An die Unerkannte

Kennst du sie, die selig, wie die Sterne,

Von des Lebens dunkler Woge ferne

Wandellos in stiller Schöne lebt,

Die des Herzens löwenkühne Siege,

Des Gedankens fesselfreie Flüge,

Wie der Tag den Adler, überschwebt?


Die uns trifft mit ihren Mittagsstrahlen,

Uns entflammt mit ihren Idealen,

Wie vom Himmel, uns Gebote schickt,

Die die Weisen nach dem Wege fragen,

Stumm und ernst, wie von dem Sturm verschlagen

Nach dem Orient der Schiffer blickt?


Die das Beste gibt aus schöner Fülle,

Wenn aus ihr die Riesenkraft der Wille

Und der Geist sein stilles Urteil nimmt,

Die dem Lebensliede seine Weise,

Die das Maß der Ruhe, wie dem Fleiße

Durch den Mittler, unsern Geist, bestimmt?


Die, wenn uns des Lebens Leere tötet,

Magisch uns die welken Schläfe rötet,

Uns mit Hoffnungen das Herz verjüngt,

Die den Dulder, den der Sturm zertrümmert,

Den sein fernes Ithaka bekümmert,

In Alcinous Gefilde bringt?
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Kennst du sie, die uns mit Lorbeerkronen,

Mit der Freude beßrer Regionen,

Ehe wir zu Grabe gehn, vergilt,

Die der Liebe göttlichstes Verlangen,

Die das Schönste, was wir angefangen,

Mühelos im Augenblick erfüllt?


Die der Kindheit Wiederkehr beschleunigt,

Die den Halbgott, unsern Geist, vereinigt

Mit den Göttern, die er kühn verstößt,

Die des Schicksals ehrne Schlüsse mildert,

Und im Kampfe, wenn das Herz verwildert,

Uns besänftigend den Harnisch löst?


Die das Eine, das im Raum der Sterne,

Das du suchst in aller Zeiten Ferne

Unter Stürmen, auf verwegner Fahrt,

Das kein sterblicher Verstand ersonnen,

Keine, keine Tugend noch gewonnen,

Die des Friedens goldne Frucht bewahrt?

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 200,204.
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