wellen, und die sind diesmal nicht wie ehedem die Nachzügler und Mitläufer, sondern die Vorläufer des Zeitgeistes, sein vorgeschrittenstes Stadium. Das ist etwas neues in der Geschichte, wie zum erstenmal in der Geschichte ein Zeitgeist, das Fließen, das Abrollen, die Beziehung, der Fortschritt sich als Welt und Gott genommen hat. Zum erstenmal ist Beziehung das einzige Wesen. Für jeden der dies bejaht ist das Quallentum das bloße Schwabbeln und Wohinfließen auch die Erfüllung. Der Fortschritt zu immer überholbaren Zielen, der Genuß immer wechselnder Reize, das »Pathos« als Sensation, das »Erlebnis« als Lebensgehalt, das sind nur notwendige Vorstufen der Entwertung, wie es notwendige Folgen der Verzeitlichung und notwendige Formen der Entmenschlichung sind.

Der »pfeilgerade Willen« führt notwendig in das »Nichts«. Der Mensch der die wandelnden, werdenden, weder starren noch vergänglichen d.h. überholbaren Gesetze lebt, der allein schafft Kosmos, der allein kann ihn erleben: und dieser Mensch ist nicht wie Münchhausens Bohnenranke, auch nicht Münchhausens Zopf, sondern er ist eine Kugel mit wachsendem, mit strahlig weitergreifendem Umfang bei immer gleicher Mitte, immer gleicher Form, d.h. immer gleichem Gesetz, wie sehr auch immer neues Chaos ihr einbezogen werde. Wer aber statt dieser ewigen Kugel die zeitliche Flugbahn, die Fortschrittsbahn will, statt des Menschen irgend ein Ziel des Menschen oder den Weg zu diesem Ziel, der verliert notwendig mit dem Menschen so wohl Ziel als Weg. Das ist die Entwicklung die der europäische[18] Geist mit immer wachsender Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert genommen hat. Es begann mit dem Glauben an ein in der Zeit zu verwirklichendes Ziel, dann wurden die Mittel dazu selbständig, dann der Weg selbst.

Wir haben das deutsche Schrifttum bis zum Krieg nur als das uns zunächst angehende Zeichen dieses Hergangs betrachtet, um nachher Georges Sinn deutlicher zu begreifen: der ist einfach genug, aber schwer vorstellbar denen die in den Gedanken und Gefühlen des puren Zeitalters verstrickt sind, die pfeilhaft denken statt kugelhaft – gleichgültig ob sie Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft oder bloße »durée« wollen .. sie wollen Zeit und er will den Menschen: das Maß, nicht das Geschöpf der Zeit. Es mußte einmal der Zeitpunkt kommen da die Menschflucht nach außen zu immer leereren Zielen, die Menschflucht nach innen zu immer feineren, wilderen, dunkleren Reizen sich selber vernichtete, in ihren eigenen boden-losen Ab-grund starrte .. da alle Teleskope zur Menschheit oder zum Chaos oder zum Nirwana hinaus, alle Mikroskope in die Seele, in die Nerven, ins Geziefer hinein nicht mehr das schauderhafte Ungenügen stillten. Der Stolz auf Errungenschaften war schon länger erschüttert, aber man mußte zwangsläufig weiter erringen. Noch betäubte man sich an primitiven exotischen, möglichst entlegenen, möglichst unverpflichtenden Fernzaubern, solange noch irgendein unangetatschtes Abseits zu entdecken schien – Altägypten, Frühchina, Gilgamesch, Neger, Maya .. all das nicht mehr als Wissenschaft, Historismus, sondern als Verkindung, als Narkotikum. Nur möglichst weg vom eigenen Sein, denn man ahnte das Loch das da gähnte.

Der Krieg hat dies Loch endlich vielen gezeigt, und nun erscholl bei vielen der Schrei: los von den Mitteln! los von den Stoffen! los von den Zielen! ein ganz neuer Beginn muß geschehen, ein innerstes Werde, ein Ur, ein Ansich, ein utopisch unbedingter Grund der nichts mehr mit den Gründen und Dingen des Zusammenbruches zu tun hat .. wir müssen mit dem anfangen was wir jetzt ganz sicher haben! Und nur zwei Dinge hatten sie ganz sicher: das Loch und den Schrei. Dies ist (zurückgeführt auf seinen ehrlichen Ursprung und entlaust von modisch gesindelhaftem Mitläufertum) der Expressionismus. Er gehört ganz wesentlich zum Krieg und ist nicht seine[19] Folge, sondern das geistige Symptom derselben Krise deren weltliches Symptom der Krieg ist – wie dieser durch mancherlei Vorboten angekündigt und wie dieser umlagert, gemengt und beschmutzt mit vielen Resten und Trümmern seiner Vorschichten und Vorgeschichte. Er ist ein gewaltsames Aufbäumen des beraubten nackten und zerschlagenen Zeitgeistes gegen seine bisherigen Täuschungen, zunächst ein rasendes »Nicht mehr das!«, ein entlastendes Geheul, Schluchzen, Stöhnen, Hilfe- oder Ermunterungsrufe Ertrinkender und verrücktes Gelächter. Kein Zufall, daß der Schrei schlechthin als Erlösung gelten soll!

Auch diese Opfer des Zeitwahnsinns haben keinen archimedischen Punkt, auch der Schrei, der Ausbruch, der Ausdruck schlechthin gehört durchaus zur Zeit und die Zerschlagung der Sprach- und Formgefüge schafft noch keinen einzigen neuen Laut. Darin nun gehören die Expressionisten mit all ihrer Anfangswut, mit allem programmatisch tobenden Utopismus durchaus zu der zertrümmerten Zeit, daß auch sie nicht »den Menschen« wollen – alles, nur nicht den Menschen! sondern abermals entweder die »Menschheit«, (diesmal nicht als Gesellschaftszustand sondern als Seelenlage) oder den »guten Menschen« d.h. die Qualle, oder den Schrei in Permanenz, die Revolution um der Revolution willen, das Chaos: kurz, die meisten Ideale des Fortschritts, ihres Fortschritts-charakters ledig als bedingungslosen »Ausbruch«. Aktivismus, Mystizismus, Ästhetentum fallen hier zusammen, Reizsucht und Nutzsucht sind aufgehoben in einem einzigen ziellosen Ausdruckstaumel, der zugleich die Notdurft befriedigen, das Herz entlasten und das Heil bringen, vielmehr vorwegnehmen, bedeuten soll. Der Schrei ist zugleich tierische Regung, politisch soziales Programm und geistige Spannung. Man schreit nach dem Unerfüllbaren, nach der Utopie, weil das Schreien selbst schon Entladung, Erlösung ist, ganz gleichgültig wonach man schreit. Man zerschlägt die Sprache in ihre alogischen, augenlosen Kleinteile, in ihr vorgeistiges Kinderlallen, weil dies Zerschlagen selbst schon etwas »ausdrückt«.

Was auf bloßem Zweck oder Trieb beruht wird mit irgendeinem Selbstzweck oder Selbsttrieb enden, d.h. in der Atomisierung .. das Atom ist das Unzerlegbare: drum nimmt es sich leicht für den Anfang,[20] doch es ist das Ende. Jeder Fortschritt an sich läuft endlich ins bloße Fort und ins bloße Geschreite aus .. jede Zielerei endet im Tanz der Atome durcheinander oder im Kreisen der Atome um sich selbst. Der Expressionismus schafft keine Keimzellen des neuen Lebens, sondern zeigt die Atome des alten. Und wenn einige Ältere kopfschüttelnd wohlwollend sagen, man müsse abwarten was daraus werde, so ist auch das fortschrittlich gedacht: der Mensch ist immer am Ziel, die Zeit und der Fortschritt nimmer und »was ihr heut nicht leben könnt wird nie«.

Der Expressionismus leugnet das was ihm hier nachgesagt wird gar nicht sondern bejaht es .. auch ist es eine Feststellung, keine Anklage. Es ist kein Vorwurf Atom, Dauer-säugling, Qualle zu sein: es sei denn, man beanspruche was anderes und das Einzige zu sein. Berechtigt ist durchaus der Anspruch des Expressionismus die vorgeschrittenste heutige Menschheit auszudrücken, den Endschrei des »Zeit-Alters«, und mit Fug blickt er auf Naturalismus und Ästhetentum als auf altmodische Vorstufen und Hemmnisse herab. Wer den Fortschritt und das Zeitalter will der muß ehrlicherweise auch seine Letztlinge wollen: das programmatische Säuglingslallen ist das »letzte Wort« (le dernier cri) des bloßen Zeitalters, und die vorletzten Worte haben keinen Grund zu mildem Lächeln oder zur entrüsteten Abwehr. (Ich rede von dem Willen der diese Geisterwelle treibt, nicht von den privaten Meinungen und Motiven einzelner Personen. Es gibt hier wie überall bloße Dummköpfe und schlaue Literaturschieber, Prinzipienreiter und Schmöcke, Interessenten und Opfer. Ich wäge hier nicht persönliche Verdienste und Leistungen ab, sondern die Bewegungen der Zeit, gewissermaßen eines einzigen Wesens. In jedem heutigen Schriftsteller ist vielerlei Erbschaft und keiner ist mit seinem ganzen Werk der chemisch reine Ausdruck seiner eigenen Richtung, diese wallt über die Privatpersonen hinweg, in ihnen, mit ihnen, durch sie, wie der Sturm durch Wellen. Man klage also nicht über Unbilligkeit gegen einzelne vortreffliche Köpfe, wackere Herzen, gute Leistungen – darum handelt es sich hier nicht .. nicht um die hundert Iche, sondern um das eine Es. So rede ich auch nicht von den Handwerkszeugen und Bedürfnisanstalten des Zeitgeistes: Theater, Presse und Lichtspiel, von den Mitteln Lyrik, Roman, Drama, nicht von den[21] Kunstfertigkeiten Einzelner in der Benutzung dieser Mittel – so wenig ich beim Blick auf die Mechanisierung der Welt jedem genialen Erfinder und Mechaniker gerecht werden kann: Verdienste innerhalb der Zeitmittel bleiben ungeschmälert und unberücksichtigt, wo der große Kampf des ewigen Menschen gegen die fortschreitende Zeit in Frage steht. Virtuositäten sind freilich fast der einzige Ruhm den die verschiedenen Vertreter der wechselnden Stadien beanspruchen und den man irrigerweise George selbst zugebilligt hat. Angesichts jenes Kampfes ist es müßig, heute noch von geschickten Dramatikern, Lyrikern usw., von einer neuen Psychologie oder Verstechnik Aufhebens zu machen. Fortschritte des Bühnenwesens sind so gleichgültig, so wünschenswert oder beklagenswert wie Verfeinerungen des Hotelbetriebs. Es handelt sich nicht mehr darum was auf der alten Ebene Neues, Gutes oder Schlechtes geschieht, sondern darum auf welcher Ebene sich fortan das Leben abspielt.)

Hierin ruht zunächst, von dem Ausmaß und Umfang seines Wesens abgesehen, Stefan Georges geschichtlicher Sinn: er allein beherrscht heute die neue Ebene die Nietzsche zuerst wieder sah, die Ebene des ewigen Menschen, nicht die der modernen »Menschheit«. Er allein hat den archimedischen Punkt außerhalb des Zeitalters, und sowohl sein Anders-er scheinen als sein Wirklichsein, sein Lockendes und sein Drohendes kommt heute daher. Er wird heute erst allgemeiner sichtbar, ja verständlich, da die bloße Zeit nicht mehr weiter weiß. Wenn jetzt wieder vom »Kosmischen« d.h. von einer übergesellschaftlichen, außerzeitlichen Lage die Rede geht, wenn der Expressionismus nach einem Ansich, nach urtümlichem Ich verlangt, so entnimmt er dabei (wohl unwissentlich) die Zeichensprache für seinen eigenen Endschaftswirbel abermals dem mißdeuteten Bereich Georges. Nicht durch seinen höheren Grad innerhalb der modernen Welt, durch sein höheres Können ist George wichtig, sondern durch ein Sein das ohne ihn verschollen oder sagenhaft bliebe. Er allein hält heute den lebendigen Zusammenhang mit der wesenhaften Vorwelt aufrecht, in seinem Blut, seiner Gestalt und seiner Schau .. nicht durch Gedächtnis, Romantik und Pietät, nicht durch rückgewandte Bewahrertreue, starre Orthodoxie, Träumersehnen und Trümmerwehmut, Gelehrtenaltgier und Ausgrabungszärtlichkeit. All das gibt es genug und es[22] soll nicht gescholten werden: doch nur George hat heute den lebendigen Willen und die menschliche Wesenheit die zuletzt in Goethe und Napoleon noch einmal Fleisch geworden, die in Hölderlin und Nietzsche zuletzt als körperlose Flamme gen Himmel schlug und verglühte. Er hat nicht ein klassizistisches Streben, sondern er ist eine antike Natur, er ist Katholik nicht durch Glauben oder gar aus Geschmack, sondern durch Geblüt: er bewahrt die ewigen Kräfte die geschichtlich bisher in klassischen und katholischen Gebilden erschienen sind, in der heutigen noch unbenamten Form. Wir bedienen uns der geschichtlichen Namen nur als annähernder Chiffern, um ihn zu verdeutlichen und abzugrenzen gegen das eigentlich »moderne«, aber es wäre ein ebensolches Mißverständnis ihm die Wiederholung der geschichtlichen Niederschläge »Antike« und »Mittelalter« zuzuschreiben wie den Willen zur »Modernität«. Nochmals, soweit solche Dinge formulierbar sind: er will das Ewige im heutigen Kairos, nicht eine edle Vergangenheit und nicht eine zeitgemäße Neuheit. Er will, das heißt nicht: er erstrebt o der fordert oder möchte als etwas das ihm fehlt, sondern er entwirkt es als etwas das ihn treibt, von dem er besessen ist – nicht wie das Tier Futter will, sondern wie die Blüte Frucht will und die Idee Erscheinung. George ist uns das Zeugnis einer Welt die war und von der wir ohne ihn nur historisch wüßten, d.h. fruchtlos – denn »Luft die wir atmen gibt nur der Lebendige«. Er verheißt in dem er vergegenwärtigt ein Es das heraufkommt, wie jedes Exemplar einer Pflanze eine ganze Flora und ein ganzes Klima mitankündigt für den Boden worin sie wächst.

Davon wird dies Buch noch handeln. Hier sollen zunächst nur einige Grundzüge genannt sein die George von seiner ganzen Zeit abheben: sie eignen ihm nicht als einer besonderen Spielart, als Gaben des Sonderlings oder Tugenden des Genies, sondern als Normen eines Menschtums das einst das weltgültige, dann das welterneuernde und bis an die Schwelle unserer Zeit das welthegende war, von dem er aber heute das einzige sichtbare Beispiel ist. Nennen wir es eben der Kürze halber das antikische, doch unter Abwehr jedes klassizistischen Beigeschmacks! Beinahe alle moderne deutsche Genialität von Luther angefangen enthält den Zwiespalt zwischen Streben und Sein, Schicksal und Leben, Ideal und Wirklichkeit, Gott[23] und Seele – oder wie immer man ihn formulieren mag – ja, sie geht oft aus diesem Zwiespalt hervor und die eigentlichen Triumphe des modernen Geistes bestehen in der Unterdrückung des einen von Beiden oder in ihrem Ausgleich, in ihrer Aus-einandersetzung .. Mit dem Ringen und dem Segen seines ganzen Lebens ist Goethe schließlich dahingelangt die Einheit wieder in sich herzustellen, und das deutsche Weltgedicht, der Faust, ist das Denkmal auch dieses Ringens. Nietzsches Lehre ist ein Versuch in der Menschheit diese Einheit wieder zu erzwingen die er in der eigenen Seele nicht besaß. Es ist die christliche Erbschaft – und in ihr liegt der Keim des »Fortschritts« .. Der war jahrhundertelang noch unterirdisch und umschlossen von der langsam absterbenden Antike und dem langsam reifenden Katholizismus, der die schwerkräftig-sinnlichen, weltwölbenden Elemente der Antike rettete. Erst mit der deutschen Reformation wurden jene sprengenden Kräfte übermächtig, und das Streben nach Erlösung, nicht mehr umzirkt und gebändigt von der irdisch erreichbaren Heilsanstalt einer Kirche, selbständig, die Kluft zwischen dem gelebten oder lebbaren Da-Sein und der göttlichen Forderung unüberdrückbar .. und erst jetzt begann hemmungslos – unter selbstverständlicher Voraussetzung daß das wie auch immer Gegebene kein Heil sei – die Jagd nach dem Heil, bis die Jagd schließlich Selbstzweck wurde und sich der Jäger überall das Heil versprach, nur nicht in seiner eigenen Haut und Stätte.

Die Suche nach Erlösung und die Sucht nach Gütern, nach dem einen Unendlichen und nach tausend Endchen sind (bei verschiedener Richtung) desselben geschichtlichen, ja seelischen Ursprungs: aus der modernen Unwirklichkeit, Unerreichlichkeit, Ungreifbarkeit Gottes, des Ideals, des Heils usw. Dies moderne Suchen, ohne das man sich den höheren Menschen gar nicht mehr denken kann, hat man auch in die Antike, z.B. in Platon, fälschlich hineingedeutet, und im Katholizismus, worin es eine noch gehemmte Triebkraft war, fast allein gesehen. Das Ungenügen, das Schuldgefühl, die Reue, die religiösen Skrupel waren noch im Mittelalter Formen der religiösen Technik, der gottbannenden Magie. Seit Luther sind sie selbständige Erlebnisse, Formen des Strebens. Die »ringende Seele«, die mit ihrem Schicksal nicht fertig wird, die nicht sich dar-stellen, gestalten, erfüllen,[24] sondern er-lösen, weg-stellen, ent-bilden will, der gute Mensch in seinem dunklen Drange, ist das innere Ideal der Modernität, wie der rastlos arbeitende raffende strebsame Unternehmer das äußere Ideal ist: beides Typen deren Schwerpunkt außer ihnen liegt, die ihr Schicksal nicht wesen, sondern suchen oder machen wollen, die ihr Heil oder Ziel nicht verkörpern, sondern erringen müssen, und die ihr Wesen nicht leben, sondern erleben oder verwenden. Das ist nicht antik und wir müßten glauben daß jene antike Einheit verloren sei für immer, als eine glücklicherweise überwundene Stufe oder als ein leider versunkener Traum, wenn sie nicht in Stefan George leibhaftig wieder erneuert wäre.

Sein Werk ist völlig frei von den Zerrissenheiten, Skrupeln, Zweifeln, Zerknirschungen ohne die man sich in Deutschland seit Jahrhunderten tieferes Leben nicht mehr denken konnte, und das ist der Grund warum man ihm solange die Leidenschaft, das Streben, das Gefühl sogar abgestritten und sein Dichten kalte Mache oder Schwäche genannt hat. Dieser Typus Mensch war verloren gegangen. Seinem stetig tiefen Herzen, weiten Geist und mächtigen Willen, der von sich und andern fordert wie kein Deutscher außer Nietzsche je gefordert hat, mangeln alle die deutschen Lieblingseigenschaften, die eben jener Zwiespalt erst zeitigt: das »Gemüt«, das wohlige oder schmerzlich-dumpfe Überwölken des Zwiespalts .. der »Humor«, das schillernde Spiegeln des Zwiespalts, und die »Phantasie«, das bunte Umkränzen und Beblümen des Zwiespalts. Es fehlen bei ihm alle wühlenden Selbstanklagen, denn er ist da, das in ihm beschlossene Gesetz zu erfüllen, nicht zu glossieren, d.h. es zu bejammern oder zu preisen. Wo er nicht tun, leiden oder bilden kann schweigt er. Es fehlen alle tiefsinnigen Grübeleien über Unerforschliches: denn er ist da, sein gegebenes Menschtum im zugemessenen Raum auszuwirken durch Tat und Schau, und das Unerforschliche ruhig zu verehren an den Grenzen seines Wirkungsfeldes. Es fehlt ihm jede Seelenschnüffelei, Mitleid wie Selbstgenuß: wie er sein eigenes Schicksal sachlich bejaht, so sieht er auch an den anderen die überseelischen Lebensgesetze sich notwendig vollziehen. Was einer ist, nicht wie einem zumute ist, geht ihn an. Mitleid mag haben wer an sich selber leidet, nicht wer sein eigen Wesen als Schicksal nimmt und nutzt,[25] tuend wie erleidend. Amor fati und Mitleid schließen sich aus. (Mitleid gehört nicht zur Güte: Güte umfaßt das andere Wesen und hilft ihm in seinem Bezirk. Mitleid schlüpft ein: Güte ist wirkend und tätig, Mitleid fruchtlos und wehrlos.) Die menschlichen Zustände sind für George kosmische Lagen, nicht seelische »Erlebnisse«: er kriecht nicht in sie hinein, sondern er ordnet sie in ein Rund von Höhen und Tiefen des Seins.

Wie ihm all die beliebten Formen der Zerrissenheit mangeln, so besitzt er drei Grundeigenschaften in antiker Reinheit die den Heutigen nur getrübt und verschwemmt erträglich sind: Würdegefühl, das ist unbestechlicher Sinn für eingeborne menschliche Grade, Gewichte und Stufen. Der Moderne kennt das nur als Kastengeist, d.h. zweckmäßige Regelung sozialer Abstände. Sodann Schicksalsgefühl: das ist Sinn für die innerste Einheit von Sein und Geschehen, von Tun und Leiden. Wir kennen bald klug eudämonistische Berechnung von Ursachen und Folgen, bald wehleidige und trotzige Ergebung in das Naturgesetz oder in den ewigen Ratschluß, bald mystische Selbstentäußerung, die mit dem Charakter zugleich das Schicksal aufhebt. Und drittens erneuert George die Liebe als übergeschlechtige (aber nicht ungeschlechtliche) weltschaffende Leidenschaft. Wir kennen nur die sinnlich-übersinnliche Gefühlswallung, den animalischen Trieb oder den Phantasie- und Nervenkitzel, und daraus erklären wir uns Platon, Dante, Shakespeare und Hölderlin!

Schicksalsgefühl, Würdegefühl, Liebe sind antikische Seelenkräfte, nicht antikische Lebensinhalte – wir werden später sehen welche eignen und neuen Inhalte George mit diesen Kräften bewegt .. denn freilich bliebe er eine Kuriosität, wenn er nur eine Wiederkehr antiker Kräfte wäre. Hier wollen wir ihn abgrenzen gegen das Nur-moderne und sagen was heut nur ihm eignet, und zwar nicht als einer neuen Nüance sondern als einer ewigen Art. Wäre er keine Norm, sondern bloß ein modernes Genie unter anderen Genies, ein Hexenmeister mit etwa antiken Zaubereien, so brauchte man nicht von ihm zu reden. Nur was einzig und zugleich gesetzlich, durch seine Einzigkeit gesetzlich, durch seine Gesetzlichkeit einzig ist, kann uns helfen. In einem Zeitalter das mit Stolz und Bewußtsein nur Zeitalter ist verkörpert George das ewige Menschentum .. verkörpert, nicht nur[26] verkündet, sein Wort ist Fleisch und sein Fleisch Wort, deutsche Sprache, bis zum Rand gefüllt mit diesem gelebten Weltgehalt. Wir haben an einigen Eigenschaften Georges verdeutlichen wollen wohin er gehört und was an ihm anders ist als alles Heutige, zugleich was er gemein hat mit der Antike, der bisher reinsten Form des »ewigen Menschtums«. Ich bin mir dabei der Schwierigkeit bewußt, Geistiges durch Worte sichtbar zu machen: keiner begreift was er nicht sieht und keiner sieht wovon er nichts ist. Auch entsteht aus der Zusammenfassung vieler Einzelzüge leicht nur ein neues leeres Schlagwort: der »ewige Mensch« oder »Gesamtmensch« ist für mich eine dichte Idee, aber zugleich ein Hülfszeichen, er wird vielen ein bloßer Schall bleiben. Genug wenn man ahnt daß Anschauung zu Grunde liegt, und wenn einige sie sehen – gleichviel ob sie ja oder nein dazu sagen.

Der Gesamtmensch hat in George allein heute seinen Dichter gefunden, unter zahllosen Schriftstellern der Menschheit, der Gesellschaft, der Persönlichkeit, oder andrer Teilfunktionen des Zeitalters. Das mag man die »Idee« nennen deren Erscheinung er ist .. man mag später andre Namen für sie finden. Sie ist keine literarische Technik wie »Symbolismus«, keine Lebensanschauung wie »Ästhetizismus« – keine politisch-gesellschaftliche Gesinnung wie »Aristokratentum«. Sie ist die Einheit einer Person mit einer kosmischen Lage und einem geschichtlichen Augenblick .. die Einheit einer Seele mit einem ewigen Raum und einer einmaligen Zeit. Diese Idee setzt entgegen der Verheutigung (Aktualisierung) der Werte das Ewige, der Veröffentlichung der Werte das Geheimnis, der Benutzung und dem Genuß den Zauber, der Masse die Gestalt, der Einzelung (Atomisierung) den Bund. Dem reißenden Fluß, deß eine Welle die andere verschlingt, setzt George entgegen die wachsende Kugel, die alles bewahrt und immer neues einbegreift mit der verborgen strahlenden, nie ertastbaren Mitte.


Aus einer ewe pfeilgeradem willen

Führ ich zum Reigen, reiß ich in den Ring.


Will man die seelischen Weltbilder der Antike, des Mittelalters, des Fortschritts und Georges unterscheiden, so mag man sich eines geometrischen Gleichnisses bedienen:

Die Antike lebte in ringsumschlossener Scheibe[27]

Das Mittelalter in unweigerlicher Überwölbung

Der Fortschritt in unendlicher Linie

Der »Gesamtmensch« Georges in der strahligen Kräftekugel.

Etwa mit dem 19. Jahrhundert beginnt der Verteidigungskampf des »Gesamtmenschen« gegen die Alleinherrschaft des »Fortschritts«. Der Kampf des Fortschritts gegen die Alleinherrschaft des Mittelalters – oder des Katholizismus – der seine religiöse Form ist – beginnt etwa mit Luther und seine großen Siege heißen Kepler, Leibniz, Voltaire, Rousseau, Kant, französische Revolution. Von da ab ist sein Sieg entschieden und Schritt für Schritt sind die Bewahrer des Ewigen Menschen in die Verteidigung gedrängt. Viele klammern sich nun lediglich an historische Formen unter denen der Ewige Mensch (man nehme ein für allemal dies unzulängliche Sammelwort hin oder setze ein einleuchtenderes dafür) früher oder zuletzt sich bekundet hatte: das sind die Romantiker oder Klassizisten, »Konservative« oder »Reaktionäre« aller Schattierungen .. die vielleicht achtbaren aber unfruchtbaren Grabwächter. Sie bestatten als Tote das Tote und beobachten den Buchstaben aus dem der Geist entwichen ist. Es sind die »Eingereihten und die Rückgewandten«, Krankenpfleger der sterbenden Weltgedanken, Leichenbitter der gestorbenen. Einige wenige aber, die von den Zeit-genossen, den Nur-heutigen mit jenen verwechselt werden, hegen den Ewigen Menschen in Kraft und Geist und bereiten den neuen Leib worin er dereinst wieder erscheine: denn der ewige Mensch stirbt nicht, wenn er auch lange schläft. Er teilt nicht das Schicksal der Zeitalter in denen er sich inkarniert und überlebt sie wie das Wort Gottes die Lippen seiner Verkünder.

Seit der Fortschritt Herr der Erde ist, hat der Gesamtmensch, der kosmisch beseelte, der tragisch oder heroisch gehobene Mensch, fünf sinnbildliche Bewahrer gehabt, die seine neue Idee, das noch unbenannte Wesen, gegen die zerfahrende Beziehungswelt, gegen das Zeitalter schützten, und durch ihr bloßes Dasein die Gewähr geben daß er noch lebt, der Auferstehung in neuer Gestalt gewärtig ist und jedes bloße Zeitalter überdauert: Goethe, Hölderlin, Napoleon, Nietzsche, George. Sie sind nicht die einzigen Personen und jeder dieser Namen steht nur für eine sinnbildliche Haltung des Gesamtmenschen[28] gegenüber dem Zeitalter: aber sie sind die deutlichsten, die reinsten, am wenigsten durch private Schrullen, durch romantische oder fortschrittliche Beimengsel getrübt, wenn auch alle fünf von ihren Zeitgenossen bald als Fortschrittler bald als Romantiker mißverstanden und mißverwendet.

Goethe, noch am weitesten hineinreichend in die Breite der absterbenden Welt, ins Heilige Römische Reich, die letzte Schicht des Mittelalters, in das Rokoko, die letzte Welle einer durchseelt geschlossenen (stabilen) Gesellschaft, hatte noch Luft zu atmen und konnte sein Gesamtmenschentum mit dem bereits gewaltigen, doch noch nicht erdrückenden Fortschrittsgeist abfinden. Er litt darunter, aber er suchte das Beste daraus zu machen, sein Ewiges mit dem noch holden Vergangenen und dem noch nicht ganz wüst und toll gewordenen Modernen zu verschmelzen. Noch rannten die Mittel des Fortschritts nicht selbständig darauf los, und noch konnte der Weise sich ihrer zu seinen Zwecken bedienen, noch waren die Massen keine unübersehbare Verschwemmung des Volks, der Kapitalismus keine hemmungslose tyrannische Funktion des Geldes, die Technik und der Verkehr noch kein leerlaufendes Gerase, die Presse keine giftig fressende Wucherung des Geistes – kurz: all diese Mittel waren noch Mittel und noch so nah an der menschlichen Seele und Bildung daß ein gütig schönes Herz, wenn auch unter Zweifeln und Enttäuschungen, hoffen konnte, darauf oder damit zu wirken. Goethe versuchte das: noch sah er vor sich Reste einer gesitteten Gesellschaft, eines bildsamen Volks, einer empfänglichen Jugend inmitten der fressenden »Jetztzeit«. Seine Haltung gegenüber dem Fortschritt ist schmerzlich heitere Entsagung und erzieherischer Kompromiß.

Sein jüngerer Zeitgenosse Hölderlin hatte kein so breites Erbe noch erträglicher Umwelt, keine solche Anverwandlungskraft, weniger Auswege und Mittel .. er war enger, zarter, stoff-loser, un-bedingter und er hatte zudem die überscharfe Witterung der ätherisch feinen Seele für die Zukunft: er spürte schon 1800 als Schicksal was erst zwei Menschenalter später als Zustand eintrat. Ausschließlicher, heftiger besessen von seinem Ewigen, war er nichts als dessen steile lautre Flamme. Er konnte nicht mehr verzichten und nicht paktieren mit dem nicht ganz ihm Wesensgleichen: ihm blieb nichts als der opferhafte[29] Untergang. Es ist die zweite Haltung des Gesamtmenschen gegenüber dem Fortschritt.

Die dritte ist Napoleon, nur möglich durch die eine weltspaltende Krise, grad auf der Kluft zwischen altem und neuem Wesen, da beide noch betäubt sich gegenüber stehen. Da fährt von einer unerschöpften Insel her die verschollene Kraft der Antike, zu einem riesigen Menschen verdichtet, in die Bestürzung, Zertrümmerung und Zersetzung der müderen und der unreiferen Menschheit hinein und zwingt sie eine Weltstunde lang als Herr und Sieger. Napoleons Sieg und Untergang beschleunigten dann erst recht den Fortschritt.

Als der Ewige Mensch sein Haupt zwei Geschlechter später wieder erhob, fand er sich bereits in fürchterlicher unübersehbarer Einsamkeit. Da war kein Kompromiß mehr möglich – was Hölderlin erst geahnt, war da bis zum Erwürgen. Kein Sieg war mehr möglich, denn der Fortschritt hatte keinerlei Gegenwelt mehr, Reich und Kirche waren seine Anstalten, ja selbst die Genien Wagner und Bismarck seine Werkführer geworden und sein Wille war der einzige Inhalt der fließenden tausendschillerigen Zeit. An der Wüste wuchs die Stimme des Predigers. Nietzsche ist nicht mehr ein stilles Opfer, sondern der rasende Kampf des Einsamen gegen das Milliardensame – und wenn ihm auch »die Kehle barst«: das Wort des ewigen Menschen war wieder in der Zeit, um nicht mehr zu verstummen, bevor es Fleisch geworden. Er riß die Kluft wieder auf die der allmächtige Fortschritt schon verschüttet wähnte, er schuf ein neues Drüben durch Umkehr des allein-sichtbaren Hier.

George konnte schon in freierer Luft atmen, in einem vom neuen Wort geschwängerten Klima. Er ist nicht mehr Kämpfer und Rufer, sondern wesentlich Bildner (auch wo er Kämpfer scheint) Bildner im weitesten Sinn. Sein Dienst am ewigen Menschen ist die keimartige Neubildung eines allmählich mitten in den Fortschritt rundum vordringenden Eigen- und Gegenreichs. Zu dieser Aufgabe bedarf er nicht der Mittel des Zeitalters die man ihm anmutet und deren Ablehnung man Weltflucht, Eigenbrödelei, Konventikeltum schilt: ja es gehört zu ihr recht eigentlich daß er gegen diese sämtlichen Mittel der Widerwelt gefeit, keines Vertrags mit ihnen fähig ist und aus dem gesamten All zäh und sicher, leise und scheu die Elemente an[30] sich zieht die ihn reifen und steigern, »ungreifbar und wirklich wie den Keim«. Seine Einsamkeit, dann sein Kreis, dann seine Gemeinde sind seine Not, nicht sein Vergnügen. Er weiß daß jede echte Kraft unmittelbar nur das Verwandte verwandelt, und nur wenig Verwandtes findet heut der Ewige Mensch, darum sucht sein Dichter die Wenigen2 und nicht gleich die Masse. Er weiß daß nichts Wert hat was gleich zerschwatzt, verwendet und erleichtert werden kann: darum ist er dicht, schwer, geheim (nicht geheimbündlerisch, oder geheimnistuerisch: das ist schon abgelernte Geste der Schwindler und Mitläufer). Er kennt menschliche Stufen und Grade und vermittelt kein Wissen für alle, sondern Gebilde aus denen jeder den seiner Stufe erreichbaren Sinn entnehmen kann. Das Volk ehrt er als dunklen Behälter des Wachstums, nicht als öffentliche Meinung – und nicht den rasch wechselnden lauten Wünschen der Allgemeinheit kann er lauschen, wenn er den stillen Ruf des ewigen Lebens vernehmen will, das langsam unterirdisch heranreift zu seiner neuen Gestalt.

Die Gestaltung, die Gemeindung und – langsam stufenweise – die Volkwerdung des Ewigen Menschen, dessen letzter Ruf Nietzsche gewesen, und damit das Ende des Fortschritts, die Voll-endung des Gesamtmenschentums, das ist Georges besondere Sende. Betrachten wir nun wie er als Person dazu ausgestattet ist.

1

Heute nennt man gutmütigerweise Mythen was phantasiebegabte Eigenbrödler aus ihrem grundlosen Inneren herausspinnen, das selbstige Tummeln privater Träume. Mythos ist Wort und Schau von Volk und Gott, von wirklichem Geschehen, nicht das Bilderspiel einer wenn auch noch so fruchtbaren Innerlichkeit.

2

Was den »Kreis« betrifft, so wird er wie jedes Fremdartige heut schon viel mißbraucht von Gaunern und Gecken. Ein sichres Zeichen dafür daß einer nicht ihm angehört ist, wenn er sich rühmt ihm anzugehören und mit seiner Kenntnis diskret oder indiskret sich wichtig macht. Der Kreis ist weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel (die Mitarbeiterschaft an den »Blättern für die Kunst« ist an sich noch kein Zeichen der Zugehörigkeit), sondern es ist eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen. Alles was darüber draußen gemunkelt wird ist Klatsch von Dummköpfen, Witzbolden, Schwindlern oder Verleumdern.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 1-31.
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