[195] Dubois. Lefêvre. Chapelle. Die Vorigen.
LUDWIG. Willkommen, meine Herren, in Paris. Guter Dubois, was tun denn Sie unter diesen Deputationen? Sie wollen mir doch nicht auch Dank sagen, daß man den Tartüffe verboten hat?
DUBOIS. Sire, im Namen der Ärzte von Paris –
LUDWIG. Dubois! Ich glaube gar, Sie haben ein Komplott, nicht gegen Molière, nein, mit ihm, um mir Spaß zu machen.
DUBOIS. Majestät, ohne Scherz, wohin soll es führen, wenn die Bühne sich erlauben darf, jeden Stand, jedes Gewerbe, jede Kunst und Wissenschaft dem Gelächter der Menge preiszugeben?
LUDWIG. Dubois! Ein Arzt protestiert gegen das Lachen! Das Lachen ist ja die einzige Arzenei, die man sich nicht aus der Apotheke verschreiben kann.
DUBOIS. Molière hat die Absicht, nach und nach jede Kunst, jede Wissenschaft herabzuwürdigen. Jetzt schon arbeitet er an einer Satire gegen die Ärzte. Wenn sich das Vertrauen gegen die Ärzte verliert, dann, Majestät, hört jede öffentliche Ordnung auf. Der Aberglaube wird an die Stelle vernünftiger Einsicht treten; die Menschen werden hinsterben wie die Fliegen; die Bevölkerungstabellen aus Paris und den Provinzen werden für Dero untertänigste Armee die traurigsten Resultate liefern.
LUDWIG. Wo ist Condé, wo ist Turenne, damit die mir sagen, Molières Lustspiele werden Frankreich entvölkern! Und Sie, Lefêvre, wird durch Molières Lustspiele in Frankreich die gefährliche Mode eingeführt werden, weniger Prozesse zu führen?
LEFÊVRE. Sire, ich komme als Abgeordneter des entrüsteten Justizpalastes. Die Advokaten von Paris haben jahrelang die giftigen Pfeile ertragen, die Molière in seinen Komödien auf sie abschießt. So sehr sie auch empfanden, daß ihre Praxis unter[195] diesen Diatriben litt, sie haben geschwiegen. Im Tartüffe aber geht Molière so weit, den Huissiers, wenn sie im Namen des Gesetzes erscheinen, um saumselige Schuldner auszupfänden, Schläge anzudrohen. Sire, kein Staat kann bestehen, wo die Huissiers Schläge bekommen.
LUDWIG. Meine Herren, wohin geraten wir denn! Hab' ich nicht, fast bis zum Überdruß, hören müssen, daß Racine, Corneille, Molière, Boileau und ich zusammengenommen das Zeitalter des Augustus wiederholen? Wer ist hier dieser Herr?
DELARIVE. Chapelle, Mitglied der Akademie.
LUDWIG halblaut. Schlimm für den Ruhm eines Akademikers, wenn man ihn nicht auf den ersten Blick erkennt! Laut. Sie kommen doch nicht im Namen des Aristoteles?
CHAPELLE. Sire, als die Musen eines Tages die Ehre hatten, die erhabenen Träume Ew. Majestät zu umschweben – –
LUDWIG. Ich schlafe sehr niedrig, Chapelle.
CHAPELLE. Als eines Tages die Musen die Ehre hatten, die Träume –
LUDWIG. Ich schlafe nicht am Tage, Chapelle – also, was geschah da?
CHAPELLE. Ew. Majestät stifteten die Akademie.
LUDWIG. Ganz recht! Warum haben Sie Molière noch nicht aufgenommen?
CHAPELLE. Sire, einen Schauspieler! Einen Possendichter, der sich nicht an die Regeln hält! Im Namen dieser Regeln, im Namen dieser ewigen Kunstgesetze steh' ich vor Ew. Majestät und flehe demutsvoll, inbrünstiglich, ein huldvolles Auge auf die Verschlechterung des Geschmacks zu werfen und Dero erhabenen Schutz von einer Literatur abzulenken, welche die Neuerung wagt, sich mehr an spanische, englische und italienische Muster zu halten, als an die ewigen Vorbilder der Griechen und der Römer. Ja, Sire, statt dem Ideale zu dienen, greift dieser Molière seine Stoffe förmlich, mit Erlaubnis zu sagen, von der Straße auf – Menschen, die uns stündlich in den Weg laufen, bringt er bestäubt und ungesäubert auf die Bühne und läßt sie in einer Sprache reden, Sire, in einer Sprache, die immer mehr zur bürgerlichen Prosa des Lebens herabsinkt. Majestät, in diesem Tartüffe kommt eine Szene vor, wo der scheinheilige Betrüger einem Frauenzimmer ein Tuch –
LA ROQUETTE. Halten Sie sich doch an die Sache!
LUDWIG. Ein Tuch?
CHAPELLE. Ja, Sire Tartüffe nähert sich Elmiren mit zweideutigen Absichten –[196]
LUDWIG beiseite. Das ist Armandens Rolle!
CHAPELLE. Elmire weist Tartüffe zurück. Er aber, bei jener Stelle, wo er ausweichend erklärt, er hätte das Tuch, das Elmire trägt, nur deshalb berührt, um die Baumwollenindustrie –
LA ROQUETTE. Sie gehen zu sehr in die Details ein –
LUDWIG. Lassen Sie ihn doch, Präsident! Die Szene scheint originell zu sein –
CHAPELLE. Nicht von der Szene red' ich, Sire, nicht von der Erfindung, sondern von einem entsetzlichen Reim, den sich der Autor an dieser Stelle wider alle Regeln der Metrik erlaubt hat – er läßt nämlich in einem Verse die neunte Silbe, nein, die siebente oder doch die neunte – – nein, nein, die siebente – oder – Die Akademie hat diesen Gegen stand ausführlich in einer eigenen Denkschrift behandelt, die ich hiermit die Ehre habe, Ew. Majestät demutsvoll zur baldigen Lektüre zu überreichen.
LUDWIG nimmt den ihm überreichten Quartband und legt ihn auf den Tisch. Ich werde diese kleine Broschüre lesen, sehr bald lesen! O, ich bin ein großer Freund vom Lesen! – Also eine ganze Armee gegen ein Lustspiel! Herr Präsident, ich wende mich an Sie. Vertiefen Sie sich ganz in die Seele Ihres Souveräns, ermessen Sie meine Stellung zur Zeit, forschen Sie meinen innersten Gedanken nach, und geben Sie mir dann einfach über das Schicksal des Tartüffe den Rat, den ich wünschen muß.
Zugleich.
LA ROQUETTE. Sire – ich – über – den Tartüffe?
LIONNE beiseite. La Roquette, mein Nachfolger?
DUBOIS beiseite. Ihre Stellung als Minister wird gefährlich –!
LUDWIG. Ich habe hier noch einige kleine Geschäfte –
Sucht in andern Papieren und spricht mit Delarive.
LA ROQUETTE UND LIONNE. Majestät!
LUDWIG. Zu diesen Herren reden Sie, La Roquette!
LIONNE. Meine Herren – Sie hören –
LUDWIG. Nein, Lionne, La Roquette! Ich fange an, zu La Roquette Vertrauen zu gewinnen –
Zugleich.
LEFÊVRE beiseite. Er wird seine Stelle bekommen.
LA ROQUETTE beiseite. Minister – durch einen Selbstmord –!
LIONNE. Sire, ich verstehe jetzt vollkommen Ihre Absichten – Meine Herren, Sie hören, daß Se. Majestät ein viel zu großer Verehrer der wahren Interessen – der schönen Künste –
LA ROQUETTE. Und der Komödie ist, als daß Sie der Neugier des Publikums –
LIONNE. Dem Vergnügen des Publikums –
LA ROQUETTE. Eine Vorstellung entziehen möchten, die –[197]
LIONNE. Durch die –
LA ROQUETTE. Von der –
LIONNE. Durch welche –
LA ROQUETTE. Von welcher
LUDWIG. Ah, ich habe noch Räte, die die Tiefe meines Herzens ergründen! Ja, meine Herren, Sie hören, daß ich das Verbot des Ministers nicht billigen kann; ich rate Ihnen, rate Ihren Kommittenten, getrosten Mutes in die erste Vorstellung des Tartüffe zu gehen und Ihre Bedenklichkeiten dadurch zu heilen, daß Sie in den allgemeinen Beifall des Publikums mit einstimmen. Sie, Herr Präsident, Sie haben die Messe versäumt. Entschuldigen Sie mich bei Ihrem Beichtvater! Ich kann den Tartüffe nicht verbieten; denn merken Sie wohl, meine Herren, zu allen Zeiten, von dem Tage an, wo das Königtum langweilig wurde, datierten sich die Republiken. Und ich leugne nicht, es ist schön, meine Herren, König von Frankreich zu sein! Wendet sich nach innen.
Delarive folgt.
DUBOIS sieht Lefêvre lange an und bricht dann ab. Guten Morgen! Ab.
LEFÊVRE sieht ebenso Chapelle an. Guten Morgen! Ab.
CHAPELLE sieht ebenso Lionne an. Exzellenz, guten Morgen! Ab.
LIONNE sieht La Roquette an. Herr Nachfolger, guten Morgen! Ab.
LA ROQUETTE allein und außer sich. Er bleibt Minister, und alles ist verloren! Vernichtet, geopfert dem Gelächter von Paris und der Welt! Der Tartüffe bin ich! Orgon ist Duplessis, Elmire ist Adele – Molière, wer hat dich in das Reich der Toten geführt? Heilige Vernunft! Gib mir einen Rat, Faltet die Hände. ich flehe zu dir, Schlauheit der Luchse, Klugheit der Schlangen, Geschmeidigkeit der Katzen, wirf mir eine Schlinge zu, noch so dünn, ich fädle sie in eine Intrige –! Ich, ich soll auf die Bühne –! O Gott, wenn ich je falsch gebetet habe, daß heute ein aufrichtiger Blick gen oben mir Hilfe brächte –
Ausgewählte Ausgaben von
Das Urbild des Tartüffe
|
Buchempfehlung
Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.
46 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro