Griechenland

[183] An St.


Hätt ich dich im Schatten der Platanen,

Wo durch Blumen der Cephissus rann,

Wo die Jünglinge sich Ruhm ersannen,

Wo die Herzen Sokrates gewann,

Wo Aspasia durch Myrten wallte,

Wo der brüderlichen Freude Ruf

Aus der lärmenden Agora schallte,

Wo mein Plato Paradiese schuf,


Wo den Frühling Festgesänge würzten,

Wo die Ströme der Begeisterung

Von Minervens heilgem Berge stürzten –

Der Beschützerin zur Huldigung –

Wo in tausend süßen Dichterstunden,

Wie ein Göttertraum, das Alter schwand,

Hätt ich da, Geliebter! dich gefunden,

Wie vor Jahren dieses Herz dich fand,


Ach! wie anders hätt ich dich umschlungen! –

Marathons Heroën sängst du mir,

Und die schönste der Begeisterungen

Lächelte vom trunknen Auge dir,

Deine Brust verjüngten Siegsgefühle,

Deinen Geist, vom Lorbeerzweig umspielt,

Drückte nicht des Lebens stumpfe Schwüle,

Die so karg der Hauch der Freude kühlt.
[184]

Ist der Stern der Liebe dir verschwunden?

Und der Jugend holdes Rosenlicht?

Ach! umtanzt von Hellas goldnen Stunden,

Fühltest du die Flucht der Jahre nicht,

Ewig, wie der Vesta Flamme, glühte

Mut und Liebe dort in jeder Brust,

Wie die Frucht der Hesperiden, blühte

Ewig dort der Jugend stolze Lust.


Ach! es hätt in jenen bessern Tagen

Nicht umsonst so brüderlich und groß

Für das Volk dein liebend Herz geschlagen,

Dem so gern der Freude Zähre floß! –

Harre nun! sie kömmt gewiß, die Stunde,

Die das Göttliche vom Kerker trennt –

Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,

Edler Geist! umsonst dein Element.


Attika, die Heldin, ist gefallen;

Wo die alten Göttersöhne ruhn,

Im Ruin der schönen Marmorhallen

Steht der Kranich einsam trauernd nun;

Lächelnd kehrt der holde Frühling nieder,

Doch er findet seine Brüder nie

In Ilissus heilgem Tale wieder –

Unter Schutt und Dornen schlummern sie.


Mich verlangt ins ferne Land hinüber

Nach Alcäus und Anakreon,

Und ich schlief' im engen Hause lieber,

Bei den Heiligen in Marathon;[185]

Ach! es sei die letzte meiner Tränen,

Die dem lieben Griechenlande rann,

Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen,

Denn mein Herz gehört den Toten an!

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 183-186.
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